Politisches

Samstag, 22. Juli 2006

Tacheles

Henryk M. Broder gab der "Tacheles" ein (trotz einiger schmerzhafter broderscher Pauschalisierungen) sehr lesenswertes Interview über historischen Masochismus, arabische Logik und die "Entarisierung" Europas. Es ist auch auf Hagalil online: "Europa wird anders werden".

Was die Einschätzung des Geschichtsmasochismus angeht, stimme ich Broder völlig zu (das ist in letzter Zeit nicht immer der Fall) :
Es ist nichts wie 1933, und ich finde es vollkommen albern, wenn die Leute auf die Strasse gehen und sagen: Nie wieder 1933. Das sind Leute, die für mich eine fatale Fixierung, eine Zwangsfixierung auf die Vergangenheit zu Tage legen. Da gibt es zurzeit in der Bundesrepublik Aufregung über die Weigerung der Bundesbahn, auf den Bahnhöfen eine Ausstellung über die Deportationen jüdischer Kinder in die KZs zu zeigen. Ich bin hier voll auf der Seite der Bundesbahn – Bahnhöfe sind keine historischen Gedenkstätten. Ich finde, dass es ein paar holocaust- und völkermordfreie Zonen geben sollte, unter anderem die Nahverkehrsmittel. Ich möchte auf einem Bahnhof keine Ausstellungen über die Massaker an den Kurden, Armeniern oder Juden sehen. Das ist wirklich eine Form von historischem Masochismus, den ich nicht teilen kann.

Woher kommt so was?

Dieser Geschichtsmasochismus wird von Leuten betrieben, die keine Verbindung zur Gegenwart herstellen. Diese Leute halten Darfur wahrscheinlich für eine Kaffeesorte. Sie regen sich wahrscheinlich nicht darüber auf, dass im Kongo inzwischen vier Millionen Menschen niedergemacht wurden und der iranische Staatspräsident Israel mit Vernichtung droht. Sie fixieren sich auf die Geschichte, weil sie sich damit selbst einen Bonus geben.
Ich ergänze: sie fixieren sich auch deshalb auf vergangenes Unrecht, weil es bequemer ist, als neues Unrecht zu bekämpfen oder auch nur öffentlich beim Namen zu nennen.

Eine brodersche Pauschalisierung, die mich wirklich ärgert, ist diese:
In der arabischen Welt ist schon der Kompromiss ein Gesichtsverlust.
Das gilt für eine bestimmte Sorte Araber im politischen Kontext. Wäre ein Kompromiss immer ein Gesichtsverlust, müßte z. B. (sorry für das Klischee) ein Basarhändler, ja überhaupt jeder Kaufmann in der arabischen Kultur ein wenig geachteter Mensch sein - Verkaufsverhandlungen, besonders in der Form des Feilschen, sind das Musterbeispiel einer Kompromissfindung. (Es sei denn, der Händler zieht seinen Kunden völlig über den Tisch. Dürfte auf einem orientalischen Basar sehr selten vorkommen, unerfahrene Touristen als "Opfer" mal ausgenommen.) Tatsächlich genießen Kaufleute in der traditionellen arabischen Kultur ein hohes Ansehen, was auch mit dem "Zivilberuf" Mohammeds zusammenhängen dürfte. Das Problem liegt m. E. darin, dass die "modernen" Islamisten eine totalitäre "faschistische" "Alles oder nichts"-Ideologie vertreten - und nicht, wie oft fälschlich angenommen wird, ultra-konservative islamische Traditionalisten sind. Mit Traditionalisten kann man wenigstens verhandeln, auch Broder räumt ein, dass es einen "arabischen Pragmatismus" gibt. Mit Islamofaschisten wie der Hamas sind Verhandlungen zwecks Bildung eines politischen Kompromisses meines Erachtens sinnlos. (Schließt Verhandlungen auf Alltagsniveau nicht aus, sehr wohl aber die Beteiligung an einer Friedenskonferenz, die diesen Namen verdient.) Und mit Terroristen verhandelt man gründsätzlich nicht.

Sonntag, 16. Juli 2006

Im Schatten des Integrationsgipfels

... wurden im Innenministerium Pläne ausgearbeitet, Ausländer, die in Deutschland gearbeitet haben, und dann arbeitslos werden, sollen künftig abgeschoben werden, sobald sie auf ALG2 kommen (also in der Regel nach einem Jahr Arbeitslosigkeit). AlG2- bzw. Sozialhilfeempfänger sollen keine ausländischen Ehepartner mehr nehmen dürfen.
Beide Vorschläge verletzen an sich selbstverständliche Bürgerrechte.
Die NDP hätte es kaum "besser" hingekriegt.
Via che: Die neuen Rassegesetze sind bald da.

Ergänzung:
Netzeitung: Schäuble will Aufenthaltsgesetz verschärfen

WamS:Nur einen Tag nach dem Integrationsgipfel schon wieder Streit ums Ausländerrecht
Nur einen Tag nach dem ersten Integrationsgipfel der Bundesregierung ist ein heftiger Streit über die Zuwanderungspolitik entbrannt. Anlaß ist ein interner Prüfbericht des Innenministeriums. Darin wird eine Verschärfung des Ausländerrechts empfohlen.

Laut “Spiegel” heißt es in dem Papier, Deutsche, die von Sozialhilfe lebten, sollen künftig keine ausländischen Ehepartner mehr ins Land holen könnten. Außerdem wolle das Ministerium die Möglichkeit schaffen, Ausländer, die zu Hartz-IV-Empfängern würden, künftig ausweisen zu können.
Schäuble testet, vermute ich, einfach aus, wie weit er gehen kann - und wie viel Beifall er in seiner Partei und bei potenziellen Wählern für diesen nationalistischen und autoritären Kurs findet.

Und das hier stammt leider nicht von einem NDP-Mitglied:
"Wer Deutscher werden will, muss sich auch zur deutschen Schicksalsgemeinschaft und damit zur deutschen Geschichte bekennen", sagte Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU).

Mittwoch, 5. Juli 2006

Positives Element in der "Gesundheits"-"Reform"

Andere habe es schon gesagt und geschrieben: Die Gesundheitsreform ist ein Musterbeispiel eines faulen Kompromisses, eine wenig funktionale "Minimallösung".

Trotzdem: es gibt tatsächlich eine wenige beachtete sinnvolle Regelung in , wenig beachtet, weil sie ein gern verdrängtes Problem betrifft: Es soll eine Versicherungspflicht für alle Bürger eingeführt werden.
Für einen Liberalen klingt das Wort "Versicherungspflicht" erst einmal grausig. Aber diese Einschränkung der Freiheit bringt ein sehr positives Element mit sich: eine "Pflicht" ist nur dann zu verwirklichen, wenn wirklich jeder in die gesetzliche Krankenversicherung aufgenommen wird. Das ist bisher in Deutschland nicht der Fall. Mit erschreckenden Folgen:

Vor knapp einem Jahr wurde die Zahl der nicht krankenversicherten Deutschen auf ca. 300 000 geschätzt.

Ich konnte mir das auch nicht so recht vorstellen, da ja die Krankenversicherung von Sozialhilfeempfängern vom Sozialamt übernommen wird, aber es gibt eine klaffende Lücke im vielgelobten "sozialen Netz".
Man fällt aus dem Versicherungssystem heraus, wenn man noch zuviel Vermögen oder Einkommen hat, um sozialhilfeberechtig zu sein, aber nicht genug Geld für eine private Versicherung oder die extrem teure freiwillige Versicherung bei einer Krankenkasse hat und und nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt ist bzw. kein Arbeitslosengeld erhält.
Bei Freiberuflern und Kleingewerbetreibende ist dieser Risiko stehts vorhanden, bei "gescheiterten" Selbstständigen - unter ihnen nicht wenige, die die Selbstständigkeit der Arbeitslosigkeit vorgezogen haben - sehr groß. Die viel geforderte Eigenverantwortung wird so de facto bestraft - und die weit verbreitete Kultur der Risikoscheu gradezu systematisch gefördert. Es kann aber auch "ganz normalen" Arbeitnehmern passieren, wie dem Familienvater, der durch einen Unfall und die anschließende längere Arbeitsunfähigkeit aus der Versicherung rutschte und sich die jetzt dringend notwendige Folgeoperation nicht leisten kann - mit verheerenden Folgen für seine Gesundheit und seine finanzielle Situation. Ihm bleibt eigentlich nur die zynische Möglichkeit, möglichst schnelll arm zu weden, damit das Sozialamt die Krankenversicherung übernimmt. Auch eine Form der "steuerfinanzierten Krankenversicherung". Aber eine, auf die alle Beteiligten gern verzichten würden.

Besonders schlimm ist, dass die Kinder der nicht versicherten bisher ebenfalls nicht unversichert waren. Dieser skandalöse Mißstand wird tatsächlich durch die Steuerfinanzierung der Kinderversicherung beseitigt.

Es hängt jetzt sehr viel davon ab, wie die "Versicherungspflicht für alle" umgesetzt wird. Eine sinnvolle Möglichkeit wäre, dass Geringverdiener - egal, wo und wie sie ihr geringes Einkommen verdienen - zu einem niedrigen Satz einer ganz normalen Krankenkasse beitreten können. Auch muß es erheblich leichter werden, bei Bedarf wieder von der Privaten in die gesetzliche Kasse zu wechseln.
Zur Freiheit: sicherlich gibt es Menschen, die sich, weil rundum gesund, gern die Krankenversicherung sparen. Allerdings: niemand ist vor Krankheit und Unfall gefeit. Pasierte so einem "Sparsamen" Menschen etwas Ernstliches, dann liegt er kurz oder lang dem Sozialamt auf der Tasche. Auch keine Lösung.

"Schutzbund Deutschland" verboten

Gestern, am 4. Juli 2006, hat das brandenburgische Innenministerium nun den Verein "Schutzbund Deutschland" verboten. Eine Plakataktion, mit der die Neonazis während der WM versucht hatten, Angst unter Ausländern zu sähen, dürfte der hauptsächliche Anlaß des Verbots gewesen sein: In mehreren brandenburgischen Städten, darunter Cottbus, tauchten vom "Schutzbund" verbreitete Warnschilder mit dem Slogan "Stop! No go area!" auf.

Der Verein "Schutzbund Deutschland" ist eine rechts von der NPD stehende Neonazi-Propagandaorganisation, die sich an organisierte und nicht-organisierte, offen rasstische Rechtsextremisten wendet. Im Vorfeld der Fußball-WM machte der "Schutzbund" mit der Kampagne "Du bist nicht Deutschland, Du bist BRD" von sich reden. Schlagzeilen machten die Plakate und Aufkleber, die mit einer gehässigen Karrikatur und dem Spruch "Nein Gerald, Du bist nicht Deutschland" den deutschen Nationalspieler Gerald Asamoah verunglimpften.
Inhaltlich und in der Gestaltung des Propagandamaterials lehnt sich der "Schutzbund" eng an die Propaganda der NSDAP an. Weil sich der "Schutzbund" lange Zeit im Feld des "gerade noch nicht Strafbaren" bewegte, galt er, obwohl die Propaganda deutlich "nazimäßiger" und in ihrem Rassismus brutaler ist als z. B. die der NPD, als "schwer angreifbar". Allerdings wurde der "Schutzbund" in letzter Zeit "mutiger" - und damit nachlässiger.

Die Verbotsverfügung sei am Dienstagmorgen 13 Personen zugestellt worden, sagte Innenminister Jörg Schönbohm in Potsdam. Polizeikräfte hätten das Verbot anschließend vollzogen und 13 Objekte in Brandenburg sowie ein Haus in Halle/Saale durchsucht. Das Vermögen des Vereins sei beschlagnahmt und eingezogen worden. Insgesamt waren mehr als 250 Polizisten im Einsatz.
ngo-online: Ministerium verbietet "Schutzbund Deutschland"
taz: Schönbohm stellt Nazis vom Platz

Nicht überrascht, dass die Polizei bei den Hausdurchsuchungen auf eine professionelle Druckerwerkstatt stieß, nebst einem Auslieferungslager mit zehntausenden Flyern, Plakaten und Aufklebern. Schlecht für die Neonazis, dass sich darunter auch offen nationalsozialistisches Propagandamaterial mit verbotenen NSDAP-Zeichen ist, nebst Material der seit 2000 verbotenen Organisation "Blood & Honor".

Führender Kopf des 13 Mitglieder zählenden "Schutzbundes" war laut Innenministerium der frühere NPD-Landeschef Mario Schulz, der als parteiloser Politiker im Prignitzer Kreistag sitzt. Ihm sei - ebenso wie anderen Exmitgliedern des NPD-Kreisverbandes Prignitz-Ruppin - die NPD zu "lau", sprich nicht rassistisch genug gewesen.

Obwohl der "Schutzbund" augenscheinlich bisher finanziell gut ausgestattet war, bat er den vergangenen Wochen in rechtsextremen Internetforen und per Massen-Email um Spenden, weil er offensichtlich durch Gerichtsverfahren gegen die rassistische Kampagne gegen Asamoah in Geldnot geraten war. Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) hatte erfolgreich gegen die "Du bist nicht Deutschland"-Kampagne geklagt.

Trotz seiner kleinen Mitgliederzahl war der "Schutzbund" ein Kristallisationskern der Neonazi-Szene nicht nur in Brandenburg.

Einige Anmerkungen: Anscheinend ist der "Schutzbund" eine kleine "Frontorganisation" - um es im "rechtsaußen" gängigen Militärjargon zu sagen: Eine vorgeschobene Kampfgruppe, bei der Verluste, einschließlich einiger Zeit im Knast für einige exponierte "Kämpfer", einkalkuliert sind. Das heißt, er ist ohne Weiteres ersetzbar. Am meisten dürfte die Neonazis noch der Verlust an Vermögen treffen. Somit ist das Verbot zwar notwendig und richtig, aber eine reine Verbotsstrategie weniger effektiv, als es Schönbohm nun verkündet.
Außerdem war es wieder einmal allein der Leichtsinn der Nazis, die einen Zugriff ermöglichten. Einer Organisation, die wie lange Zeit auch der "Schutzbund", sorgfältig am Rande des nicht ausdücklich Verbotenen agiert, ist so nicht beizukommen. (Ich denke da u. A. an die "Artgemeinschaft".)
Bezeichnend auch, dass das Verbot erst erfolgte, nachdem der "Schutzbund" bereits beinahe weltweit Schlagzeilen geliefert hatte. Rein inhaltlich hatte sich der "Schutzbund" nämlich schon bei Beginn der "Du bist nicht Deutschland"-Kampagne vor gut einem halben Jahr weit genug aus dem Fenster gelehnt, um ein Verbot zu rechtfertigen.

Mittwoch, 28. Juni 2006

Die NPD und ihr "großes Vorbild"

Eigentlich müßte es sich herumgesprochen haben:
Von Nazi-Deutschland lernen, heißt verlieren lernen!

Immer wieder frappierend, wie direkt die National"demokraten" an alterprobte Rezepte der NSDAP anknüpfen. Wie ihr "großes Vorbild" schleimt sich die NPD bei der katholischen Kirche an, wenn es taktisch geboten erscheint. NDP-Blog: NPD zwischen Jesus und Odin.

Übrigens dürften auch die von anderen NPDlern angeschlagenen neuheidnischen und anti-christlichen Töne im Zweifel taktisch motiviert sein - auch wieder wie beim “großen Vorbild”. Und da Heiden in der großen Mehrheit zwar keine Nazis, aber oft geradezu selbstmörderisch politisch naiv sind, gehen solche Taktiken von "Rechtsaußen" gerade bei ihnen allzuoft auf. (Wobei nur graduelle Unterschiede zwischen NPD, DVU und "intellektuellen" "Neuen Rechten" bestehen.) Ich möchte zu gern die Gesichter der "Odin statt Jesus!"-T-Hemd-Träger sehen, wenn die mitbekommen, dass der selbe Bursche, der ihnen gestern noch was von "Wüstenreligionen", die naturgesetzlich nicht zu den Nordeuropäern passen würden, erzählte, heute einen Bischof bittet, einen Gottesdienstbesuch der Nationaldemokraten zuzulassen, damit diese demonstrieren könnten, dass es sich bei der NPD "um keinen Dämon" handle.

Auch übrigens, auch im NPD-Blog: Nazis umd WM: Volksgemeinschaft statt Party-Patriotismus. (Entlarvend, wie offen sich der NPD-Landtagsabgeordneter Jürgen Gansel zum Nationalsozialismus bekennt.)
Wenn die schwarzrotgoldene Fähncheneuphorie ein Gutes hat, dann dass das beliebte Propagandathema der angeblich vom Ausland (nationalistische Variante) oder von den Juden (Hardcore-Nazi-Variante) gegängelten Deutschen, die keinen Nationalstolz zeigen dürften, vorerst jede Glaubwürdigkeit verloren hat.

Aus Sicht der NS-Nostalgiker passiert übrigens am Rande der WM der reine Horror:
Did you ever think you'd see the same people waving Israeli flags and singing "Deutschland über alles"?
Aus: Winds of Change: Soccer semiotics - sehr lesenswert - auch die Kommentare! via: extrablog

Montag, 26. Juni 2006

"Gestürmte Festung Europa"

Ein neues Sachbuch über einen gern verdängten humanitären Skandal: die europäische Einwanderungspolitik.
Nach Schätzungen des Roten Kreuzes sind rund 20.000 Menschen in den vergangenen zehn Jahren bei dem Versuch gestorben, Europa zu erreichen.
Die hässliche Seite Europas
Es dürfte harter Stoff sein, aber ich werde es lesen. Weggucken hilft am wenigsten.

Bei amazon:Corinna Milborn: Gestürmte Festung Europa. Einwanderung zwischen Stacheldraht und Ghetto. Das Schwarzbuch. Mit Farb- und S/W-Fotos von Reiner Riedler. Styria, Wien-Graz-Klagenfurt 2006. 248 Seiten, 19,90 Euro

Sonntag, 25. Juni 2006

Hartz-IV-Ombudsratsbericht, Politiker und Medien

Es ist bemerkenswert und bezeichnend. Vorgestern erschien der Bericht des Ombudsrates für Grundsicherung über die Auswirkungen der Hartz IV-Reform. Darin wurde festgestellt, dass es ein Kompetenzwirrwarr in den ARGEs gibt, das ein effizientes Arbeiten nahezu unmöglich macht. Außerdem macht der Bericht deutlich: der Missbrauch beim Arbeitslosengeld II ist kein Massenphänomen. Die Agentur für Arbeit selbst beziffert ihn auf unter 3%.

Trotzdem wird die "Schmarotzerlegende" weiterverbreitet. Zum Beispiel vom Fraktionsvorsitzenden der SPD, Dr. Peter Struck. In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 25.6. meinte er:
Das Menschenbild, das wir hatten, war vielleicht zu positiv. Es war zu optimistisch anzunehmen, dass Menschen das System nur in Anspruch nehmen, wenn sie es wirklich brauchen.
Dieser Satz, wäre angemessen, wenn es wirklich eine unerwartete Kostenexplosion durch massenhaften Leistungsmißbrauch geben würde. Auch die bizarren (und grundgesetzwidrigen) Vorschläge des CSU-Abgeordneten Stefan Müllers, die eine Art "Arbeitsdienst" vorsehen, sind nur vor dem Hintergrund der Massenmißbrauchs-Legende verständlich.
Diese Legende ist bequem, sie erspart es den verantwortlichen Politikern, schwere handwerkliche Fehler bei der Reform und illusionäre wirtschaftpolitische Vorstellungen zugeben zu müssen. Diese Legende kommt natürlich auch bestimmten, konservativen und (pseudo-)wirtschaftliberalen, Interessenvertretern zupaß. Und sie ist populär, denn primitives Kostenstellendenken ist hierzulande genau so Massenerscheinung wie Sozialneid. ("Ich muß für meine paar Kröten ohne Ende malochen, und die da kriegen fürs faul Rumsitzen fast dasselbe" - die Aussagen Strucks und Becks ziehen genau auf dieses Klientel, so wie Müllers Arbeitsdienstidee bei autoritär gestrickten Kleinbürgern gut ankommen dürfte.)

Ärgerlich - und bezeichnend - ist auch die Berichterstattung über den Ombudsratbericht in den Medien. Die Erkenntnisse des Ombudsrates im Bezug auf den angeblichen Missbrauch beim ALG II scheinen eher totgeschwiegen zu werden. Man findet im Internet hauptsächlich gekürzte Artikel, in denen zwar das Kompetenzwirrwarr bei den ARGEs ausführlich behandelt wird, aber Informationen über den geringen Umfang des ALG II Missbrauchs fehlen.
Das ruft natürlich Verschwörungstheorien auf den Plan:
Es scheint so, als wäre einigen Menschen daran gelegen die Tatsache, daß der Missbrauch beim ALG II eben nicht wie von einigen behauptet katastrophal hoch ist, möglichst totzuschweigen. Diese Menschen scheinen über solch große Macht zu verfügen, daß die gängigen Onlinemedien am heutigen Tage nicht mehr darüber berichten.
(auf indimedia).
In solchen Fällen gilt die Faustregel:
Versuche nie durch Konspiration zu erklären, was auf Chaos oder Inkompetenz zurückgeführt werden muss. (J.Joffe)
Die Legende vom massenhaften ALG II Missbrauch paßt sehr gut zum allgemein boulevardisierten Journalimus - dem Drang, spannende Unterhaltung auch dort zu liefern, wo sie nicht hingehört, dem Zwang zur Kürze und Vereinfachung, dem Hang, Themen zu personalisieren, und der Neigung, die Vorurteile der Zuschauer und Leser zu bestätigen. Rechnet man den tatsächlichen Einfluß von Lobbyisten, Seilschaften und Parteienfilz hinzu, überrascht es nicht, dass die Schmarotzerlegende von "Stern" bis "Bild", von "Christiansen" bis "taff" so verbreitet ist.

Nun verpaßt der Bericht des Ombudsrates nicht nur Politikern, sondern auch vielen, sehr vielen, Journalisten eine schallende Ohrfeige: "Ihr habt die ganze Zeit Unsinn verbreitet". Es überrascht mich nicht, dass diese peinliche Tatsache gern vertuscht wird. Zumal sich mit Stories über Sozialschmarotzer so schön Auflage und Quote machen läßt.

Donnerstag, 22. Juni 2006

"Ich habe meine Zweifel, ob die Selbstkontrolle funktioniert"

meint Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann. Ich habe meine Zweifel, ob der Realitätssinn Uwe Schünemanns funktioniert.

Jedenfalls nach dem ich diesen Artikel von Jens Scholz im "Gamesblog" gelesen hatte: "Ich habe meine Zweifel, ob die Selbstkontrolle funktioniert"

Der Realitätssinn des Herrn Innenminister arbeitet nämlich etwa so: die Verbotsregelungen für "Killerspiele" müssen verschärft werden und die Zuständigkeiten dafür irgendwie geändert werden. Die wissenschaftliche Diskussion darüber, ob "Killerspiele" langfristige Auswirkungen auf das Verhalten von Jugendlichen haben, kann er nicht nachvollziehen. (Die ist auch überflüssig denn wer so was spielt, läuft irgendwann mal mit der Pumpgun Amok, das versteht sich von selbst - und wer das anders sieht, ist entweder spielsüchtig oder Mitglied der Killerspiele-Mafia. Jedenfalls kenne ich eine ältere Frau aus dem Waschhaus, die felsenfest davon überzeugt ist. Sie glaubt übrigens auch, dass die US-Regierung von Außerirdischen unterwandert ist. Letzteres glaubt Uwe Schünemann vermutlich nicht.)
Die Ansicht, dass die USK ihre Arbeit nicht tut, untermauert Schünemann quantitativ: Seiner Ansicht nach stuft das Kontrollgremium einfach nicht genügend Spiele als nicht für Jugendliche geeignet ein und macht sich damit unglaubwürdig. Die Selbstkontroll-Organisation habe bislang 3500 Spiele geprüft und dabei nur die Verbreitung von 23 untersagt.
Frappierende Logik. Das wäre so, als ob Lebensmittelprüfer bei 3500 Proben nur in 23 Fällen Pestizidrückstände entdeckt hätten, und man den Kontrolleuren deshalb schlechte Arbeit vorwerfen würde - weil man ja weiß, dass "überall Pestizide drin sind". Davon abgesehen stimmen noch nicht mal die Zahlen:
Die USK-Vorsitzende Christine Schulz nennt folgende Zahlen: Geprüft wurden mehr als 15.000 Spiele, davon haben 91 "keine Kennzeichnung" erhalten, letztes Jahr waren es 40.
Erschreckend. Es gibt offenbar gar nicht so viele "Killerspiele". Da müssen doch dringend die Maßstäbe verschärft werden, damit auch genügend Spiele zum öffentlichkeitswirksamen Verbieten zusammenkommen. Außerdem wird es wirklich Zeit, diese brutalisierenden Wasser-Pump-Guns, verharmlosend "Soaker" genannt, unter das Kriegswaffenkontrollgesetz zu stellen.

Mittwoch, 14. Juni 2006

Sommerloch? Sonnenstich? Nein, ein leider folgerichtiger Vorschlag!

Wie ich es nicht anders erwartet hatte, kommen im Windschatten der WM gausliche politische Ideen ans Tageslicht. Es ist sicherlich nicht originell, aber es gibt Themen, die kann ich nicht ignorieren. Auch wenn "Me too"-Artikel eine Plage sind.

Das hier ist hoffentlich ein Fall von Sonnenstich oder Hitzekoller, aber ich fürchte, Stefan Müller (CSU) meint das Ernst:
Alle arbeitsfähigen Langzeitarbeitslosen müssen sich dann jeden Morgen bei einer Behörde zum 'Gemeinschaftsdienst' melden und werden dort zu regelmäßiger, gemeinnütziger Arbeit eingeteilt - acht Stunden pro Tag, von Montag bis Freitag.
Netzeitung: CSU fordert Arbeitsdienst für Arbeitslose

Wobei die als Argument bemühte "Kostenexplosion" ebenso virtuell ist wie das "Millionenheer arbeitsscheuer Sozialschmarotzer":
Wie mehrere Fachleute und auch Bundesarbeitsminister Franz Müntefering (SPD) klar stellten, gibt es aber keine Kostenexplosion. Die Grünen-Arbeitsmarktexpertin Thea Dückert erklärte in der Netzeitung, die Kosten für Hartz IV lägen lediglich deutlich über den Planzahlen, die viel zu positiv gewesen seien. Laut Müntefering fallen die Ausgaben in diesem Jahr nur um vier bis fünf Prozent höher aus als im Vorjahr. «Es hat keine explosionsartigen Veränderungen gegeben.» (nz)
Ein "Reichsarbeitsdienst" ist allerdings leider folgerichtig, wenn man die einseitig betriebswirtschaftliche Sicht der Volkswirtschaft (!), den ausgeprägten Etaismus der Parteien der großen Koalition und das tief, tief verwurzelte autoritäre Denken nicht nur des rechten Unionsflügels berücksichtigt. Und den fatalen deutschen Hang, die Probleme von heute, wenn die Mittel von gestern versagt haben, mit Mitteln von vorgestern "lösen" zu wollen. Das Perfide - oder Strunzdumme - an Müller Vorschlag ist, dass die Zwangsbeschäftigten keine Gelegenheit mehr haben werden, sich ordentlich zu bewerben. Jedenfalls wäre der viel beschworenen Eigeninitiative, sich selbst einen passenden und guten Job zu suchen, wirksam ein Riegel vorgeschoben. Denn effektive Arbeitsplatzsuche ist, auch mangels Förderung durch die BA, faktisch ein Vollzeitjob.

Der "Bild" Titel, unter dem das Müller-Interview erschien, stimmt: "Erster Politiker fordert Arbeitsdienst für Arbeitslose". Es werden ihm weitere folgen. Mit hahnebüchenden Vorschlägen. Die nach diesem Hammer dann halbwegs vernünftig klingen werden. Das ist folgerichtig.

Zur Zeit der 1. "großen Koalition", 1966, schrieb der Philosoph Karl Jaspers seinen Bestseller (jedenfalls für ein politisch-philosophisches Buch war's einer): "Wohin treibt die Bundesrepublik?" - Antwort: "In einen Diktaturstaat". Es kam zum Glück anders. Aber ich vermute, dass zur Zeit der 2. "großen Koalition" dieser Gefahr wieder real geworden ist. Jaspers sah die junge Demokratie zum Spielball der großen Parteien werden und die politische Emanzipation der Deutschen bedroht. Wir haben wieder eine vergleichbare Situation.

Eine amüsante und treffende Polemik aus der linken Ecke - denn mir ist bei diesem Thema nicht zum Witzemachen zumute:

Bundesarbeitsdienst - mit Spaten und Ähren


Ich vermute, die Beste und sozialverträglichste Lösung für Typen wie mich ist die freiwillige Selbsteuthanisierung. Niemandem zur Last fallen, schon gar nicht der gebeutelten deutschen Volksgemeinschaft.

Mittwoch, 7. Juni 2006

Vor 25 Jahren - 50 Sekunden über Bagdad

Manchmal gibt es tatsächlich Millitäraktionen, die ich für gerechtfertigt halte. Es sind wenige, aber es gibt sie.
Tatsächlich gibt es sogar einige ganz wenige militärische Angriffe, die ich richtig Klasse finde.
Einer fand heute vor 25 Jahren statt. Der im Bau befindliche irakische Atomreaktor Osirak wurde durch einen israelischen Lufangriff zerstört. Rolf Behrens beschreibt in der "Luftwaffen Revue" wie es zu den "50 Sekunden über Bagdad" kam:
(Auf Sprit of Entebbe: Sonntagslektüre)

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