Religion, Magie, Mythen

Dienstag, 21. November 2006

Von Glauben, Religion und Kindernbuchautoren

Kinder- und Jugendbuchautoren gehören zu den einflußreichsten Schriftstellern überhaupt. Denn ihre Werke hinterlassen Spuren im Denken der Kinder, die ein Leben lang nachwirken. (Ich habe z. B. eine überraschend starke "Astrid Lindgren"-Prägung.)
Was natürlich besorgte Eltern, Pädagogen und vor allem und immer wieder Geistliche auf den Plan ruft. Man denke nur an die christlich-fundamentalistische Hysterie über die Harry Potter Bücher Joanne K. Rowlings, mit dem unsinnigen Vorwurf, Okkultismus, Hexerei und Satanismus zu verharmlosen und verbreiten.

Nicht ganz so an den Haaren herbeigezogen ist der Verdacht, in Michael Endes Kinderbücher wäre okkultistisches Gedankengut zu finden. Ende war nämlich nicht nur, was allgemein bekannt ist, Anthroposoph, sondern beschäftigte sich auch intensiv mit thelemitischer Philosophie. Die Parallelen zwischen Endes vielleicht bekanntesten Buch, "Die unendliche Geschichte" und den Werken des berüchtigeten "Schwarzmagiers" Aleister Crowley sind keine Zufälle. "Tut was du willst ... "
Ich sehe Ende als Vertreters eines ins menschenfreundliche, humanistische, selbst-erzieherische gewandelten Thelemitismus, reifer und in jeder Hinsicht klüger als Crowley, aber von seinem ungewöhnlichen Denken profitierend. Ende hatte als Autor ungleich viel mehr zu sagen als Joanne K. Rowling, wobei auch sie weitaus mehr zu sagen hat als die meisten "Erwachsenen-Autoren". Man sollte sie auch als Erwachsener lesen. Am besten mit den Augen des inneren Kindes.
Aber mit Menschen, die sogar "Bibby Blocksberg" auf den nächsten Scheiterhaufen schnallen würden, läßt sich darüber schlecht diskutieren. Die Angst um die Seelen ihre Kinder lähmt sie. Oder vielleicht eher Angst davor, dass ihre Kinder anfangen, sich Gedanken zu machen und Fragen zu stellen, die sie nicht beantworten können oder wollen. Gute Kinderbücher stellen die Autorität der Erwachsenen in Frage - die kindliche Anarchistin Pippi Langstrumpf war im Schweden der 1950er und 1960er Jahre deshalb äußerst umstritten. Das änderte sich erst, als die erste mit Astrid Lindgren aufgewachsene Generation ans Ruder kam.
Auch Max Kruse ("Urmel aus dem Eis") ist bei besorgten Eltern aus religiös geprägtem Milieu nicht sonderlich geschätzt. Wohl wegen Zitaten wie diesem werfen sie ihm millitanten Atheismus und Verächtlichmachung der Religion vor:
Ist der Glaube, die von Beweisen unabhängige Gewissheit, nicht vielleicht die gefährlichste aller menschlichen Fähigkeiten (...)? Denn der Glaube mordet nicht nur, er liefert auch noch die Rechtfertigungen für das Morden und verleiht ihm eine höhere Weihe. Und wenn der Glaube die gefährlichste Eigenschaft ist, so ist der Zweifel die segensreichste, denn der Zweifel tötet nie, er unterdrückt nie, er zündet keine Scheiterhaufen an, er lässt leben, lässt gewähren und duldet.
(Zitat aus Max Kruse: Die behütete Zeit, Stuttgart, 1993)

Harter Tobak. Aber eher man sich als Christ (oder Moslem, und was auch immer) aufregt: das Wort Glaube hat mehrere Bedeutungen. Religiöser Glaube kann bedeuten: von Beweisen unabhängige Gewissheit und oft genug ist er in allen möglichen Religionen darauf reduziert. Und Kruse hat, wie ich denke, recht. Die keinen Zweifel zulassende "Glaubensgewissheit" ist mörderisch.
Glaube heißt aber auch Vertrauen. Credo. Die Hauptbedeutung, wenn in der Bibel von "Glauben" die Rede ist. Vertrauen ist es zum Beispiel, wenn gesprochenes Wort verpflichtet – auch ohne Kontrolle, und niemand kann sagen: "es steht geschrieben". (In diesem Sinne kann ich, als Heide, sogar sagen, dass ich an den Jesus der synoptischen Evangelien glaube. Einem Menschen wie ihm kann man vertrauen. Ob ich auch alles glaube (im Sinne von: für wahr halte) was die Evangelisten so schrieben, steht auf einem anderen Blatt.)
Dass diese Hauptbedeutung in der religiösen Praxis die Nebenbedeutung ist, dafür kann Kruse nichts. Er spricht nur eine unbequeme Wahrheit aus. Wie es auch Kinder manchmal tuen.
Kruse ist übrigens nach eigenen Einschätzung "ein in der Wolle gefärbter Agnostiker". Was etwas anderes ist als "Atheist":
Ich glaube nicht an den christlichen Gott, der diese Welt erschaffen hat und sich um jeden von uns liebevoll kümmert. Aber das letzte Geheimnis des Universums werden wir Menschen wohl auch niemals lösen.
Kruse ist religionskritisch. Allerdings ohne atheistischen Fundamentalismus. Weshalb er auch ganz bewußt religiöse Fragen, die ihn sehr besschäftigen, aus seinen Kinderbüchern heraushält.

Und was ist mit jenen Kinderbüchern, die sich nicht so zurückhalten, die darauf angelegt sind, Kinder zu indoktrinieren oder "zu etwas zu erziehen"?
Auch da hoffe ich auf die jungen Leser. Wie Michael Ende es ganz richtig in der "Unendlichen Geschichte" beschreibt:
Er mochte keine Bücher, in denen ihm auf eine schlechtgelaute und miesepetrige Art die ganz alltäglichen Begebenheiten aus dem ganz alltäglichen Leben irgendwelcher ganz alltäglicher Leute erzählt werden. Davon hatte er ja schon in Wirklichkeit genug, wozu sollte er auch noch davon lesen? Außerdem haßte er es, wenn er merkte, daß man ihn zu was kriegen wollte. Und in dieser Art von Büchern sollte man immer, mehr oder weniger deutlich, zu was gekriegt werden.
Das beantwortet auch die Frage, wieso Harry Potters "Okultismus" bei jungen Lesern so viel beliebter ist, als die frommen und "lebensnahen" Bücher, die religiös besorgte Geistliche als "christliche Alternative" anbieten.

Montag, 20. November 2006

Pragmatismus im Grabenkampf

Vor allem in den USA (aber auch anderswo) tobt ein erbitterter Kulturkampf zwischen fundamentalistischen Christen und Atheisten (oder all jenen die von fundamentalistischen Christen für Atheisten gehalten werden). Die extremeren Anhänger des Kreationismus sehen in den Evolutionsbiologen arrogante Ahnungslose, die so sicher wie das Amen in der Kirche zur Hölle fahren. (Immerhin noch besser als jene religöse Fanatiker vorwiegend, aber nicht ausschließlich, muslemischer Bauart, die die Höllenfahrt der Ungläubigen, manchmal kombiniert mit dem eigenen Eingang ins Paradies, in die eigenen Hände nehmen.)
Als Speerspitze im Kampf gegen die Heerscharen der religiösen Unvernunft sehen sich "New Atheists", die wie der britische Zoologe Richard Dawkins mit seinem Bestseller "Die Wahnvorstellung von Gott" ("The God Delusion"), versuchen, Religion als bösartigen Aberglauben zu entlarven.

Es gibt aber auch Pragmatiker, wie der Biologe Edward O. Wilson. Der "Ameisenpapst" (wie ihn ein mir bekannter Biologe, der bei ihm studierte, zu nennen pflegt), Evolutionsforscher und Mitbegründer der Soziobiologie ist bekennende Atheist und selbst seit Jahrzehnten beliebte Zielscheibe christlicher Angriffe. Dennoch sucht er das Bündnis mit evangelikalen Christen im Kampf für Umweltschutz und Artenvielfalt. In seinem neuestes Buch, "Die Schöpfung, ein Plädoyer, das Leben auf Erden zu retten" ("The Creation) wendet er sich ausdrücklich an die "Bible Thumper".
SZ: Sie haben oft ausgeführt, wie sich Religion aus der Evolution und Neuropsychologie erklären lässt.

Wilson: Sicher, aber jetzt geht es eben nicht um ideologische Auseinandersetzungen – wir müssen die Artenvielfalt retten. Das ist auch nicht das Ziel von Dawkins & Co. Insofern bin ich den Evangelikalen sogar eher verbunden, denn die modernen Atheisten kümmern sich nicht besonders um die Schöpfung.

SZ: Eine Leidenschaft, die Sie jedoch auszeichnet.

Wilson: Ich nenne jede Pflanze und jedes Tier ein Meisterwerk der Evolution. Bibeltreue Christen sehen darin stattdessen die Spuren der intelligenten Macht Gottes. Aber letztendlich ähnelt sich jede Form der Bewunderung – ich bin also keineswegs ins christliche Lager übergelaufen, wenn Sie das meinen.
Das ganze Interview: sueddeutsche.de: "Uns eint die Sorge um die Schöpfung"

Donnerstag, 16. November 2006

Kreationisten auch in Russland auf dem Vormarsch

Das Leben auf der Erde, eingeschlossen der Mensch, ist das Ergebnis eines intelligenten Schöpfungsakts - das jedenfalls behaupten die Anhänger des Kreationismus und im Grunde auch die des sich wissenschaftlich gebenden "Kreationismus light", bekannt als "Intelligent Design". Obwohl von den meisten Kosmologen, Evolutionsbiologen und anderen Wissenschaftlern einhellig als haltlos eingestuft, finden die Ideen des Kreationismus seit einigen Jahren vor allem in den USA enormen Zulauf.

Offenbar hat der Schöpfungsglaube auch Russland erfasst, unterstützt vom fundamentalistischen Flügel der Russisch-Orthodoxen Kirche.

PD Dr. Uwe Hoßfeld, Biologiedidaktiker und Wissenschaftshistoriker von der Universität Jena: "Diese Kräfte wollen sich eine Entwicklung in Russland zu Nutze machen, die man bereits seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion beobachten kann. Nach dem Wegfall des staatlich verordneten Atheismus wandten sich viele Russen verstärkt der Religion zu."
Derzeit sind fast 22 000 religiöse Vereinigungen in Russland aktiv. Eine ganze Reihe davon unterstützen den Kreationismus und stellen die Lehre Darwins eher als Bestandteil der Sowjetideologie denn als fundierte Naturwissenschaft dar.

Mehr hierzu: idw-online:Attacke auf "Darwins kontroverse These"

Übrigens formiert sich eine Gegenbewegung, die "New Atheists". Das einzige, aber entscheidende Problem, das ich mit den zumeist sehr gebildeten und intelligenten "Brights" habe: auf ihre Weise sind sie nicht selten ähnlich "fundamentalistisch" wie ihre zumeist ziemlich dummen religös-fanatischen Gegenspieler.
wired: The Church of the Non-Believers
via dadg

Mittwoch, 8. November 2006

Meinungsfreiheit und Rücksichtnahme auf religiöse Gefühle

In der aktuellen Ausgabe der "Zeitschrift für neuen Lifestyle" U_mag (11/06) wurde der kritisch-rationalistische Philosoph Michael Schmidt-Salomon zum Thema "Meinungsfreiheit" interviewt. Auszugsweise
kann der Artikel auch im Internet gelesen werden:
Wer A sagt ... Thema Meinungsfreiheit

Meinungsfreiheit ist die Basis einer funktionierenden Demokratie. Nach der Ansicht Schmidt-Salomons nehmen wir uns dieses Grundrecht zunehmend selbst. Der Grund liegt in religiösen Auseinandersetzungen - nicht nur mit dem fundamentalistischen Islam - die von Angst und falscher Rücksichtnahme geprägt sind.
Wir müssen uns klarmachen, was religiöse Gefühle überhaupt sind und warum sie verletzt sind. Es hat was damit zu tun, dass hier Menschen sind, die meinen, dass das, was der Prophet XY oder die Gottheit Z gesagt hat, heilig ist und unantastbar für alle Zeiten. In einer säkularen Gesellschaft ist das aber nicht so. Da treten Leute auf, die sagen: Ich stimme dem, was XY gesagt hat, nicht zu! Damit wird das Unantastbare angetastet. Es kommt also nur zur Verletzung religiöser Gefühle, weil manche glauben, sie könnten ihre Weltanschauung unter Denk-mal-Schutz stellen.
(Hervorhebung von mir, MM.)

Schmidt-Salomon lehnt sowohl den Ansatz einer deutsch-christlichen Leitkultur wie dem kulturellen Relativismus ("Innerhalb ihrer Kultur soll die doch machen, was sie wollen") ab, weil durch diese Haltungen die Parallelgesellschaften erst aufgebaut werden, und tritt statt dessen für die aus der Verfassung definierten "Leitkultur Humanismus und Aufklärung" ein.

Dienstag, 31. Oktober 2006

Monster-Party

Heute ist Samhain. Oder Halloween.
Kürbislaterne
Bild: pixelquelle
Das ist dieses komische Fest, bei dem pöse, pöse Heiden und Hexen (also Leute wie ich) ganz ganz üüüüüble Rituale abhalten, z. B. schwarze Katzen opfern. Zumindest dann, wenn man paranoiden besorgten religiösen Fanatikern frommen Christen glauben darf. (Wobei es an sich erstaunlich ist, wieso ausgerechnet die bevorzugten tierische Gefährten der Hexen von Hexen gemeuchelt werden sollten. An sich, denn bei religiösen Fundamentalisten, egal welcher Nationalität und Religion und Richtung, erstaunt mich gar nichts mehr. Dumm nur, dass es nicht wenige von ihnen in die Politik drängt.)

An sich ist Samhain keltisch, nicht germanisch, aber da ich kein Fundi-Asatru bin, feiere ich trotzdem. Übrigens haben die Paraonia-Christen recht, er gibt ÜBLE Rituale zu Samhain. Nach reichlichem rituellem Bier-, Met- und Wiskey-Genuß kann einem schon mal so richtig übel werden.

Für Kinder ist Samhain oder Halloween die Zeit, in der sie ordentlich Erwachsene nerven und Süßwaren abgreifen können.
Da es fast nichts gibt, das Kinder lieber machen, ist der Re-Import dieser (buchstäblich) Spielart des alte keltische Totenfestes aus Nordamerika nur folgerichtig. Leider nutzen es nur wenige Menschen zur Zwiesprache mit den Ahnen. Womit ich nichts gegen eine zünftige Monster-Party sage! Passend hierzu, gefunden auf DuRöhre, ein passender Titel von der besten Band der Welt:
/>/>

Frohe Samhain auch allen televangelischen Sturmtrupplern und sonstigen missionsgeilen scheinheiligen Fundi-Nervensägen frommen Seelenrettern:
/>/>

Dienstag, 24. Oktober 2006

Intelligentes Fallen

"Intelligent Design" ist, kurz gesagt, eine als naturwissenschaftliche Theorie getarnte religiöse-metaphysische Spekulation, die davon ausgeht, dass die Entwicklung des Lebens ohne den Eingriff eines Schöpfers nicht vorstellbar ist. Womit ich wohlgemerkt nicht behaupte, diese Spekulation sei falsch oder gar purer Blödsinn. "Intelligent Design" ist schlicht und einfach keine naturwissenschaftliche, durch Beobachtung oder Experiment erhärt- oder wiederlegbare Theorie.

Eine interessante neue Theorie ist Intelligent Falling.
"Intelligent Falling" sagt aus, es gäbe keine Gravitation und ein Gott würde die Dinge auf die Erde drücken. Auf der "Intelligent Falling" Seite kann man eine Petition unterschreiben, die fordert, dass neben der atheistischen Gravitationstheorie künftig auch "Intelligent Falling" als gleichberechtigte Theorie an Schulen gelehrt werden soll.

Freitag, 6. Oktober 2006

Odin - Gott der Rechtsextremisten?

Es ist eine alte Masche: Man schreibe ein Sachbuch voller kühner Behauptungen, sensationeller Theorien und erschreckender Enthülllungen, die sich zufällig mit alten und weit verbreiteten Vorurteilen und Klischees decken.
Es gilt außerdem die Regel, dass sich ein Buch über zeitgeschichtliche Themen gleich doppelt so gut verkauft, wenn irgendein Bezug zu den Nazis besteht. Besonders gilt dies übrigens für den britischen Buchmarkt.

Ein Buch, das offensichtlich nach beiden Maschen gestrickt ist, wurde von David V. Barrett in der englischen Zeitung "The Independant" verdientermaßen verrissen: Pagan Resurrection, by Richard Rudgley - Norse mythology and its (dubious) links with modern-day extremists

Der Anthropologe und Rundfunkautor Richard Rudgley stellt "Pagan Resurrection" eine provozierende These voran: Odinismus hatte einen größeren Einfluß auf das moderne westliche Denken als das Christentum.
Allerdings geht es in Rudgleys Buch überhaupt nicht darum.
Rudgley beginnt mit dem Psychonalytiker Jung, der den Nationalsozialismus in Verbindung mit dem nordisch / germanischen Gott Odin / Wotan brachte und behauptete, dass der Archetypus Odins immer noch sehr mächtig sei.

Nach einem kurzem Blick auf die Mythen um Odin und die Entwicklungsgeschichte der Runen behandelt er das Interesse zahlreicher Nazi-Vorgänger an dieser Mythologie und den Runen-Symbolismus, den die Nazis sich zueigen machten.
So weit, so unstrittig. Dann aber betrachtet der Autor ultra-rechte Vereinigungen in Amerika, angefangen beim Ku Klux Klan, und behauptet, dass auch sie Odins archetypischen Lenden entsprungen seien.

Damit ignoriert er die Tatsachen. Die heutige amerikanische extreme Rechten sind (fast ausschließlich) weiße Protestanten.
Rassistische Gruppen wie "Christian Identity" zeichnen sich dadurch aus, dass sie in einer Hand die Waffe, in der anderen die Bibel, und nicht die Edda, halten.

Ist der 168-fache Mord Timothy McVeighs, sein Sprengstoffanschlag 1995 in Oklahoma, wirklich einer der "Schrecken", der von der "unbewußten Manifestation des odinistischen Archetypus" erzeugt wurde? Natürlich nicht. Aber für Rudgley ist er es, so wie etliche andere Anschläge amerikanischer Rechtsextremisten auch.

NIrgendwo scheint sich Rudgley bewußt zu sein, dass Archetypen, wie Tarot-Karten und die Götter der meisten polytheistischen Religionen, in sich Gegensätze und Widersprüche vereinen. Der starke, wohltätige Anführer und der Tyrann sind zwei Seite der selben Medallie. Durch das ganze Buch hindurch konzentriert er sich auf die dunkle Seite Odins. Dabei verübt er die schlimmste wissenschaftliche Sünde, die ein Anthropologe oder Historiker begehen kann: er montiert sorgfältig ausgewählte Beispiele moderner Barbarei in ein Zerrbild der mythologischen Vergangenheit.

Nur auf den letzten 45 Seiten versucht er, einen Blick auf die positive Seite zu werfen, auf die "lebende Religion" des Odinismus, Asatru, oder auf die heutigen nordischen Traditionen.
Auch dabei kümmert er sich kaum um die Glaubensinhalte und Praktiken tausender moderner Heiden.
Rudgley beginnt sein Buch damit, dass er es "die Biographie eines Gottes" nennt und beendet es mit der Behauptung, es sei "eine Ethnographie ... eine Untersuchung der Kulturgeschichte der Mythen des nordeuropäischen Geistes". Es ist weder das eine noch das andere, sondern ein Katalog rassistischer Menschen und Organisationen, die sich nur über sehr fragwürdige Zwischenglieder, die eher Behauptungen als Fakten sind, mit Odin in Verbindung bringen lassen.

(Via: Witchvox.)

Sonntag, 1. Oktober 2006

Noch eine Begriffsklärung zum "Kampf der Kulturen"

In der Debatte um die angeblich islamfeindlichen Passagen im Vortrag Benedikts XVI. steht im Allgemeinen das Zitat eines mittelalterlichen Kaisers im Vordergrund. Allerdings ist für Aiman al Sawahiri, der allgemein als Vizechef von Al Qaeda gilt, etwas Anderes von zentraler Bedeutung:
netzeitung: Sawahiri beschimpft den Papst und Bush
"Dieser Hochstapler hat die rote Linie überschritten, als er sagte, dass sich der Islam nicht mit der Vernunft vereinbaren ließe», sagte Sawahiri. Er meinte damit offenbar jene Stelle in dem Vortrag Benedikts XVI., in der dieser über die islamische Lehre sagte, dass für diese «Gott absolut transzendent» sei. «Sein Wille ist (im Islam) an keine unserer Kategorien gebunden und sei es die der Vernünftigkeit.»
Swahiri liefert damit ein gutes Beispiel für eine streng fundamentalistische Religionsauffassung - und bestätigt interessanterweise die Darstellung des Papstes. Swahiri fühlt sich beleidigt (oder gibt es zumindest vor), eben weil Gott seiner Auffassung nach an keine menschlichen Kategorien gebunden ist - sondern die transzendente Quelle aller Werte und Kategorien ist. Gott ist in fundamentalistischer Auffassung (auch christlich-fundamentalistischer übrigens) per Definion "absolut vernünftig", der Koran (oder die Bibel) nicht nur "göttlich inspiriert", sondern das Wort Gottes - in jedem Komma und jedem I-Tüpfelchen. Egal, wie unvernünftig das einem sterblichen Menschen auch erscheinen mag.

Die Weltsicht eines Fundis vom Kaliber Swahiri könnte man so wiedergeben:
"Egal, wie er auf sterbliche Menschen wirken mag, der Islam ist die unverfälschte Widergabe der absoluten Vernunft Gottes. Wer also behauptet, Gott wäre im Islam über die Kategorie der Vernunft erhaben, lästert Gott, den ER ist die Vernunft (die Liebe, der Frieden, die Gerechtigkeit).

Wenn ein Katholik vom "unerforschlichen Ratschluß Gottes" redet, dann meint er in aller Regel: "Was uns Menschen vielleicht unvernünftig erscheint oder ungerecht, das sieht aus der Perspektive der überlegenen Vernunft, Weisheit und Gerechtigkeit Gottes ganz anders aus." Ein Fundamentalist meint damit: "Was Gott beschließt, das ist vernünftig, und damit Basta! Wer als Mensch an der Vernünftigkeit der Ratschlüsse Gottes auch nur eine Sekunde lang zweifelt, der lästert wider Gottes." Außerdem wird ein Fundamentalist darauf beharren, dass sich Gott klar, eindeutig und für alle Menschen verständlich offenbart hat. Wer diese klare Offenbarung nicht versteht, der ist eben böse, verstockt oder bestenfalls irregeleitet.

Einen guten Eindruck dieses Denkens bekommt man, wenn man versucht, mit Missionaren einer fundamentalistischen Sekte zu diskutieren. Wobei es völlig egal ist, ob besagte Sekte "christlich", "islamisch", "theosophisch",usw. ist. Selbst bei völlig abgespaceten UFO-Sekten läßt sich dieses Denkmuster wiederfinden. "Ashtar Sheran hat uns klare, unmissverständliche Botschaften übermittelt". Alien
(Es gibt sogar jemanden, der nach eigenen Angaben das "traditionelle germanische Heidentum" vertritt und auf fundamentalistische Weise "argumentiert". Womit er es im Laufe der Jahre geschafft hat, sich vom enfant terrible über die persona non grata zum unfreiwilligen Clown des deutschsprachigen Neuheidentums emporzuarbeiten. Das nur am Rande.) anbeten
Hinter Fundamentalismus aller Art steckt eine Weltsicht wie in diesem alten Witz: "Achtung, auf der A24, zwischen Börnsen und Geesthacht, kommt Ihnen ein Fahrzeug entgegen!" - "Wie bitte, ein Fahrzeug? Tausende!"

Hinter diesem Hintergrund ist auch klar, was der "Vize" des Terrornetzwerks Al Qaeda meint, wenn er über den Papst sagt:
Dieser Mensch mit paradoxen Ansichten tut so, als hätte er vergessen, dass sein Christentum von einem gesunden Verstand nicht begriffen werden kann.
Klar, denn einen "gesunden Verstand" hat nur der, der genau das Selbe glaubt, was Swahiri glaubt. ;-)

Noch eine notwendige Anmerkung: die wenigsten Fundamentalisten sind gewaltbereit - die, die es sind, sind aber schlimm genug. Davon abgesehen bin ich der Ansicht, dass sich jede Religionsgemeinschaft ihre Fanatiker und religiös Verdrehten selbst kümmern muß. (Hierzu, in der Sagnagelschmiede: Self fulfilling prophecies).

Ich bin außerdem der Ansicht, dass der religiöse Fundamentalismus für "Hassprediger" und Al Queda-Terroristen nur den Charakter einer Rechtfertigungsideologie hat - in den mir bekannten Hasspredigten und Äußerungen radikaler Islamisten steht nämlich eindeutig die Politik im Vordergrund, die "Religion" beschränkt sich auf einige Phrasen.
Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass die Attentäter vom 11 September 2001 keine "islamischen Fundamentalisten" waren. Eher politische Fanatiker mit einem dem islamischen Fundamentalismus entlehnten "Betäubungsspritze für aufkommende Skrupel": "Wenn wir dabei Unschuldige töten, wird Gott die Seinen schon erkennen und ihnen den Weg ins Paradies bahnen."

Freitag, 18. August 2006

Antisemitismus in den Evangelien?

Wie ich weiter unten erwähnte, habe ich mir "Die katholische Kirche und der Holocaust" von Daniel Jonah Goldhagen, angestoßen durch eine Diskussion auf
B.L.O.G, erneut vorgenommen.

Goldhagen ist der Ansicht, dass die christliche Bibel (das "Neue Testament") sei in weiten Passagen ein antisemitscher Text, woraus sich eine antisemitische Grundhaltung der christlichen Kirchen ergäbe.
(...) Es ändert auch nicht an dem Schaden, den die Struktur der Bibel anrichtet, dass nämlich Juden der onthologische Feind Jesus und Gottes seien. Die Botschaft der christlichen Bibel ist dieselbe geblieben, seitdem ihr Text kodifiziert worden ist: Die Juden haben Gottes Sohn getötet, der zugleich Gott ist. An diesem Verbrechen sich alle Juden schuld. (...) Viele Religionen sind ethnozentrisch, feiern ihre eigene Gruppe, sind unduldsam gegen andere. Der Angriff der christlichen Bibel auf die Juden ist jedoch qualitativ etwas anderes. Dieser Angriff übertrifft diejenigen anderer Religionen an verleumderischen Inhalten, an Häufigkeit der Wiederholungen und an emotionaler Intensität. Die Missbilligung der Juden ist keine Äußerlichkeit der christlichen Bibel und ihrer religiösen Behauptungen und Wahrheiten. Sie ist ein konstitutiver Bestandteil des biblischen Christentums. Dieser konzentrierte biblischen Angriff auf die Juden veranlaßte Christen (..) reale, lebende Juden in einer Weise ungerecht zu behandeln und zu schädigen, die auch im historischen Vergleich mit allen anderen bedeutenden Religionen ohnegleichen ist.
(Goldhagen: Die katholische Kirche und der Holocaust, Berlin, 2002, S. 353.)

Für mich, als Neuheiden, ist Goldhagens Position verlockend. Wenn das Christentum strukturell antisemitisch ist, dann kann ich die - nicht immer sachliche - Kritik von christlicher Seite am (angeblichen) strukturellen Antisemitismus inbesondere des germanisch orientierten Heidentums (Asatrú) locker und wirksam kontern. (Den tatsächlich bei vielen Heiden vorhandenen latenten, bei "völkisch" orientierten Heiden auch offen zu Tage tretenden Antisemitismus möchte ich an anderer Stelle behandeln.)

Ohne Zweifel gibt es in der christlichen Bibel (alias "Neuem Testament") zahlreiche antijüdische Textstellen. Dass Goldhagen diese als antisemitisch bezeichnet, ist insofern legitim, da er einen Begriff des Antisemitismus zugrunde legt, der sehr radikal bzw. konsequent ist: jeder, der schlecht von Juden denkt, Animosität oder feindliche Gefühle gegen Juden hegt oder Juden hasst, nur weil diese Juden sind, oder der dem Judensein und damit den Juden insgesamt schädliche Eigenschaften zuschreibt, ist Antisemit. Eine Differenzierung zwischen antijüdisch, antijudaistisch (gegen die jüdische Religion gerichtet) und antisemitisch lehnt er als unsinnig bzw. haarspalterisch ab.
Gemäß dieser Definition ist der eigentliche Begründer des Christentums, Saulus bzw. Paulus, obwohl er sich selbst Jude war, ab dem Augenblick "antisemitisch", in dem er "die Juden" für den Tod Jesus schuldig hielt und sie verdammte, weil sie Gott nicht verstünden. Ein nicht ganz unproblematischer Standpunkt. Ich gewinne bei der Lektüre der Paulusriefe und der Apostelgeschichte eher den Eindruck, dass Paulus ein typischer "Sektierer" war, der seine von Judentum abgespaltete religiöse Sondergruppe nach Kräften sowohl gegen die "Mutterreligion" (das traditionelle Judentum) wie gegen die konkurrierende Gruppe der Judenchristen der "Urgemeinde", die sich um Jesus Bruder Jakob gebildet hatte, abgrenzte. Judenchristen waren Juden, die sich von anderen Juden im wesendlichen nur dadurch unterschieden, dass sie in Jesus den "Messias" sahen. Die Ebioniter und Nazoräer waren Judenchristen, sie galten für die entstehende "heidenchristliche" Kirche ab dem 2. Jahrhundert nicht mehr als "richtige" Christen. Die Idee, dass Jesus mit Gott wesendsgleich war, kam erst viel später auf - die "Dreieinigkeit" sogar noch später, nämlich um 300 "nach Christus".)

Goldhagen zufolge gibt es im Evangelium des Matthäus rund achtzig ausdrücklich antisemitische Verse.
(...) Es ist denn auch nicht erstaunlich, dass Matthäus zufolge ein solches Volk und seine Religion als null und nichtig überwunden, ersetzt wurden durch ein anderes. Jesus erklärt: "Darum sag ich euch: Das Reich Gottes wird euch [Juden] weggenommen werden und einem Volk gegeben werden, das die erwarteten Früchte bringt [den Christen]."
Es trifft zu, dass die christliche Kirchen den Anspruch, "die Christen" hätten "die Juden" als "auserwähltes Volk Gottes" abgelöst (Sukzessionslehre) auf diese und ähnliche Bibelstellen gründeten. Allerdings ist fraglich, dass Matthäus (der lange nach der Hinrichtung Jesus schrieb und ihn wahrscheinlich nicht kannte), das bei der Niederschrift seines Evangeliums auch meinte. Matthäus schrieb, wie die beiden anderen "Synoptiker" nämlich noch nicht von "den Juden", sondern von "den Schriftgelehrten", "den Pharisäern" usw. - erst das (eindeutig judenfeindliche) Johannisevangelium ersetzt diese Ausdrücke sehr oft einfach durch "die Juden". Da das Matthäusevangelium eindeutig "judenchristlich" ist, ist eher anzunehmen, dass es sich hier um eine innerjüdische Auseinandersetzung handelte: die Anhänger des weitgehend auf pharisäisches Gedankengut zurückgreifenden Rabbis Jesus gegen die "Altpharisäer", die sich ihrer Ansicht nach in kleinlichen Gesetzesauslegungen und vordergründiger Frömmigkeit verzettelten - wobei die "Dissidenten" (Jesus-Anhänger) heftig gegen die "Traditionalisten" polemisierten. Diese Textpassagen wurden, anders als Goldhagen nahelegt, also erst nachträglich im antijüdischen Sinne interpretiert.
Noch problematischer ist, was Goldhagen weiter unten auf derselben Seite schreibt:
Dieser Darstellung der Juden aus dem Munde eines Mannes, der als der Sohn Gottes präsentiert wird, folgt bald Matthäus' berüchtigte, fiktive Kreuzigungsszene, in der das ganze jüdische Volk die Schuld am Tode Jesus bereitwillig auf sich und seine Nachkommen nimmt, also auf die Juden aller Zeiten. War "das ganze [jüdische] Volk" das mehrere Millionen zählte, dort? Haben sie alle wunderbarerweise unisono die ihnen zugeschriebenen Worte gerufen: "Sein [Jesu] Blut komme über uns und unsere Kinder"? Wie kann jemand eine solche Szene, fünfzig bis siebzig Jahre nach dem Tode Jesus von einem Feind der Juden erdacht, der Juden als "Schlangenbrut" bezeichnet, für eine getreuliche Darstellung historischer Tatsachen halten?
Kein Zweifel, es gab und gibt Christen, die die Kreuzigungsszene genau so interpretieren - und immer noch christliche Fundamentalisten, die die Evangelien für die Darstellung historischer Tatsachen halten.
Aus dem Wortlaut des Matthäus-Evangeliums geht diese Lesart keineswegs zwangsläufig hervor - es erfordert sogar einige Anstrengungen, sie in den Text hinneinzuinterpretieren. In einer neueren, auf Genauigkeit großen Wert legenden Bibelübersetzung ("Die heilige Schrift im heutigen Deutsch", Spitzname: "die Fußnotenbibel") heißt es:
Als Pilatus merkte, daß seine Wort nichts nützten und die Erregung der Menge noch größer wurde, nahm er Wasser und wusch sich vor allen Leuten die Hände. Dabei sagte er: "Ich habe keine Schuld am Tod dieses Mannes. Das habt ihr zu verantworten". Das ganze Volk schrie: "Wenn er unschuldig ist, dann komme die Strafe für seinen Tod über uns und unsere Kinder!" Da gab Pilatus ihnen Barabbas frei. Jesus ließ er auspeitschen und gab Befehl, ihn ans Kreuz zu nageln.
Es liegt auf der Hand, dass mit "dem Volk" keineswegs "alle Millionen Juden" gemeint sein können. Gemeint ist offensichtlich eine aufgebrachte Menge sadduzäischer Juden, die einen missliebigen Kritiker ihrer religiösen Praktiken den römischen Besatzern ans Messer (bzw. Kreuz) liefert. Wobei auch das schwerlich den realen historischen Begebenheiten entspricht, aber Matthäus schrieb ja keine Chronik, sondern eine Bekenntnisschrift.

Goldhagen erkennt sehr richtig, dass die Evangelien keine historischen Texte sind. Mit den meisten modernen christlichen Theologen ist er der Ansicht, dass die Autoren der christlichen Bibel Konflikte zwischen dem sich vom Judentum zunehmend abgrenzenden frühen Christentum und dem traditionellen Judentum in die Zeit Jesus zurückverlagerten. Ebenso ist ihm darin zuzustimmen, dass die Evangelisten die Rolle der Römer und vor allem des Prokurators Pilatus bei der Hinrichtung Jesu zulasten der saduzäischen Kollaborateure (bei Matthäus) bzw. "der Juden" (bei Johannes) verharmlosen. (Aus außerbiblischen Quelle geht eindeutig hervor, dass Pontius Pilatus ein korrupter und brutaler Besatzungs-Gouverneur war, der nicht erst lange bedrängt werden mußte, um mal eben einen "Rebellen" "standrechtlich" zum Tode zu verurteilen.)
Es gibt in der Tat unzählige antijudaistische (gegen die jüdische Religion gerichtete) Stellen in der christlichen Bibel. Und es besteht auch gar kein Zweifel daran, dass der "christliche Antisemitismus" bis heute aus dem "neuen Testament" schöpft. Wenn Goldhagen aber die christliche Bibel als solche für eine antisemitische Schrift hält, die im Interesse des gedeihlichen Miteinanders zwischen Juden und Christen umgeschrieben werden sollte, dann interpretiert er diese Textsammlung meines Erachtens in ahistorischer Weise.

Samstag, 22. Juli 2006

Jerusalem - "Wiege der drei monotheistischen Religionen"?

Der Anlaß für diesen Beitrag ist aber diese Passage aus Broders Interview mit "Tacheles" "Europa wird anders werden".:
Und eine zweite wäre vielleicht, dass Tschetschenien nicht die Heimat der drei Weltreligionen ist?

Ja, das stimmt sicher auch. Leibowitz wurde einmal darauf angesprochen, dass Israel die Wiege der drei monotheistischen Weltreligionen sei. Seine wunderbare Antwort war, dass es nicht die Wiege von Judentum und Islam sei, die seien woanders entstanden, sondern die Wiege des Christentums, und dieses sei keine monotheistische Religion. Das hat eine Symbolik. (...)
Leibowitz hat Recht - auch wenn diese Antwort ein Stich ins Herz vieler Christen ist. (In geringerem Ausmaß auch auch mancher Juden und Moslems, insofern sie den Mythos Jerusalems als "ihrer" heiliger Stadt hoch halten.) Wobei ich über Leibowitz hinnausgehe: auch das Christentum enstand nicht in Jerusalem. Dort entstand nur eine kleine jüdische Sekte, die in Jesus den Messias sahen, ansonsten aber dem Judentum in jeder Hinsicht treu blieben. (Diese "Judenchristen" waren die Vorgänger der Ebioniten und Nazoräer, die von der späteren christlichen Kirchen ausdrücklich nicht als "echte" Christen anerkannt wurden.) Der eigentliche "Religionstifter" des nichtjüdischen (und zu guten Teilen antijüdischen) Christentums ist Paulus, und der lebte und wirkte bekanntlich nicht in Jerusalem.
Zuzustimmen ist Leibowitz darin, dass das Christentum keine monotheistische Religion ist. Evident wird das im Vergleich zu den zentralen Aussagen des Islams und des Judentums. Im Islam ist das ganz einfach: "Es gibt keinen Gott außer Gott". Bei den frühen Juden ist das nicht ganz so klar, denn es heißt im 2. Buch Mose: "Ich bin der Herr, dein Gott! Ich habe dich aus Ägypten herausgeführt, ich habe dich aus der Knechtschaft befreit. Du sollst keine anderen Götter außer mir haben. (...) Wirf dich nicht vor fremden Götter nieder und diene ihnen nicht. Denn ich, dein Herr, bin ein eifersüchtiger Gott.(...)"
Daraus ergibt sich, das es für die alten Israeliten sehr wohl andere Götter gab. Das folgt auch aus einer Episode im Buch der Könige, in dem der Prophet Elijah ausgesandt wird, um Juden zu warnen, die "zsätzlich" dem alten semitischen Gott Baal dienen. In 1. Könige 18:21 sagt Elijah zu ihnen: „Wie lange wollt ihr auf zwei Ästen sitzen? Wenn der Her der Gott ist, so folget ihm; wenn aber Baal, so folget ihm.“ Man ist also entweder ein Jude oder ein Verehrer Baals, beides geht nicht. Aber nirgendwo ist zu lesen, dass Baal, Aschera, El und andere Götter nicht existieren würden oder keine Macht hätten. Damit war das frühe Judentum streng genommen kein Monotheismus, sondern eine Monolatrie. Vermutlich in der Zeit des babylonischen Exils entwickelte er sich zu einem echten Monotheismus weiter. Im Zentrum des Judentums steht ein unnennbarer, körperloser und völlig abstrakter Gott, der sich in Gesetzen offenbart.
Ganz anders im Christentum. Man kann endlos darüber debattieren, ob die Trinität (Vater, Sohn, Heiliger Geist) der Glaube an drei Gottheiten ist oder nicht. Die Tendenz, sich Gott konkret vorzustellen und in verschiedene Aspekte zu unterteilen, unterscheidet das Christentum deutlich vom Gotteskonzept sowohl der Juden wie der Moslems. In der christlichen Praxis weichte sich der Monotheismus der "Urchristen" weiter auf - z. B. wandelte sich die Vorstellung des Teufels als Beauftragtem und Untergebenen Gottes ("Satan" heißt "Ankläger", im Sinne des Anklagevertreters vor Gericht) zu einem dualistisch gesehenen "Widersacher" (Antigott). (Entsprechende Tendenzen gibt es auch im Islam, besonders populär sind sie bei politischen Islamisten.) Im Katholizismus und im orthodoxen Christentum (und sogar in manchen Richtungen des Protestantismus) übernehmen zahlreiche Heiligen, Engel und Dämonen die Funktion von rangniederen Gottheiten. Nimmt man noch die katholische Marienverehrung hinzu, die auffällig und bis ins Detail hinnein der antiken Isisverehrung entspricht, dann ist die größte Konfession des Christemtum kein Monotheismus sondern allenfalls Henotheismus. Und selbst die streng protestantischen Richtungen, die ohne Heilige und "personal" gedachten Teufel auskommen, sind allerhöchstens inkonsequent monotheistisch, gemessen an den jüdischen und islamischen Standards sogar nur pseudo-monotheistisch.

Jerusalem ist also keineswegs "die" heilige Stadt, so wie Israel keineswegs das "heilige Land" ist.

Im Namen der Mutter, der Tochter und der heiligen Extase!

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

Geheimauftrag MARIA STUART...
Krisenfall Meuterei Der dritte Roman der Reihe "Geheimauftrag...
MMarheinecke - 9. Apr, 19:42
Urlaubs-... Bräune
Das "Coppertone Girl", Symbol der Sonnenkosmetik-Marke...
MMarheinecke - 1. Aug, 08:34
Geheimauftrag MARIA STUART...
Ahoi, gerade frisch mit dem Postschiff eingetoffen. Der...
MMarheinecke - 26. Mär, 06:48
Kleine Korrektur. Man...
Kleine Korrektur. Man kann/sollte versuchen die Brille...
creezy - 11. Nov, 11:29
strukturell antisemitisch
Inhaltlich stimme ich Deinem Text zwar zu, aber den...
dummerle - 5. Jun, 11:12

Suche

 

Status

Online seit 7082 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 24. Jul, 02:01

Credits


doof-aber-gut
Gedankenfutter
Geschichte
Geschichte der Technik
Hartz IV
Kulturelles
Medien, Lobby & PR
Medizin
Persönliches
Politisches
Religion, Magie, Mythen
Überwachungsgesellschaft
Umwelt
Wirtschaft
Wissenschaft & Technik
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren
development