Donnerstag, 11. August 2011

Sieben Gedankensplitter über die Hochkultur

Es ist schon eine Weile her, dass Georg Diez auf SPON Sieben Wahrheiten über die Hochkultur zum Besten gab, unter anderem als Antwort auf einen meines Erachtens sehr lesenswerten Artikel der "Zeit":
Hoch die Hochkultur! von Jens Jessen.

Tendenziell bin ich eher bei Jessen als bei Diez, obwohl ich Diez manchmal recht geben muss. Jedenfalls auf den ersten Blick.
Wie es manchmal so geht, wenn ich keine schnelle Antwort geben kann, dauerte es Wochen, bis mir Diez "Sieben Wahrheiten über die Hochkultur wieder in den Sinn kamen. Was allerdings nicht weiter schlimm ist, denn das Thema ist nicht tagesaktuell.

1. Es ist in Deutschland leider üblich, von "Kultur" zu sprechen, wenn eigentlich "Kunst" gemeint ist. Das macht es so schwierig, über "Hochkultur" zu reden.
Zur Kultur gehören außer den ("schönen") Künsten (bildende Künste, Musik, Dichtung usw.) bekanntlich auch Wissensschaft, Technik, Recht, Moral, Religion, Wirtschaft und manches mehr - im weitesten Sinne: alles, was Menschen schaffen. (Die für Deutschland früher so typische Unterscheidung zwischen "Kultur" und "Zivilisation" halte ich für überflüssig. Fast immer sind "Kultur" und "Zivilisation" Synonyme und die Ausnahmen sind fachsprachlich - z. B. wenn in der Archäologie von der "Hallstadt-Kultur" die Rede ist.)
Enger gefasst umfasst "Kultur" außer Kunst vor allem die Bildung.
Während es ziemlich müßig wäre, über die Kriterien zu debattieren, welche eine "Hochkunst" ausmachen, erscheint mir eine Debatte über "höhere Bildung" ziemlich sinnvoll zu sein.
Ich verstehe unter "höherer Bildung" nicht einfach die Bildung, die man an einer Hochschule erwirbt - schon, weil die meisten Studiengänge eher auf die Berufsausbildung gerichtet sind. Ich verstehe darunter vielmehr jene Bildung, die über die "Grundbildung" (tatsächlich das, was man in der Grundschule - hoffentlich - lernt) und die "Berufsbildung" (oder besser: Ausbildung) hinaus geht. Jene Bildung, die es einem ermöglicht, über den Horizont der eigenen "Alltagskultur" heraus zu sehen, etwa fachübergreifende Zusammenhänge zu erkennen oder fremde Kulturen zu verstehen.

2. Diez hat recht, Hochkultur ist ein Konstrukt. Trotzdem ist es sinnvoll, von Hochkultur zu reden.
Hochkultur ist, so sehe ich es, eine Kultur, die einen hohen Anspruch an sich selbst stellt. In der Kunst kann das der Anspruch des Künstlers sein, ein herausragendes Werk zu schaffen, etwa einen inhaltlich anspruchsvollen Roman, der noch in 100 Jahren gelesen und allgemein geschätzt werden wird. In der Bildung kann es der Anspruch einer Hochschule sein, nicht nur "Durchlauferhitzer für Karrieren" sein zu wollen. "Hochkultur" gibt es auch im Alltag: Man kann sehr gebildet, aber höchst unkultiviert sein. Es ist sogar möglich, die Etikette und sämtliche ungeschriebenen Gesetze des "guten Benehmens" perfekt zu beherrschen - und trotzdem ein unkultivierter Klotz zu sein. Die Mindestvorraussetzung, um einen Menschen kultiviert (bzw. zivilisiert) zu nennen, ist, dass dieser Mensch rücksichtsvoll ist und überlegt handelt. Kommt ein waches, aufrichtiges Interesse und Verständnis für das Denken und Handeln der Mitmenschen, eine "höhere Bildung" im oben genannten Sinne und etwas, was ich mit einem leicht altmodischen, aber treffenden Begriff "Herzenbildung" nenne, hinzu, dann könnte man von einem "hochkultivierten" bzw. "hochzivilisierten" Menschen reden.

3. Wenn auch der Begriff "Hochkultur" nicht fragwürdig ist, müssen in der Tat die Kriterien, was zur Hochkultur gehört, und was "schnöde" Alltags-, Gebrauchs- oder Popkultur ist, hinterfragt werden.
Sie müssen, denke ich, sogar immer wieder immer aufs Neue, hinterfragt werden. Mag sein, dass es einige "ewig gültige" Werke und Bildungsinhalte gibt. Aber die "Klassische Musik" von heute war zum ganz überwiegenden Teil, als sie komponiert wurde, "schnöde" "Gebrauchsmusik". Meiner Ansicht nach gehört ein solides Grundwissen über Evolutionsbiologie zum notwendigen Kanon einer modernen höheren Bildung - was im 19. Jahrhundert nicht der Fall gewesen wäre.

4. Ältere Werke und Bildungsinhalte werden eher zur Kanon der Hochkultur gezählt als neue. Das liegt nicht allein daran, dass so die "Hüter der Hochkultur" konservativ wären.
Es gibt so etwas wie einen "Test der Zeit". Besonders deutlich wird das in der Musik: Wenn ein bestimmtes Lied über Jahre hinweg beliebt bleibt, ein "Evergreen" ist, und es vielleicht sogar über kulturelle Grenzen hinweg beliebt bleibt, dann ist es ein "Klassiker", gehört es zum "kulturellen Erbe den Menschheit", auch wenn es ursprünglich nur eine beim Rühreibraten dahingesummte Melodie war. Ob ein neues Werk, oder eine neue wissenschaftliche Erkenntnis, oder eine neue Unterrichtsform usw. das Zeug zu einem "Klassiker" hat, das kann alleine die Zeit erweisen.
Qualität setzt sich nicht automatisch durch, ist aber sehr hilfreich, um dem Vergessen zu entgehen.

5. Hochkultur ist Kapitalismuskritik
Da gebe ich Dietz recht. Aber das Hochkultur Kapitalismuskritik ist, ist auch gut so. Es ist, denke ich, bitter notwendig, bei kostspieligen "Events" auch nach dem inhaltlichen Niveau zu fragen. Wo dann in der Tat die überkommenen Einrichtungen der "Hochkultur", angefangen beim städtischen Theater oder dem örtlichen Kammerchor - aber auch, auf der mehr popkulturellen Ebene, z. B. kleine, aber gut etablierte Live-Musikclubs, die Vergleichsmaßstäbe liefern.
Es ist auch notwendig, "Eliteuniversitäten" darauf abzuklopfen, ob sie mehr können, als "hocheffiziente" Fachidioten heranzuziehen - der Kanon der "höheren Bildung" gibt den Vergleichsmaßstab.
Dietz behautet einfach Unsinn, wenn er meint, mit den Hochkulturbegriff würden wesentliche Teile der Kultur des 20. Jahrhunderts auf den Müll geworfen werden, weil Hollywood und die Beatles ja zum Beispiel keine Subventionen erhalten haben.
Wenn z. B. moderne Kunst, die sich "am Markt" nicht durchsetzt, subventioniert wird, führt das nicht automatisch dazu, dass diese Kunst in den Kanon der "Hochkultur" aufgenommen wird. Das ist ja gar nicht Sinn der Subvention, sondern eine nicht allein auf "Marktkonformität" gebürstete Kunst möglich zu machen.
Umgekehrt kann auch Kunst, die sich gut verkauft, hohen kulturellen Wert besitzen.

6. Hochkultur ist korrupt
Da hat Diez leider recht, allerdings anders, als er meint. Wenn, um bei Diezens Beispiel zu bleiben, der Münchner Intendanten Dieter Dorn nach seinem Abtreten hoch gelobt wird und über jede Kritik erhaben scheint, so liegt das an dem Ruf, den er sich im Laufe der Jahre, wenn auch wohl nicht mit jeder Inszenierung, erarbeitet hat. Sein Prestige ist mittlerweile so groß, dass Schwächen einfach nicht mehr gesehen werden.
Der Literaturkanon etwa wird regelmäßig durch den Prestigewert korrumpiert. Thomas Mann z. B. genießt einen hohen so Prestigewert, dass über seine unübersehbaren stilistischen Schwächen kaum geredet wird.
Und der schlechte Prestigewert der Naturwissenschaften verhindert, dass sie dergestalt in den "höheren Bildungskanon" aufgenommen werden, wie es meiner Ansicht nach erforderlich wäre.

7. Es ist wahr, dass es letztlich ist es nur ein winziger Teil der Bevölkerung ist, der von der Kultursubventionierung profitiert.
Es stimmt auch, dass diese "kulturelle Elite" zum beträchtlichen Teil zum eher wohlhabenden Teil der Gesellschaft gehört.
Aber das ist kein Grund, alle Kultursubventionen zu streichen. (Zur Erinnerung: auch die Bildung gehört zur Kultur!)
Gäbe es diese Subventionen nicht, wären Plätze in der Oper (das typische, gern genommen Beispiel) für "arme Schlucker" wie mich völlig unfinanzierbar. Nur wenige Museen sind in der Lage, sich allein aus Eintrittsgeldern und Stiftungen (auch eine Form der Subventionierung - wenn auch eine privat finanzierte) zu erhalten. Gäbe es nur noch private Universitäten, womöglich sogar ohne Stipendien für begabte, aber arme, Studenten (auch eine Form der Subvention!), dann wäre "höhere Bildung" Privileg einer kleinen wohlhabenden bis reichen Elite.
Reden kann man gerne darüber, was und wie gefördert wird. Aber das gefördert werden sollte, steht für mich nicht zur Debatte.
Übrigens: Manchmal sind gute Rahmenbedingen viel mehr Wert als bares Geld!

Donnerstag, 4. August 2011

Gedanken über Visionen

Karl Urban bloggt Wenn keiner mehr an Visionen glaubt.

Ich stimme Karl darin zu, dass Visionen etwas tolles sind, und auch die Gründe, die er dafür angibt, kann ich nachvollziehen:
1. Sie geben ein technisches oder gesellschaftliches Leitbild vor, an dem sich viele orientieren.
2. Sie beanspruchen mit einer für uns alle besseren Welt aufzuwarten, ohne Leid, Unrecht, Krieg, Atommüll oder Volksmusik.
3. Visionen brauchen keine Machbarkeitsstudie! Sie geben ein Idealbild vor, das gar nicht zwingend erreichbar sein muss. - Es muss lediglich den Anschein erwecken, man könne irgendwann dorthin gelangen.
Ich kommentiere diesen Beitrag nicht - den Kommentar, den ich schreiben wollte, hat Lars Fischer nämlich längst gemacht, und zwar prägnanter formuliert, als ich es getan hätte:
Unsere Gesellschaft will keine Zukunft, weil sie Angst vor ihr hat. Und deswegen hat sie auch keine.
Wobei zu ergänzen wäre, dass "unsere Gesellschaft" sich auf die "Entscheider" und "Meinungsmacher" in Politik, Wirtschaft und Journalismus bezieht. Die von Lars genannte Angst vor dem Internet ist nur ein Beispiel von vielen für diesen angstgetriebenen Konservatismus.

Ich nehme Kais Blogbeitrag statt dessen zum Anlass für ein paar Gedanken über Visionen. Nicht zum ersten Mal: "V" for "Vision"

Was sind "Visionen"? In diesem Kontext: "Innere Bilder", Vorstellungen, wie es sein könnte, Leitbilder.
Abzugrenzen von "Wunschträumen", die nicht einmal den Anschein erwecken, erreichbar zu sein, und von "Utopien" als ausgearbeitete Entwürfe von Gesellschaften, in denen Visionen verwirklicht wurden. (Oder, im Falle der "negativen Utopien", der Dystopien, als ausgearbeitete Entwürfe von Gesellschaften, in denen Befürchtungen wahr geworden sind.)

Utopien haben, wie Visionen, ihren Sinn. Solange jedenfalls sie nicht ins utopische Denken umschlagen. Utopisches Denken ist brandgefährlich, da es immer einen Zug ins Totalitäre hat. (Da bin ich voll und ganz bei Karl Popper.) "Utopisches Denken" ist die Vorstellung, die gesellschaftliche bzw. politische Zukunft planen zu können, ein Generalplan für eine perfekte Gesellschaft, mit der Vorstellung, dass sich alle nur bis ins Detail daran halten müssten, damit alles alles gut würde. Damit Utopien ins utopische Denken umschlagen, müssen zwei Dinge zur Utopie hinzukommen: eine Ideologie (am "besten" eine mit Unfehlbarkeitsanspruch) und die Vorstellung, die Utopie sei ohne Weiteres realisierbar, also eine "konkrete Utopie". Utopisches Denken (in diesem Sinne) ist Wunschdenken plus ideologischem Aktionismus und sollte nicht verwechselt werden mit dem Durchdenken von Alternativen, das mitunter auch "utopisches Denken" genannt wird.

Visionäre können mitunter lästig werden, vor allem dann, wenn wir ihre Visionen nicht teilen. Noch lästiger sind Pseudo-Visionäre, vor allem in der Politik, die jede politische Zielsetzung gleich zur "Zukunftsvision" aufblasen. Auf eine innerparteiliche Grundsatzdebatte in der SPD reagierte der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt 1980 mit seinem gern missverstandenen sarkastischen Kommentar (auch ich hatte ihn missverstanden):
Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen.
Dieser Spruch zielte, laut Schmidt, nicht, wie oft zu lesen ist (und wie ich in "V for Vision" irrtümlich annahm) auf den "politischen Visionär" und Amtsvorgänger Schmidts, Willy Brand, ab. Der knochenharte Pragmatiker Schmidt störte sich vielmehr am inflationären Gebrauch von Wörtern wie "Vision" oder "visionär" und erinnerte daran, dass "Vision" auch Sinnestäuschung bedeuten kann.
Ich kann Schmidt in dieser Hinsicht gut verstehen, auch wenn mir so manches an der schmidtschen Realpolitik und ihren bis heute spürbaren Auswirkungen nicht gefällt.
Einer der Gründe, wieso "keiner mehr an Visionen glaubt", dürfte der inflationäre Gebrauch des Begriffes sein. Manchmal ist "Vision" geradezu ein Euphemismus für "leeres Versprechen" oder "wage Hoffnung".

Ja, und dann gibt es noch die Vision in der ursprünglichen, der religiösen oder besser vielleicht spirituellen Bedeutung.
Ich gebe zu: ich kenne so etwas aus eigener Erfahrung. Nicht nur das: ich suche absichtlich und bewusst nach Visionen.
Sicherlich kann man "Gesichter" oder "Erscheinungen" als Trugwahrnehmung bzw. (Pseudo-)Halluzination hinweg rationalisieren. Anderseits erwiesen sich so viele meiner Visionen als bedeutsam, dass die durchaus plausible Hypothese, da würde mir bloß irgend ein Teil meines Gehirn einen Streich spielen, mich nicht so recht überzeugen vermag. Eher überzeugt mich schon die Jungsche Archetypenlehre, bei all ihren Unzulänglichkeiten.

Eine brauchbare Umschreibung für solche Vorgänge stammt von Daniel Pinchbeck (neuerdings wegen des Films 2012 Time for Chance im Gespräch). Pinchbeck stellt sich das Gehirn wie eine Art Radio vor. Von den vielen Informationen, die unser Gehirn erreichen, kommt nur der Teil in unserem Bewusstsein an, der der "eingestellten Frequenz" entspricht (bitte nicht im Sinne der berüchtigten "Schwingungsebenen" bestimmter "Eso-Leuchten" verstehen, alles ist nur eine Metapher für die komplexen Vorgänge, die in unserem Denkapparat ablaufen).Normalerweise empfangen wir den Sender "Konsensrealität" bzw. "Alltägliche Wirklichkeit" - vergleichbar mit einem regionalen Musik- und Informationssender (aber einem, den praktisch jeder hört).
Psychodelische, d. h. bewusstseinserweiternde, Drogen ersetzen laut Pinchbeck das Serotonin und andere Neurotransmitter durch Psilocybin, Ibogain, Dimethyltriptamin usw. und verstellen damit den "Empfänger". Auf einmal bekommt man völlig neue "Sender" hinein, die das Gegenstück zu avantgardistischem Jazz oder tibetischer Folklore bringen - oder Informationsender, die uns Dinge wissen lassen, die uns normalerweise entgehen.
Der entscheidende Punkt dabei ist, dass das Denken und Empfinden mehr oder minder unbeeinflusst bleibt. Das Bewusstsein ist hellwach. Das unterscheidet die Wirkungen psychedelischer Drogen z. B. von der von Alkohol oder Heroin.

Meiner Erfahrung nach lässt sich auch ohne Drogen ein "anderes Programm" einstellen - etwa durch schamanistische Techniken (wobei Schamanismus und Drogengebrauch keine Gegensätze sind).

Das Wort "verrückt" als umgangssprachliche Bezeichnung für "psychotisch" trifft in Pinchbecks Metapher unerwartet genau zu: in einer Psychose ist der "Empfänger" sozusagen dauerhaft verstellt - "Radio Alltägliche Wirkllichkeit" bekommt man einfach nicht mehr rein. Drogeninduzierte Psychosen, "auf dem Trip hängenbleiben", wären in diesem Bild etwa so, dass der "Regler" am "Empfänger" mit so viel Kraft verstellt wurde, dass er sich verklemmt hat. Wenn der "Empfänger" sowieso schon wackelig ist (latente Psychose) kann selbst eine "weiche Droge" wie THC (Hauptwirkstoff im Haschisch) "verrückt machen".

Ich will das Bild nicht überstrapazieren, etwa durch mehr oder weniger geistreiche Wortspiele mit "Vision" und "Television". Es dürfte aber etwas klarer geworden sein, wieso Visionen nicht immer und nicht zwangsläufig Irrsinn oder Trugbild sind. (Aber manchmal sind sie es eben doch!)
Allerdings darf, entgegen dem, was vor allem in der zeitgenössischen Esoterik und von manchen religiösen Mystikern gelehrt wird, der kritische Verstand nicht völlig vernachlässigt werden. Es könnte ja sein, dass der tolle Sender, auf dem wir ungeahnte neue Informationen empfangen, ein Propagandasender ist. Oder - anderes Bild - wir im "spirituellen Internet" auf eine "Verschwörungstheoretikerseite" gestoßen sind.
Oder dass die Informationen vielleicht richtig und wichtig sind, aber uns schlicht überfordern - so, wie ein Grundschüler mit einem langen Text aus der "Wikipedia" überfordert wäre.

Donnerstag, 21. Juli 2011

Der Sarrazin und der Brotberuf

Rüdiger Suchsland ist mir als jener Filmkritiker bekannt ist, der nur selten Filme ähnlich beurteilt, wie ich sie beurteilen würde. Tatsächlich habe ich sehr oft, wenn Suchsland einen Film bespricht, den auch ich sah, den Eindruck, dass er einen ganz anderen Film mit dem zufällig dem selben Titel gesehen haben muss.

Auf "telepolis" bespricht er dieses Mal keinen Film, sondern ein ziemlich umstrittenes zivilisationskritisches Buch. Wobei ich mich nicht zu dem Buch "Echtleben" von Katja Kullmann äußern möchte, da ich es bisher nicht gelesen habe, und Suchsland-Kritiken grundsätzlich ein gewisses Misstrauen entgegenbringe.

Was mich zum in den letzten Wochen (für meine Verhältnisse) arg vernachlässigtem Bloggen brachte, war aber nicht "Echtleben" oder das, von dem Suchsland behauptet, dass es in diesem Buch stünde. Es war ein zitierter Kommentar zu diesem Buch von niemandem anders als Dr. Thilo Sarrazin, Berlin.
In diesem Weltbild wird unterstellt, das System enthalte den quasi willkürlich den gerechten Lohn für die Arbeit ihrer kreativen Köpfe vor, und es sei empörend, dass der Realschulabschluss eines Provinzlers sich mitunter besser auszahlt als das Studium eines Geisteswissenschaftlers. Rührend naiv mutet die Klage an ...

Wäre ich als Abiturient 1965 meinen damaligen Neigungen gefolgt, wäre ich Fotograf geworden oder hätte Geschichte und Germanistik studiert. Ich wollte aber weder Lehrer werden noch als Hungerleider in einer Provinzredaktion enden, und darum wählte ich einen Brotberuf. Wer mit wachen Augen in die Welt schaut, weiß auch schon als Abiturient, dass das Geld dort verdient wird, wo kaufkräftige Nachfrage auf ein knappes Angebot stößt.
Wäre ich als Abiturient 1982 meinen damaligen Neigungen gefolgt, wäre ich Illustrationsgraphiker geworden oder hätte Meeresbiologie oder Geschichte studiert. Da ich aber schon als Abiturient mit wachen Augen in die Welt schaute, und wusste, dass dort das Geld verdient wird, wo kaufkräftige Nachfrage auf ein knappes Angebot stößt, entschied ich mich für einen Brotberuf und studierte Chemieingenieurwesen. Nach einen Studienabbruch wusste ich dann auch, wieso das Angebot an Chemieingenieuren so knapp war: es hatte mit der zumindest damals sagenhaft hohen Abbrecherquote in diesem Studiengang zu tun. Oder anders ausgedrückt: dieses Studium und verwandte Studiengänge waren eben mehr als ein Studium auf einen gut bezahlten Brotberuf, sondern solche, die tief gehendes Interesse, echte Begabung und sehr viel Fleiß erforderten - was dann auch das damals recht gute Gehalt eines Chemie- , Bio- oder Medizintechnik-Ingenieurs voll und ganz rechtfertigte. Kein Studium für Dünnbrettbohrer und Leute, denen es im Beruf in erster Linie auf die Bezahlung und dann erst mal lange nichts ankommt! (Die studierten damals BWL bzw. blockierten die BWL-Studienplätze, so dass viele, die sich wirklich für BWL interessierten und vielleicht tatsächlich gute Betriebswirte geworden wären, lieber etwas anderes machten.)
Also ergriff ich den Brotberuf eines IT-Kaufmanns. Aber das ist eine andere Geschichte.

Dass heißt, dass ich Thilo Sarrazin in dieser Hinsicht recht geben muss. In anderer Hinsicht nicht: auch aus Geschichte, Meeresbiologie oder Illustrationsgraphik, selbst aus Philosophie lässt sich eine gute Karriere machen - wenn man wirklich 100% hinter dieser Berufswahl steht, auch wenn die Ausbildung sehr viel abverlangt, wenn man in den gewählten Beruf gut ist, und vor allem: wenn der Blick auf das Einkommen zwar wichtig, aber nicht entscheidend ist.
Wenn tüchtige Germanisten und Historiker, Politologen und Soziologen, Schriftsteller und Journalisten im Vergleich zu anderen Berufen, die deutlich weniger anspruchsvoll sind, was Ausbildung, Arbeitseinsatz, Zeitaufwand und erforderliches Talent angeht, schlecht bezahlt werden, dann mag das zum Teil tatsächlich an einem "Überangebot" von, sagen wir mal, Journalisten, liegen. (Das ist übrigens der einzige der aufgezählten Berufe, in denen es meiner Ansicht nach tatsächlich so etwas wie ein "Überangebot" gibt.)
Es kann mir aber niemand erzählen, dass gut bezahlte Jobs tatsächlich immer Jobs sind, für die die Leute, die sie ausüben könnten, wirklich knapp sind. Es gibt sogar lausig bezahlte Mangelberufe, etwa in den Pflegeberufen.

Tatsächlich hat es nicht immer mit Qualifikation und Tüchtigkeit zu tun, mit wem ein gut dotierter Job besetzt wird oder, bei freien Berufen, welche Dienstleistung gut bezahlt wird. Dafür umso mehr mit etwas, was Marxisten "Klassengesellschaft" nennen: Herkunft ("Stallgeruch") und die "richtigen" Beziehungen sind in vielen Berufen leider entscheidend. Ein "Arbeiterkind", das Ingenieur wird, wird vielleicht noch mit einem guten Abschluss vergleichbare berufliche Chancen wie ein Akademikerkind mit vergleichbarem Abschluss haben - wenn auch nicht in allen Unternehmen. Bei anderen Ausbildungen und Studiengängen ist die Chancengleichheit illusionär.

Illusionär ist auch die Vorstellung, mit einem "guten Brotberuf" wäre es getan. Fast niemand, mit dem ich näher befreundet, arbeitet heute in genau jenem Beruf, für den er oder sie sich einst, als Schulabgänger oder Schulabgängerin, entschieden hatte. Wenn ein Berufswechseln im späteren Leben ohnehin wahrscheinlich ist - wieso dann nicht den einfach den Erstberuf ergreifen, der einem am meisten Spaß bringt?
Aber von "Spaß" und "innere Motivation" oder gar "Inspiration", "Berufung, "Talent" haben die Sarrazins dieser Welt, die arroganten selbsternannten Pflichtmenschen mit dem ökonomischen Tunnelblick auf die Welt, eben nicht viel Ahnung!

Donnerstag, 14. Juli 2011

Space Shuttle Reflexionen

(WARNUNG! Alte Männer erzählen von von früher!)

Ein wenig wehmütig war mir schon zumute, als STS-135 mit dem Orbiter ATLANTIS zum letzten Flug eines "Space Shuttles" abhob.

Wie war das, damals, als am 12. April 1981 (auf den Tag genau 20 Jahre nach dem ersten bemannten Raumflug) STS-1 mit dem Orbiter COLUMBIA startete? Der Start war ursprünglich nicht genau zum 20. Jubiläum von Gagarins historischem Flug nicht geplant. Ein sinnvoller Zufall.

Ich war damals schon Raumfahrtenthusiast. Und ich verfolgte den ersten Start mit Begeisterung mit. Einfach gigantisch, ein Sinnbild an Kraft und Eleganz!

Über den Start würde übrigens im Fernsehen und in der Presse in einem Umfang berichtet wurde, den es seit den Apollo-Mondflügen nicht mehr gegeben hatte, und der heute kaum noch vorstellbar ist - ein Medien-Ereignis wie ein Fußball-Länderspiel (der Männer).
Aber schon damals gab es für mich eine andere Seite.
Anders als andere Raumfahrtenthusiasten meines Alters war ich aber nicht davon überzeugt, dass mit dem Shuttle nun die große Raumfahrt-Ära der Menschheit angebrochen wäre. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass dem Shuttle zunächst das "richtige Ziel" fehlte. Für mich gehörten Raumtransporter und Raumstationen einfach zusammen, oder genauer gesagt: der Space Shuttle war großartig geeignet, Raumstationen aufzubauen und zu versorgen. Was in den 90er Jahren im Shuttle-MIR-Programm bewiesen wurde, und die ISS gäbe es ohne Space Shuttles überhaupt nicht.
Alles, was der Shuttle sonst noch konnte, konnte, das wusste ich, auf andere Art und Weise - mit unbemannten Trägerraketen oder mit bemannten Raumkapseln - preisgünstiger erledigt werden.
Nur eine Fähigkeit zeichnete den Shuttle nach dem Stand von 1981 aus: er konnte Satelliten "einfangen" und zur Erde zurück bringen. Das machte ihn für die us-amerikanischen Geheimdienste und für das US-Militär interessant - man brauchte sich nicht mehr auf die Rückkehrkapseln der großen Spionagesatelliten zu verlassen. Es ist übrigens kein Zufall, dass das Weltraumteleskop Hubble technisch sehr viel mit den damals modernsten Spionagesatelliten gemeinsam hat: Wissenschaft als Zweitverwertung militärischer bzw. geheimdienstlicher Hardware, als "Kollateralnutzen". Und genau dazu wurde der Shuttle, auch nachdem die Pläne für eine US-Raumstation auf Eis gelegt worden waren, gebaut.
Kein Wunder also, dass man in der Friedensbewegung der 1980er Jahre wenig von der Raumfahrt im Allgemeinen und von dem Shuttle-Programm im Besonderen noch weniger bis gar nichts hielt.
(Was mich einige Jahre später in ein moralisches Dilemma stürzte: viele pazifistischen Argumente gegen das Shuttle waren stichhaltig. Nicht alle, aber viele. Die Gegner des bemannten Raumfahrtprogramms hatten eindeutig die besseren Argumente. Anderseits war ich Raumfahrt-Enthusiast.)
Von den Versprechungen in Richtung "Kostenersparnis" und "Flüge alle 14 Tage" hielt ich damals nichts. Ich schrieb damals, in einem Mini-Fanzine, wörtlich: "Die NASA kann mehr als froh sein, wenn sie 10 Starts im Jahr schafft". In der Praxis schaffte sie das auch nur ein Mal in 30 Jahren.
Mein Vater meinte übrigens damals: "Das ist ein Riesen-Ding. Kein Wunder, dass die Russen Angst haben."
Ich weiß nicht, was ich antwortete, dem Sinne nach wohl etwas in der Art wie: "Sie werden wohl ihren eigenen bauen". Was dann auch geschah.

Trotzdem: der Shuttle ist eine großartige Maschine, trotz auch zweier tödlicher Unfälle, und mit der ISS hatte er endlich auch seinen Sinn und Zweck gefunden, lange, nachdem er seinen fragwürdigen Nutzen für Geheimdienste und Militär verloren hatte.

Nasa:Shuttlemissions

Mittwoch, 6. Juli 2011

Ist Rassismus das richtige Wort? Ja!

Wieder einmal hadere ich mit einem Artikel der "Zeit". Dieses Mal allerdings nicht wegen mangelhafter Recherche und Voreingenommenheit gegen Nicht-Mainstream-Religiöse, sondern weil die Autorin des Artikels "Deutschenfeindlichkeit" Rassismus ist das falsche Wort vieles (meiner Ansicht nach zutreffend) erkennt - und trotzdem zu einem seltsamen Schluss kommt.

Völlig mit Frau Dernbach stimme ich überein, wen sie ausspricht, was leider selten genug und deutlich genug ausgesprochen wird:
Rassismus ist eine auffallend selten verwendete Vokabel im deutschen politischen Wörterbuch. EU und UN haben mehrfach beklagt, dass der Begriff hierzulande auf Antisemitismus verengt werde, was es Behörden und Politik schwer mache, andere Formen von Rassismus zu erkennen und zu bekämpfen. Das Institut für Menschenrechte mahnte, etwa in der Sarrazin-Debatte, dass endlich über Rassismus zu reden sei und nicht nur den von rechtsaußen.
So weit, so gut. Aber:
Nun geschieht’s. Leider an der falschen Stelle. Rassismus war immer der Vorwurf der Unterdrückten an die Adresse der Unterdrücker, der Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse gegen deren Nutznießer. Er erzählt von Macht.
Und das stimmt eben nicht immer!
Der Rassismus ist die verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden seines Opfers, mit der seine Privilegien oder seine Aggressionen gerechtfertigt werden sollen.
(Rassismusdefinition nach Albert Memmi).

"Klassischer" Rassismus ist es, wenn Kultur, sozialer Status, Begabung und Charakter, Verhalten, usw. von Menschen einer bestimmten Gruppe als durch die erbbiologische Ausstattung bestimmt gelten. Analog gibt es den "Kulturrassismus" oder Kulturalismus, in dem an die Stelle des biologistischen Rassebegriffs eben die "Kultur" tritt.
Der Punkt ist, dass Eigenschaften verallgemeinert (z. B. nicht: "Einige Griechen sind korrupt" sondern: "Die Griechen sind korrupt") und verabsolutiert werden. (Die "Korruptheit der Griechen" wird zum Begriff erhoben, Bestechlichkeit und die Bereitschaft, zu bestechen, als kennzeichnende Eigenschaft "des Griechen" gesehen.)

Dann gibt es Rassisten, die ich an anderer Stelle "bescheidene Rassisten" nannte.
Ein "bescheidener Rassist" vermeidet es, die jeweils eigene Rasse als eine allen anderen überlegene Herrenrasse darzustellen. Oberflächlich betrachtet vermeidet er überhaupt die Wertung von Rassen. Er betont lediglich, dass es nun einmal rassische Unterschiede gäbe und verknüpft diese eng mit kulturellen Formen. Da er ethnische und rassische Minderheiten nicht zerstören will, hält ein "bescheidener Rassist" sich selbst nicht für einen Rassisten. Vielleicht nennt er sich "Ethnopluralist". Vielleicht befürwortet er sogar eine "radikale Multikulturalität"– als ausdrückliche Alternative zum "Melting Pot" und alles nivellierender "Multi-Kulti".

Entscheidend ist dabei, wie Memmi schreibt, und wie es der deutsch-jüdische Historiker Michael Wolffsson während einer Fernseh-Diskussion treffend sagte:
“Rassismus und Gewalt sind ein Wort!”
Das kann körperliche, verbale oder institutionelle Gewalt sein. (Ein Beispiel für "instutionelle Gewalt" ist der Umgang der EU mit Flüchtlingen.)

Rassismus lässt sich auch gegen Xenophobie / Fremdenfeindlichkeit abgrenzen: Ein Rassist beschränkt sich nicht darauf, zu sagen “Ich mag Dich nicht, weil Du anders bist”, sondern meint: “Ich bin etwas Besseres als Du, da Du die falschen Vorfahren hast”.

Schon daraus wird klar: Eine Tat aus Hass gegen "die" Deutschen kann mit Fug und Recht rassistisch genannt werden.

Frau Dernbach schreibt:
Dass Migranten in einer Machtposition gegenüber autochthonen Deutschen wären, würde wohl auch Ministerin Schröder nicht behaupten.
Das würde sie nicht behaupten, aber auch ohne Machtposition und ohne tatsächliche oder vermeintliche "Überlegenheit" kann jemand rassistisch sein!
Ich gebe ihr recht, wenn sie schreibt:
Der Kampfbegriff der Deutschenfeindlichkeit soll aber auch nicht Wirklichkeit beschreiben, sondern die Mehrheit moralisch entlasten.
Ich stimme ich aber nicht zu, wenn sie dann schreibt:
Wenn junge Türken, Kosovaren und Libanesen auch Rassisten sind, sind wir vielleicht gar nicht so schlimm?
Wenn Türken, Kosovaren und Libanesen Rassisten sind, dann sind sie auch dann Rassisten, wenn "wir" ihnen gegenüber Rassisten sind.
Im konkreten Fall verallgemeinerten die Täter tatsächliche oder fiktiven Unterschiede zum Schaden ihres Opfers, um ihre Aggression zu rechtfertigen.
Das ist Rassismus, auch dann, wenn ihr Rassismus vielleicht aus ihrer Lage als Minderheit in Deutschland heraus erklärbar, vielleicht sogar bis zu einem gewissen Grade entschuldbar ist!

Um es deutlich zu sagen: Sie rechtfertigt oder relativiert in ihrem Artikel keine Straftaten und sie setzt die Täter nicht moralisch ins Recht. Es stimmt leider auch, dass die deutsche Gesellschaft (als Konstrukt, der einzelne Deutsche und auch einzelnen Gruppe innerhalb dieser Gesellschaft können völlig anders denken) strukturell rassistisch ist und insbesondere bestimmte Einwanderergruppen und ihre Nachkommen benachteiligt.

Es geht um den Begriff "Rassismus".

Hätte Frau Dernbach recht, dann wäre Positivrassismus kein Rassismus.
Ein Beispiel für Positivrassismus ist Thilo Sarrazin, der die Intelligenz der osteuropäischer jüdischer Einwanderer und den Fleiß vietnamesischer Einwanderer in einer Weise lobt, aus der sich schließen lässt, dass er Intelligenz und Fleiß für "angeborene" Eigenschaften der jeweiligen Einwanderergruppen hält. (Aus diesem Beispiel wird übrigens deutlich, dass Positivtivrassismus oft mit negativem Rassismus gekoppelt ist.)
Ja, und auch Positivrassismus ist mit Gewalt verbunden - wenn auch nur mit struktureller Gewalt, gegen die "schlechten" Einwanderergruppen, und auch gegen einzelne Mitglieder der vermeintlich bevorzugten Gruppe, die in eine Rolle gedrängt werden, die sie sich (meistens) nicht ausgesucht haben.
Ein hässliches (und dabei nicht einmal böse gemeintes) Beispiel für Positivrassismus gab der Tagesschau-Korrespondent Michael Castritius, als er bei den Olympischen Spielen 2008 erklärte warum jamaikanische Sprinter so erfolgreich sind. Sein "Erklärungsmodell" ist rassistisch, obwohl im Durchschnitt die untersuchten Athleten westafrikanischer Herkunft mehr "schnelle" Muskelfasern haben als im Durchschnitt die untersuchten Athleten europäischer Herkunft.
Der Punkt ist: über den einzelnen Menschen sagt diese Statistik nichts aus! Um ein anderes Beispiel zu nehmen: im Durchschnitt gesehen sind Nordeuropäer körperlich deutlich größer als Thailänder, und dafür sind nachweislich genetische Ursachen ausschlaggebend. Aber es gibt sehr wohl Nordeuropäer, die kleiner sind, als "durchschnittliche" Thais!
Positivrassimus schlägt unter Umständen schnell in "typischen" Rassismus um: "Schwarze können zwar schneller laufen, sind aber weniger intelligent als Weiße."
Oder, etwas subtiler: "Asiaten können sich viel besser konzentrieren als Europäer, aber dafür ist ihr kreatives Denken weniger entwickelt". Im diesem Beispiel kann eine "kulturelle" Begründung an Stelle der "biologischen" treten.

Im Läuferbeispiel verallgemeinerte und verabsolutierte der Tagesschau-Reporter einen tatsächlichen Unterschied zum Nutzen der "weißen" Läufer (die dann für ihren "Misserfolg" gegen die schwarzen Läufer mit ihren besseren "biologischen Voraussetzungen" nichts können) und rechtfertigen die "Privilegien" "unserer" Läufer ("eigentlich wären sie die Sieger"). Also Rassismus.

Montag, 4. Juli 2011

Alternativwelt - und: Alternativen in einer Welt

Nachricht aus einer Alternativwelt:
Heute, am 4. Juli 2011, verstarb im gesegneten Alter von 98 Jahren Seine Majestät Otto, Kaiser von Österreich und König von Ungarn, Ehrenpräsident der Zentraleuropäischen Union, in seinem Privathaus im Pöcking am Starnberger See im Königreich Bayern. "Er ist friedlich eingeschlafen", sagte die Sprecherin des Hofes. Sein ältester Sohn Karl, der schon seit 2007 als Regent die öffentlichen Aufgaben des Staatsoberhauptes übernommen hatte, wird als Kaiser Karl II. König Karl V. die Nachfolge des greisen Monarchen antreten.
Kaiser und König Otto herrschte seit seiner offiziellen Thronbesteigung im Jahre 1930 und war damit über 81 Jahre Staatsoberhaupt Österreich-Ungarns. Obwohl ihn die 1917 verabschiedete Verfassung einer lediglich repräsentative Rolle zuwies, war Otto eine treibende Kraft der paneuropäischen Bewegung, ja, er verkörperte geradezu das Prinzip des Vielvölkerstaates, der "Einheit in Verschiedenheit". Ohne ihn, als Symbolfigur und eloquenten Fürsprecher, wäre die Neubegründung des alten Österreichisch-Ungarischen Gemeinwesen als moderner Bundesstaat schwer vorstellbar gewesen; auch die Gründung zunächst der Konföderation mit dem Deutschen Reich, ab 1954 dann des Bundesstaates der Zentraleuropäischen Union, sowie die Aussöhnung mit Frankreich und dem 1918 neu gegründeten Polen, fand in ihm stets einen Fürsprecher.
Freilich war seine Majestät auch ein tief im katholischen Christentum verorteter Konservativer, was durchaus zu Spannungen mit dem protestantischen Preußen führte. Seine Vorstellung eines neuen "Heiligen Römischen Reiches" wurde selbst von wohlwollenden politischen Köpfen in den letzten Jahrzehnten seiner langen Regentschaft belächelt; von der politischen Linken und Zentraleuropäern moslemischen Glaubens sogar heftig angefeindet.
Soweit der Bericht aus einer glücklicherer Alternativwelt, in der es den 1. und 2. Weltkrieg nie gab, Österreich-Ungarn und Deutschland auf friedlichem Wege zu demokratischen Bundesstaaten (mit parlamentarischem Monarchie nach britischem, niederländischem und skandinavischem Muster) reformiert wurden, und schließlich ein europäischer Bundesstaat, der nur aus historischen Gründen nicht "Vereinigte Staaten von Europa" heißt, entstand. Eine Welt, in der Hitler immer ein radikaler, aber einflussloser Provinzpolitiker geblieben wäre, eine Welt ohne Vernichtungskrieg und ohne industriellen Massenmord an Millionen Juden, "Fremdrassigen", Schwulen, Behinderten und willkürlich zu "Volksfeinden" Erklärten.
Eine alternative Welt, die ich schon deshalb für die "Bessere" halten würde. Auch wenn mir, als überzeugtem Republikaner, Monarchien, auch parlamentarische, zuwider sind, und ein Europa, das nicht zuletzt auf die "gemeinsamen Werte des Christentums" gegründet wäre, vielleicht ein Staatswesen wäre, aus dem ich lieber auswandern würde.

Es kann vermutet werden, dass Otto von Habsburg unter diesen Umständen ein "guter Monarch" gewesen wäre, denn bei einem nur durch die Kraft seiner Persönlichkeit wirkenden Staatsoberhaupt ohne reale Machtbefugnisse hätten sich die erzkonservativen Ansichten des realweltlichen CSU-Politikers nur wenig ausgewirkt.

Immerhin: er war, zusammen mit dem ungarischen Staatsminister und Reformer Imre Pozsgay, Schirmherr und Initiator des Paneuropäischen Picknicks am 19. August 1989. ein Meilenstein bei Überwindung des "Eisernen Vorhangs". Das wiegt - vielleicht - einige dumme bis rassistische Äußerungen, ein gerüttelt Maß an "Homophobie" traditionell-katholischer Bauart und einige Interviews für die "neurechte" Postille "Junge Freiheit" auf. Vielleicht. In der Realwelt war er nun einmal aktiver Politiker, und kein zur Zurückhaltung bei politischen Äußerungen angehaltener Monarch.

Übrigens - nimmt man die Kaiserproklamation von Kaiser Franz I. vom 11. August 1804 wörtlich, dann wäre Dr. Otto Habsburg-Lothringen, wie er mit bürgerlichem Namen hieß, bis zur Abdankung in Form der Loyalitätserklärung gegenüber der Republik Österreich von 1961, nicht nur Erzherzog von Österreich, sondern Kaiser von Österreich gewesen!
In der Kaiserproklamation hieß es nämlich, dass von nun an das Oberhaupt des Hauses Österreich den Titel eines Kaisers von Österreich tragen sollte. Da die Proklamation gleichzeitig ausführt, dass sich durch die Annahme des Kaisertitels in den Verfassungen des Verbandes der Erbländer nichts ändere, ja es ausdrücklich vermeidet, den Verband der habsburgischen Erbländer als "Kaiserreich" zu bezeichnen, sagt es, dass der Kaisertitel der besondere Titel des Oberhauptes der habsburgischen Familie wäre.
Daraus folgt, dass das jeweilige Oberhaupt den Titel "Kaiser" tragen könnte, gleichgültig, wo und ob es regiert.

Berücksichtigt man den enormen symbolischen Gehalt des Titels "Kaiser", der Otto von Habsburg nach dieser monarchistischen Lesart war, und die im Vergleich zum fast bedeutungslos gewordenen ehemaligen deutschen Kaiserhaus Hohenzollern nach wie vor politisch und gesellschaftlich einflussreiche Familie Habsburg, dann wird vielleicht auch heute noch verständlich, wieso es auch nach der Loyalitätserklärung in Österreich zur "Habsburger-Krise 1961-1966" kommen konnte.

Dienstag, 28. Juni 2011

Musik, Kunst und Kunsthonig

Mit Musik ist es so wie mit jeder anderen Kunst:
Wer, wie es so schön heißt, sich nicht genauer auf Musik "einlässt", wie es auf Formatradioreichweitenroptimiererdeutsch heißt, "temporärer Nutzer" ist, Musik also "nur so im Hintergrund" hört, dem werden nur wenige Stücke spontan gefallen.

Man muss kein Musikpsychologe sein, um voraussagen zu können, welche Musikstücke Hörern, die Musik nur als angenehme Geräuschtapete einsetzen, gefallen wird: sie muss eingängig, "leicht verständlich" sein - und vor allem: sie darf nicht stören, nicht irritieren.
Die hahnebüchene und verlogene Kunstauffassung der Nazis, die - ziemlich willkürlich - Kunstwerke für "entartet" erklärten, fand nicht deshalb so breite Zustimmung, weil so wenige die moderne Kunst "verstanden", sondern weil viele der modernen Künstler irritierten. Die Gemälde von Otto Dix wurden sehr wohl verstanden, ebenso die Surrealisten, und um von Picassos "Guernica" irritiert zu sein, muss man nicht Kunst studiert haben. Aber es ist für viele Menschen beruhigend, wenn das, was sie verstört, zu den Produkten von Geisteskranken, Pfuschern, Scharlatanen oder "Undeutschen" erklärt werden. Das Weltbild stimmt wieder, und das, was "schön" ist, was, wie Erich Kästner in Bezug auf Literatur meinte, "taugt, den Feierabend zu tapezieren", ist wieder die einzig wahre Kunst.
Dass in Nazideutschland auch Künstler verfolgt und ausgegrenzt wurden, die sehr populär und keineswegs verstörend waren, muss nicht dagegen sprechen. Auch Jazz und Swingmusik, alias "entartete Negermusik", war populär und verstörte ihre Hörer nicht. Aber sie passte nicht ins ideologische Raster. Der Mechanismus "Kunst, die Dich irritiert, ist in Wirklichkeit gar keine Kunst" war allerdings, vermute ich, der "Aufhänger", der die propagandistischen Verleumdungen über modernen Kunst oder über Jazzmusik plausibel machte - "die haben ja recht, und wenn sie da recht haben, wird das andere wohl auch stimmen".
Der Kunstbetrieb im "real existierenden Sozialismus" lief völlig anders ab als bei den Nazis, es wurden auch andere Ideale gefördert und gefördert, aber die Aversion gegen Kunst, die irritiert, wurde auch hier, vor allem natürlich unter Stalin, bedient, um propagandistische Behauptungen über "degenerierte bürgerliche Künstler", über "Formalisten", plausibel erscheinen zu lassen.
Ende des Exkurses. Ich will das Formatradio nicht mit den Nazis, und diese wiederum nicht mit Stalin gleichsetzen. "Dudelfunk" will keine Propagandabotschaft verkaufen, sondern Werbeminuten, mit denen wiederum Waren und Dienstleistungen verkauft werden. Und die Musik in solchen Programmen ist auch selbst wieder eine "Ware", die verkauft werden soll. Was ja an und für sich nichts Schlimmes ist. Schlimm ist allerdings die künstlerische Mut- und Entscheidungslosigkeit, die aus dem Bestreben resultiert, ja keinen Hörer zu verstören. Musik wie Kunsthonig (das Zeugs, dass korrekterweise "Invertzucker" genannt wird und seit einiger Zeit auch nur so genannt werden darf) - süß, energieliefernd (sogar zu viel), aber ohne weiteren Nährwert und ohne Aroma.

Also: Je eingängiger und je weniger "störend", desto besser. Das ist dann das was wir gemeinhin als "Mainstream" bezeichnen. Nicht unbedingt schlecht, oft gut gemacht, aber - mit weniger Ausnahmen - eher belanglos.
Es gibt Ausnahmen, bei denen auch Menschen, die sich eher von Musik berieseln lassen, als Musik zu hören, ein nicht im Windkanal der Marktforschung stromlinienförmig gestyltes, nicht auf "Gefälligkeit" gebürstetes, Lied oder Instrumentalstück spontan richtig gut gefällt.
Das können gewisse Stücke und Stilrichtungen dar, die gerade in eine persoenliche Phase des Hörer passen. Mit Kummer und Schwermut im Bauch hat mancher nicht nur den Blues gehabt, sondern auch die Musikrichtung Blues für sich entdeckt.
Es kann auch etwas sein, was man in einem speziellen Zusammenhang das erste Mal gehört hat - zum Beispiel Latino-Pop im Urlaub, oder eine Oper bei einem "gesellschaftlichem Anlass". Die Musik weckt angenehme Erinnerungen, darum hört man sie gerne, auch wenn sie nicht ins "Stromlinien-Schema" passt.
Umgekehrt mögen viele keinen Easy-Listening-Jazz hören, obwohl es kaum eine "ohrenschmeichelndere Musikgattung gibt, weil sie damit "Fahrstuhlmusik" oder "Kaufhausgedudel" assoziieren. Wagner-Hasser hassen, jedenfalls habe ich den Eindruck, oft nicht Wagners Musik, sondern das, wofür Wagner steht oder stehen könnte. Und ich fand lange Zeit keine Zugang zur Volksmusik, weil sie mich zu sehr an das Volksmusik-Zerrbild des "Musikantenstadls" usw. erinnerte.
Musik, die "eigentlich" nicht eingängig ist, kann gefallen, wenn sie gerade zu irgendeiner "Szene" passt, der man angehört. Wer Punker ist, wird auch Punkrock mögen, auch wenn die sperrigen Texte und die ungeschliffene und kantige Musik die selben Menschen, als sie noch keine Punker waren, eher abschreckte.
Übliches Phänomen, gerade bei Jugendlichen: man findet das gut, was sonst gerade alle Freunde gut finden.

Was alle Musikrichtungen jenseits des "Mainstreams" gemeinsam haben, von Musik der Renaissance-Zeit bis Black Metal, ist, dass erst die gar nicht einmal intensive, aber anhaltende Beschäftigung damit dazu führt (oder führen kann, es ist kein Automatismus), diese Musik zu "verstehen". Ich könnte mir vorstellen, dass Menschen, die sich in sehr viele Musikrichtungen aus unterschiedlichsten Kulturen "eingehört" haben, sich gar nicht mehr durch ungewohnte Klänge irritiert und zum "Abschalten" oder "Weghören" veranlasst sehen. Eine erworbene Vorurteilslosigkeit, die den Weg für echte Qualitätsurteile öffnet.

Das gilt natürlich auch für Literatur, bildende Kunst, Architektur, Mode usw. .

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