Samstag, 25. Juni 2011

Heißer Dampf vor Güterzügen: G 8

Weil mein Artikel über die "23er" so viel Anklang fand, und ich momentan keinen Artikel über ernsthafte und aktuelle Dinge schreiben mag, so viele ich auch schreiben könnte, schreibe ich wieder etwas über eine Dampflok, und wieder mit Fotos von Volkmar.

Hinter dem Kürzel "G8" verbergen sich einige eher hässliche Dinge, wie:
  • die Vereinigung der sieben mächtigsten Industrienationen und Russlands, die "Gruppe der Acht",
  • die Schulform "achtjähriges Gymnasium" (verkürzter Bildungsgang), auch als "Turbo-Abi" bekannt,
  • oder
  • das leichte Maschinengewehr HK 21, beim ehemaligen Bundesgrenzschutz als G8 (Gewehr Typ 8) eingeführt.
Die preußische G8 ist zwar eine schlichte, zweckmäßige Güterzuglokomotive, aber hässlich ist sie nun wirklich nicht:
Einfahrt im Bahnhof Bensheim 4

Es heißt oft, dass die G 8 ("Güterzuglokomotive der Gattung 8") von Robert Garbe konstruiert worden wäre und das sie die erste in Serie gefertigte Heißdampflokomotive gewesen wäre.
Beides ist nicht ganz richtig, aber auch nicht ganz falsch.

Robert Hermann Garbe war seit 1895 Dezernent für Bauarten und Beschaffung der Lokomotiven und Direktionsmitglied der Eisenbahndirektion der Königlich Preußischen Staatsbahnen. Das hört sich nach einer sehr einflussreichen Stellung an. Tatsächlich war Garbe eher "Zuarbeiter", Chef einer Stabsabteilung, als "Entscheider". Als Bauartdezernent war er Vorsitzender des Lokomotivausschusses, der dem preußischen Ministerium der öffentlichen Arbeiten vorzuschlagen hatte, welche neuen Lokomotiven beschafft werden sollten.
Außerdem ist es normalerweise nicht die Aufgabe eines Managers und hohen Beamten, selbst Lokomotiven zu konstruieren. Normalerweise.
Garbe war so weit in der straffen Hierarchie des preußischen Staatsdienstes aufgestiegen, wie es ein ehemaliger Schlosser ohne akademisches Studium, Doktortitel, Adelsprädikat und einflussreiche Familie überhaupt schaffen konnte - was für sein Können, aber auch für sein Durchsetzungsvermögen sprach.
Er war kompetent, als Fachmann geachtet, und wegen seiner Eigenwilligkeit und seinem Hang zur Polemik gefürchtet. Wenn Garbe sein Machtwort sprach, ob eine Lok gut oder misslungen zu sein habe, dann widersprach ihm so schnell niemand.
Garbe erteilte Rahmen-Richtlinien, nach denen die Lokomotiven von den Konstruktionsabteilungen der Lokomotivhersteller entwickelt wurden. Diese Rahmen-Richtlinien gingen im Falle Garbes ziemlich ins Detail, weshalb die "Garbe-Loks" schon äußerlich unverkennbar seine Handschrift trugen.

Garbe war ein überzeugter bis fanatischer Verfechter der Heißdampf-Lokomotive. Gemeinsam mit dem Erfinder Wilhelm Schmidt, genannt "Heißdampf-Schmidt", mit dem Garbe eng zusammenarbeitete, galt er als der Mann, der dem Heißdampf-Prinzip trotz aller technischen Schwierigkeiten und gegen viele Skeptiker zum Durchbruch verhalf. Neben dem österreichischen "Lokomotiv-Papst" Karl Gölsdorf war Garbe damals der prominenteste Lokomotivkonstrukteur im deutschen Sprachraum.
Ein Beispiel verdeutlicht den tatsächlichen Einfluss Garbes: Eines seiner "Lieblingskinder", die legendäre P 8, war zwar eine geglückte und extrem vielseitige Konstruktion, hatte aber eine Reihe "Kinderkrankheiten". Allerdings wagten die Konstrukteure erst nach Garbes Pensionierung im Jahr 1912 einschneidende Verbesserungen an der P 8 vorzunehmen (stärkerer Rahmen, bessere Steuerung usw.) und zwar auf Anordnung von Garbes ebenfalls sehr angesehenem Nachfolger Hinrich Lübken.

Die 1901 konstruierte und ab 1902 in Großserie gebaute G 8 war auch nicht die erste serienmäßige Heißdampflokomotive, nicht einmal die erste preußische Heißdampflok.

Im Jahr 1896 gab Garbe den Bau von zwei Versuchslokomotiven vom Typ S 3 mit dem Flammrohrüberhitzer nach Bauart Schmidt in Auftrag. Die beiden Lokomotiven wurden im Jahr 1898 geliefert. Die erste in Serie gebaute Heißdampf-Lokomotive war die nach dem Muster dieser erfolgreichen Prototypen gebaute Schnellzuglokomotive S 4.

Die Vorteile des Heißdampfes gegenüber dem herkömmlichen Nassdampf bewährten sich auch in der Praxis.
Das Prinzip der Heißdampflokomotive ist einfach: Dem Dampf wird, nachdem er vom Kesselwasser getrennt ist, weiter Wärme zugeführt, er wird "überhitzt". Die Dampftemperatur steigt, der Dampfdruck bleibt unverändert. Tritt der Heißdampf in die Zylinder ein, gibt er zunächst seine "Überhitze" an die Wandungen ab, während er bei Nassdampfmaschinen sofort kondensiert. Wird die Überhitzung hoch genug getrieben, so wird der Sättigungspunkt bei der Dampfexpansion im Zylinder nicht mehr erreicht: Es gibt keine Kondensationsverluste mehr! Außerdem nimmt der über 300° C heiße überhitzte Dampf bei gleicher verdampfter Wassermenge mehr Volumen ein, was die Wirkung weiter verbessert:
Der thermische Wirkungsgrad einer Heißdampf-Maschine ist um etwa die Hälfte größer als der einer sonst baugleichen Nassdampfmaschine.
Die Heißdampf-Technik spart also Brennstoff (um etwa 20%) und und Wasser (um etwa 45 %) bei gleicher Leistung, oder macht entsprechende deutliche Leistungssteigerungen möglich.
Aus heutiger Sicht übersehen wir leicht, welche technische Revolution der Heißdampf war. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts galt die Dampfmaschine im Allgemeinen und die Dampflokomotive im Besonderen nach der Erfindung der Verbunddampfmaschine als nicht mehr grundsätzlich verbesserbar. Dann kam aber die Dampfturbine (die sich allerdings im Lokomotivbau nie durchsetzen konnte) und der Heißdampf. Noch heute laufen in allen Kohlekraftwerken Heißdampfturbinen. (Die einzige verbliebene Domäne des Nassdampfes sind ausgerechnet Atomkraftwerke, genauer gesagt, Siedewasserreaktoren.)

Garbe war nicht nur Heißdampf-Enthusiast, er vertrat auch das Prinzip der größtmöglichen technischer Einfachheit:
"Eine gute Lokomotive muss auch in einem ostpreußischen Kuhstall vom Dorfschmied repariert werden können!"
Als preußischer Beamter gab er schon von Amts wegen Wirtschaftlichkeit vor Höchstleistung den Vorzug. Daher lehnte er das Prinzip der Verbundmaschine ab, obwohl damit auch bei Heißdampfmaschinen der Wirkungsgrad weiter gesteigert werden kann. Er glaubte, die wirtschaftlichen Vorteile der Dampfüberhitzung würden durch das aufwendige und teure Verbundsystem gemindert:
"Ein Hoch auf die Einfachheit und ein klares Nein zu komplizierten süddeutschen Verbundloks!"
Garbes Widerstand ging so weit, dass er strickt eine Mitwirkung des Hannoveraner Verbundlokpioniers August von Borries an den Heißdampflokomotiven ablehnte, obwohl von Borries sich von Anfang an für den Heißdampf erklärt hatte. Es scheint als habe über die fachliche Rivalität hinaus einen Konkurrenzkampf zwischen beiden Männern gegeben. Trotzdem wurden auch in Preußen gute Verbundloks gebaut, ab 1911, noch in der "Ära Garbe" sogar eine sehr wirtschaftliche Vierzylinder-Heißdampf-Verbundlok, die S10.1, vom Henschel-Konstruktionsbüro unter der Leitung des Borries-Schülers Georg Heise entwickelt.

Lok im Bahnhof Bensheim, nach Fahrtende, Gesamtaufnahme
Die G 8 wurde entwickelt, weil Anfang des 20. Jahrhunderts bei den Preußischen Staatseisenbahnen ein großer Bedarf an leistungsfähigen und wirtschaftlichen Güterzuglokomotiven herrschte. Die Lokomotiven der Gattung G 8 sind vierfach gekuppelte Heißdampf-Güterzuglokomotiven ohne Laufräder (Achsfolge D). Mit einer Achslast von nur 14 Tonnen konnten sie auf Nebenstrecken eingesetzt werden.
Vergleicht man die G 8 mit der etwa gleichzeitig in Großserie gegangenen S 4, dann ist sie schon vom äußeren Eindruck her die modernere Maschine.
Die S3 und die davon abgeleitete S4 sahen noch sehr nach "19. Jahrhundert" aus: hoher Schornstein, hoher Dampfdom und die von US-Loks übernommene "Westernlok"-Achsfolge 2' B (bzw. 4-4, "Eight-Weeler", wegen ihren weiten Verbreitung "American Standard" oder kurz "American" genannt).
Die G8 war dagegen für 1902 ultramodern, und sie war die erste unverkennbare "Garbe-Lok". Ihr Kessel liegt höher als bei älteren Konstruktionen - gemäß der Erkenntnis Gölsdorfs, dass Loks mit hoch liegendem Kessel keineswegs leichter entgleisen oder unruhiger laufen als niedrig gebaute. Der Schornstein ist, mit Rücksicht auf das Lichtraumprofil, kürzer als bei älteren Loks. Der lange Kessel wurde weit nach vorne geschoben, um das Gewicht möglichst gleichmäßig auf die vier Achsen zu verteilen. Der Kessel selbst ist ganz klar nach den Richtlinien Garbes konstruiert: der Schornstein ist eng, die Rauchkammer hat einen größeren Durchmesser als der übrige Kessel - und, was man nicht von außen sieht, die Feuerbüchse ist lang und schmal. Ein langer, verhältnismäßig schmaler Feuerrost sorgt für eine große Strahlungsheizfläche, die große Rauchkammer und der enge Schornstein für scharfen Zug.
Wie alle Garbe-Kessel ist der der G8 "verdampfungsfreudig", hat einen hohen Wirkungsgrad und ist vergleichsweise unkompliziert zu bedienen und warten.
Räder der Lok
Trotz ihrer für Güterzugloks typischen, für große Anfahrleistungen optimierten eher kleinen Räder könnte die G 8 mit ihren 1.100 PSi theoretisch schneller als die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit von 55 km/h fahren. In der Praxis stand und steht dem ihr schlechtes Fahrverhalten entgegen: die Lok zuckt sehr stark. Wie fast alle Garbe-Loks ist sie "oben hui" - ausgezeichneter Kessel, gutes Triebwerk - und "unten pfui" - mäßiges Fahrwerk.
Dieser typische Konstruktionsmangel der garbe'schen Lokomotiven war zum Teil auf den unzureichenden Massenausgleich zurückzuführen: gerade bei Zweizylindertriebwerken, wie sie Garbe wegen der einfachen Wartung und Reparatur vorsah, ist die "Unwucht" relativ groß. Deshalb sorgte man mit Gegengewichten an den Antriebsrädern für einen Massenausgleich (auf dem Foto oben gut zu erkennen). Eine Lok mit gutem Massenausgleich läuft zwar ruhiger, aber die "Unwucht" ist damit nicht aus der Welt: die dynamischen Achsdruckschwankungen (engl. "pounding") beanspruchen die Schienen wie mit "Hammerschlägen", wie Garbe das nannte. Außerdem vergrößern Ausgleichsgewichte die Achslast. Also blieb der Massenausgleich unzureichend.

Was bei der G 8 nicht so wichtig war - die höchste zulässige Geschwindigkeit für Güterzüge war damals in Preußen gerade einmal 50 km/h - war bei der gleichzeitig konstruierten "Universallokomotive" P 6, die ihre 90 km/h nicht ausfahren konnte, oder bei der schon erwähnten P 8, die bei für den Schnellzugdienst erforderlichen 110 km/h bedenklich zuckte, oder bei der Schnellzuglok S 6 schon ins Gewicht. Die Tenderlokomotiven T 8 und T 10 waren bei den Personale wegen ihrer grottenschlechten Fahreigenschaften gefürchtet - die T 10, mit dem Kessel der P6 und dem Fahrwerk der P 8, neigte bei Rückwärtsfahrt und 60 - 70 km/h Geschwindigkeit sogar zum Entgleisen, allerdings fuhren sie bei 100 km/h dann (relativ) ruhig.
Bayrische Lokführer, die normalerweise auf laufruhigen Vierzylindermaschinen fuhren, behaupteten, die "Preußenloks" hätten achteckige Räder - jedenfalls würde sie so rumpeln, als hätten sie welche.
Die einzige "Garbelok" mit wirklich guten Fahrwerk, die T 18 wurde dann auch unter der Federführung von Garbes Assistenten und späteren Nachfolger Hinrich Lübken konzipiert und von den Vulkan-Werken durchkonstruiert, auch wenn Garbe November 1911 dem Lokomotivbauausschuss den Bau dieser Tenderlok mit der Achsfolge 2’C2’ und Kessel und Triebwerk der P8 vorschlug.
Man erkennt, wie weit das "Baukastenprinzip" schon bei den preußischen Dampfloks der Länderbahnzeit gediehen war. Die Baugruppen der neueren preußischen Konstruktionen ab etwa 1901 waren stärker vereinheitlicht als die der "Einheitslokomotiven" der Deutschen Reichsbahn nach 1925!
Im Betrieb bewies die Heißdampf-Lok G 8 ihre leistungsmäßige Überlegenheit gegenüber den älteren Naßdampf-Maschinen. Trotzdem entschloss man sich im Lokomotiv-Beschaffungsausschuss aufgrund der Anfangs noch häufiger Schäden an den Überhitzerelementen noch einmal eine "robuste" Naßdampf-Lokomotive zu entwickeln. Von dieser als G 9 bezeichneten Lokomotive wurden zwischen 1908 und 1911 insgesamt 200 Exemplare gebaut. Sie war (wie kaum anders zu erwarten war) der G 8 und erst recht der ab 1913 gebauten G 8.1 von der Leistung her unterlegen.
Insgesamt wurde von der ursprünglichen Version der G 8 zwischen 1902 und 1913 bei verschieden Herstellern 1054 Lokomotiven gebaut.

Mit den sehr wirtschaftlichen Loks der Gattung G8 setzte sich der "Garbe-Stil" der einfach gehaltenen Zwecklokomotive in Preußen auch über Garbes Amtszeit hinaus durch. Mehr noch: der Erfolg der G 8, dann der Schnellzuglok S 6 und später der der P 8 trug sehr viel zum Siegeszug der Heißdampflokomotiven bei. Schon vor dem 1. Weltkrieg waren 95 % der in den USA gebauten Dampfloks Heißdampfmaschinen mit Überhitzern der Bauart Schmidt - und die Industrie der USA war im Lokomotivbau damals weltweit führend.

Lok dampft ganz schön

Noch erfolgreicher als die ursprüngliche G 8 war die verstärkte G 8.1.
So gut die G 8 auch war, vor allem, nachdem die "Kinderkrankheiten" der Überhitzer beseitigt waren: sie konnte nicht alle Anforderungen des schweren Güterzugdienst erfüllen. 1910 wurde deshalb die größere G 10 entwickelt, und zwar, indem der Kessel der P 8 auf das modifizierte Fahrwerk der T 16 gesetzt wurde.
Die G 8 war, weil es 1901 nur relativ wenige Strecken für Achslasten über 16 t gab, so leicht wie möglich gebaut worden. Zehn Jahre später waren die Hauptstrecken erheblich besser ausgebaut. Die Schwierigkeiten, die die G 8 im schweren Güterzugdienst auf Steigungen hatte, waren auf ihr zu geringes Reibungsgewicht von 57 Tonnen zurückzuführen.
Regierungsrat Knechtel von der Königlichen Einsenbahndirektion Elberfeld, zuständig für die steigungsreichen und von schweren Kohlezügen frequentierten Strecken im Bergischen Land und im Sauerland, stellte sogar fest, dass sich die Zugkraft der G 8 nur mittels Sandstreuens voll entfalten könne.
Obwohl die G 10 eine gute Maschine war - sie wurde allein in Deutschland immerhin 2677 mal gebaut - steckte in der Konstruktion der G 8 noch so viel Potenzial, dass Robert Garbe 1911 den Entwurf einer verstärkten G 8 der Firma Schichau dem Lokomotiv-Ausschuß vorlegte.

1913 begann die Auslieferung der als G 8.1 bezeichneten verstärkten G 8. Sie hatte einen größeren Kessel mit höherem Kesseldruck und einen stärkeren Rahmen. Das höhere Reibungsgewicht verbesserte die Zugkraft. Beim Vergleich der G 8.1 mit der G 10 zeigte sich, dass die vierachsige G 8.1 trotz ihrer geringeren Größe der fünfachsigen G 10 an Zugkraft etwa ebenbürtig, bei Geschwindigkeiten über 35 km/h sogar recht deutlich überlegen war. Die G 8.1 war nicht nur kräftiger, sondern auch bogengängiger als die G 10. Eine "G 8-Krankheit" hatte die 8.1 aber behalten: ihre Höchstgeschwindigkeit wurde wegen zunehmender Laufunruhe bei höheren Geschwindigkeiten auf 55 km/h begrenzt.
Durch den hohen Achsdruck von 17,5 Tonnen konnte die G 8.1 allerdings nur auf Hauptstrecken eingesetzt werden, was aber nichts machte, denn für weniger belastbare Stecken hatte man ja die G 10. Tatsächlich ergänzten sich die Maschinen hervorragend.
Von der G 8.1 wurden von 1913 bis 1921 nicht weniger als 5155 Lokomotiven gebaut, womit sie die meist gebaute Länderbahnlokomotive und die damals vermutlich meistgebaute Lokomotive überhaupt war. Die G 8.1 war, ähnlich wie die P 8, auch ein "Exportschlager".

Die G 8 und die G 8.1 wurden noch von der Reichsbahn der DDR und der Deutschen Bundesbahn eingesetzt. Bei der Bundesbahn wurde die letzte G 8 1955, in der DDR 1969 außer Dienst gestellt. Die letzte G 8.1 der Deutschen Bundesbahn, die 055 538-3, wurde am 21. Dezember 1972 aus dem Dienst genommen.

Die G 8 "4981 Mainz" des Lokomotivmuseums Kranichstein hat eine besonders bewegte Geschichte:
Sie wurde 1913 bei Hanomag in Hannover als Nr. 6721 gebaut und zunächst bei der Preußischen Staatsbahn als "4981 Münster" in Dienst gestellt. Später kam sie zur Eisenbahndirektion Mainz.
1916 wurde sie im Rahmen der deutschen Militärhilfe zusammen mit weiteren 24 Loks an die Türkei abgegeben und beim Bau der berühmten Bagdadbahn eingesetzt. Bei der Türkischen Staatseisenbahn (TCDD) erhielt sie die Nummer 44 079.
Über die verschiedenen Einsatzorte in der Türkei ist nichts bekannt.
Ab ca. 1970 wurde die 44 079 im Depot Catalagzi an der Schwarzmeerküste stationiert.
1987 wurde die noch betriebsfähige (!) Lok vom Eisenbahnmuseum Darmstadt-Kranichstein gekauft und durch die Türkei, Bulgarien, Jugoslawien und Österreich nach Darmstadt-Kranichstein geschleppt. Dort wurde sie in Zusammenarbeit mit dem Ausbesserungswerk in Piła (dt. Schneidemühl) aufgearbeitet und weitgehend in ihren preußischen Originalzustand zurückversetzt.

Sonntag, 19. Juni 2011

"Cyber-": Versuch einer kleinen Geschichte eines halben Reizwortes

Mein Artikel Cyber-... äh, Attrappe" machte mich neugierig: wie kommt es eigentlich, dass der Präfix "Cyber-" eine so starke und mit vielen Ängsten besetzte Reizwirkung hat? Schließlich ist die Kybernetik, von der sich "Cyber-" ableitet, eine wichtige und vielseitige, aber außer unter Fachleuten wenig beachtete Wissenschaft. Jedenfalls kann ich mich nicht erinnern, in jüngerer Zeit Schlagzeilen z. B. über Rückkopplungen, Selbstorganisation oder Volition gelesen zu haben. Die Kybernetik ist bei vielen "aufregenden" und schlagzeilenträchtigen Themen entscheidend wichtig, wie dem (scheinbar) "anarchischen" Internet, "sozialen Netzwerken" und den Folgen, den Bedingungen, unter denen Empörung zur Revolution wird, den Ursachen und Folgen von Wirtschaftskrisen und immer wieder den Fragen der Ökologie, als Paradebeispiel einer "kybernetischer Wissenschaft". Kybernetik ist unentbehrlich um die moderne Welt auch nur annähernd zu verstehen, aber trotzdem ein publizistisches Mauerblümchen, was daran liegt, dass sie sehr abstrakt ist.

Ganz anders die mit "Cyber-" beginnenden Reizworte wie Cyberspace, Cyborg, Cyberwar, Cyberkriminalität, Cyberterrorismus usw.. Dabei fällt auf, dass alle diese Begriffe, wenn auch manchmal indirekt, "was mit Computern" zu tun haben.
Im großen und Ganzen lässt sich sagen: "Cyber-irgendwas" bezieht sich fast immer auf Dinge aus einem Anwendungsbereich der Kybernetik, der Informatik, und beschränkt sich innerhalb der Informatik auf wenige Gebiete, wie z. B. Robotik, Künstliche Intelligenz, "virtuelle Realität", Mensch-Maschine-Schnittstellen bis hin zur "Verschmelzung" von Mensch und Computer.
Oder anders gesagt: auf jene Gebiete, die oft in der Science Fiction thematisiert werden.

Ich versuche eine kleine, unvollständige, Chronologie, wie sich der Begriff "Cyber-" entwickelte.

1947 Norbert Wiener prägt dem Begriff "Cybernetics", abgeleitet vom griechischen kybernétes für "Steuermann", bald schon eingedeutscht als "Kybernetik". Wiener versteht darunter die die Wissenschaft von der Steuerung und Regelung von Maschinen, lebenden Organismen und sozialen Organisationen.

1946–1953 Die Macy-Konferenzen zur Kybernetik, zehn interdisziplinäre Konferenzen mit dem Ziel, die Grundlagen für eine allgemeine Wissenschaft der Funktionsweise des menschlichen Geistes zu schaffen. Sie werden in der Fachöffentlichkeit viel beachtet, der Begriff "Cybernetics" bürgert sich im englischen Sprachraum ein.

1950 Die bahnbrechenden Arbeiten John von Neumanns zur Architektur von Computern werden auch außerhalb der Fachkreise viel beachtet, als Erkenntnisse der neuen Wissenschaft Kybernetik.

1956 John McCarthy prägt den Begriff "artificial intelligence“ ("künstliche Intelligenz") als "griffige" Beschreibung der Themen der Dartmouth Conference für den Förderantrag bei der Rockefeller-Foundation. Dieses Schlagwort weckt sofort breites öffentliches Interesse und die Erwartung, dass es "sehr bald" denkende Computer und Roboter geben wird. Da die beteiligten Wissenschaftler allesamt "Kybernetiker" sind (sozusagen als gemeinsamer Nenner ihrer Fachgebiete), und die Forschung zur künstlichen Intelligenz eindeutig ein Gebiet der Kybernetik ist, wird der Begriff "Cybernetics" von nur an regelmäßig im Zusammenhang mit "denkenden Maschinen", "Elektronengehirnen" usw. verwendet.

Seit Ende der 50er-Jahre Journalisten und Science Fiction-Autoren (z. B. der polnische Autor Stanislaw Lem), benutzen "Kybernetik" als Synonym für Robotik.

1960 Manfred Clynes und Nathan S. Kline prägen den Begriff Cyborg ("Cybernetic organism").
In ihrem gemeinsamen Aufsatz Cyborg and Space schlagen sie vor, den Menschen mit technischen Mitteln an die Umweltbedingungen des Weltraums anzupassen, als Alternative zur künstlichen erdähnlichen Bedingungen an Bord von Raumschiffen. Mittels biochemischer, physiologischer und elektronischer Modifikationen sollen Menschen als "selbstregulierende Mensch-Maschinen-Systeme" im Weltraum überlebensfähig werden.
Obwohl das Konzept der Mensch-Maschinen-Hybriden schon lange vorher Thema der Science Fiction war, und bereits an "intelligenten Prothesen" bzw. künstlichen Organen geforscht wurde, setzt sich der griffige Begriff "Cyborg", wahrscheinlich befeuert durch das rege öffentliche Interesse an der Raumfahrt in den 60er-Jahren, schnell durch. Dabei wird er allerdings begrifflich unscharf (der
Wikipedia-Artikel gibt einen kleinen Eindruck davon).

Mitte der 60er-Jahre Ein Indiz, wie weit "Cyber-irgendwas"-Begriffe schon im englischen Sprachgebrauch verbreitet sind, ist der Titel einer Folge der beliebten Fernsehserie "The Avangers" The Cybernauts. Die "Cxbernauts" sind menschenähnliche Killer-Roboter. (In der deutschen Fassung "Mit Schirm, Charme und Melone" heißt die Folge schlicht "Die Roboter".)

Zweite Hälfte der 60er-Jahre
Eine Zeit lang wird im deutschen Sprachraum "Kybernetik" oft synonym zu Informatik bzw. Computerwissenschaft gebraucht. Je mehr Computer zum Alltag gehören, desto mehr schwindet dieser Sprachgebrauch.

1970 Die Control Data Corporation bringt den ersten Großrechner der CDC Cyber-Familie auf den Markt. Die "Cybers" galten lange als die leistungsfähigsten "Supercomputer" der Welt. Die entsprechende Medienaufmerksamkeit trägt dazu bei, das Präfix "Cyber-" populär zu machen und eng mit der Vorstellung von Hochleistungscomputern zu verbinden.

um 1980 Es bildet sich ein neues Subgenre der Science Fiction heraus, der Cyberpunk. Der ursprüngliche "Cyberpunk" ist eine dystopische ("negativ-utopische) Richtung der SF und geht im wesentlichen von zwei Fragen aus:
  1. Was wäre wenn der Staat (die Staaten) von großen Konzernen kontrolliert würden, die die staatliche Monopol-Macht für ihre Zwecke instrumentalisieren ("Konzernherrschaft", "staatsmonopolistischer Kapitalismus")?
  2. Was wäre wenn praktisch die gesamte Kommunikation und alle ökonomischen Transaktionen in einem weltweiten, nicht hierachischen Datennetz ablaufen würden?
Im Laufe der Jahre werden nicht nur typische Themen des Cyberpunks wie Nanotechnologie, Gentechnik und virtuelle Realität, bzw. Konzernmacht, Manipulation der Massen und Subkultur der Hacker Teil der Mainstream-Literatur, sondern auch die reale Welt gleicht mehr und mehr einer typischen Cyberpunk-Dystopie der 80er Jahre.

1982: Der Cyberpunk-Autor William Gibson prägt in seiner Kurzgeschichte "Burning Chrome" den Begriff Cyberspace. "Cyberspace" umschreibt eine Verbindung aus weltweitem Computernetz (vergleichbar mit dem Internet) mit virtueller Realität. Anstelle wie heute mit einem Browser auf die Seiten des WorldWideWeb zuzugreifen, greift der User im Cyberspace über eine neuronale Schnittstelle (quasi einen "Computeranschluss an das Gehirn") auf die "Matrix" zu. Eine
konsensuelle Halluzination eines computergenerierten grafischen Raums macht es dem Cyberspace-User möglich, sich intuitiv im Datennetz zu orientieren.

1984 James Cameron dreht mit eher bescheidenem Buget den Film Terminator. Der sehr erfolgreiche Actionfilm verbindet die SF-Themen Zeitreise, "Machtübernahme" durch intelligente Maschinen und Cyborg.
Er thematisiert die Ängste vor unkontrollierbar werdenden Computersystemen und prägt nebenbei deutlich die populäre Vorstellung von einem "Cyborg" (außen Schwarzenegger, innen Metall).

1987 Der Film Robocop popularisiert Elemente des Cyberpunks und das Konzept des Cyborgs als von einem menschlichen Gehirn gesteuertem Roboter.

1991 Das World Wide Web wird weltweit zur allgemeinen Benutzung freigegeben. Schnell erkennen Fachpublizisten die Ähnlichkeit mit dem Konzept des "Cyberspace", obwohl von einer "virtuellen Realität" im Zusammenhang mit dem WWW noch keine Rede sein kann.

90er-Jahre In der Umgangssprache wird Ausdruck Cyberspace oft als Synonym für das Internet oder, spezieller, das WWW verwendet. Wortprägungen wie "Cybernaut" (im Sinne eines "Astronauten im Cyberspace"), "Cybermobbing", "Cyberverbrechen","Cyberkultur", "Cyber-Attacke" usw. folgen.

1991 der US-Sicherheitsexperte Winn Schwartau prägt den Begriff "electronic Pearl Harbor" - eines Überraschungssangriffs z. B. mit DDos oder Viren auf die Kommunikationsnetze der USA und ihrer Verbündeten. In diesem Zusammenhang werden später die Begriffe "cyberwar" und "cyberterrorism" geprägt.

1992 Das Pentagon prägt in der Direktive TS-3600.1 den Begriff des "Information Warfare", des "Informationskrieges".

1993 veröffentlichte der einflussreiche Publizist John Arquilla seinen ersten Artikel (von zahlreichen) über "Cyberwar". Er arbeitet für RAND, eine Pentagon-nahe Denkfabrik. Später berät er Donald Rumsfeld (Verteidigungsminister unter Präsident George W. Bush).

1997 Der Begriff Cybercop für einen im "Cyberspace" (gemeint ist das Internet) agierenden Polizisten wird im U.S. "Report to the President's Commission on Critical Infrastructure Protection" verwendet. Spätestens damit erreicht der Präfix "Cyber-" die offizielle politische Sphäre.

2001 Ein viel diskutierter Artikel auf "telepolis" Selbstkontrolle statt Cyberpolizei und Filter? bürgert den (ursprünglich kritisch gemeinten) Begriff "Cyberpolizei" ein.

ab 2002 Im Zuge des nach den Attentaten des 11. September 2011 ausgerufenen "War on Terror" gewinnt der Begriff Cyberwar, der über die zwischen Staaten und Unternehmen üblichen und längst auch mit Mitteln des Computerzeitalters geführten Spionage-Spionageabwehr-Kleinkriegs hinaus geht, an Boden. Das Schreckgespenst einer z. B. durch DDos-Angriffe lahmgelegten Infrastruktur wird vor allem von Beratern der Regierung Bush jr. an die Wand gemalt. Die Rede ist von einem drohenden "electronic 9/11".

2008 Krieg zwischen Russland und Georgien. Angeblich wird er auch mit Mitteln des "Cyberwar" ausgefochten. Dazu die taz: Das Phantom des Cyberwar.

2000er Jahre Die (jugendliche?) Subkultur der "Cyber" (und der "Cybergoths") mit einer dem "Cyberpunk" entlehnten Ästhetik bildet sich heraus, stark beeinflusst vom Stil der ursprünglich aus Japan stammenden Visual Kei.
(Später bildet sich eine entsprechende und keineswegs auf junge Menschen beschränkte Steampunk-Szene heraus. Ein bekannter Ausspruch: "Cyberpunks sind Goths, die außer schwarz Neonfarben für sich entdeckten, Steampunks Goths, die außer schwarz sepia und braun für sich entdeckten.")

2010 Das Cyber Command der US-Streitkräfte wird offiziell in Dienst gestellt. Schon seit einigen Jahren gilt in den USA die Doktrin der "Network Centric Warfare". Kernbestandteile sind die Informationshoheit sowie die informationelle Vernetzung von Soldaten. Unter diese Doktrin fallen auch traditionelle Konzepte wie die psychologische Kriegsführung sowie die Störung von Radar- und Funksignalen. Zu den Aufgaben des "Cyber Command" sollen auch offensive "Cyberattacken" gehören. Der "Cyberwar" wird zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung.

2011 Das deutsche "Cyber-Abwehrzentrum" wird eröffnet - die Cyber ... äh, Attrappe.

Samstag, 18. Juni 2011

"Cyber-... äh, Attrappe"

"Das Internet" ist irgendwie bedrohlich. Jedenfalls, wenn es nach den öffentlichen Aussagen der meisten sich zu diesem Thema äußernder Politiker und sehr vielen Artikeln in Presse, Funk- und Fernsehen (sowie deren Internet-Ablegern) geht.

Vor wenigen Tagen wurde das deutsche Nationale Cyberabwehrzentrum offiziell eröffnet (gulli.de). Nimmt man den Namen dieser Einrichtung beim Wort, verrät sie, worum es unseren politischen Entscheidern womöglich wirklich geht. "Cyber-" leitet sich bekanntlich vom Wort "Cybernetics" ab, also der Kybernetik. Vielleicht sind es ja die Erkenntnisse etwa der Management-Kybernetik, die Politikern und Top-Managern Angst einjagen - zeigen sie doch, dass die linear-kausalen Management- und Politik-Modelle, in denen eine Organisation nach bewusst vorgefassten Plänen gesteuert wird, in Krisensituationen nicht funktionieren können. Allerdings lässt sich mit einfachen linear-kausalen Modellen, die komplexe Vorgänge auf wenige einfache Ursachen reduzieren, so schön Schuldzuweisung betreiben und Angst machen. Für den Wahlkampf, für Public-Relation und für Propaganda sind solche schlichten Modelle gut brauchbar - was so ziemlich das Einzige ist, wozu sie taugen. Kein Wunder also, dass deutsche "Entscheider" Angst vor Kybernetik haben.
Wahrscheinlicher ist aber, dass die meisten unserer "Entscheider" noch weniger von Management-Kybernetik verstehen, als vom Internet - was einiges heißen will.
Dass deutsche Politiker - vor allem die konservativen unter ihnen (also die meisten) - Angst vor allem haben, was sie nicht verstehen, und diese Ängste dann auf ihr Wahlvolk projizieren, ist unter aufmerksamen Bürgern eine Binsenwahrheit. Da heißt es: "Unsere Wähler wollen das nicht!" bzw. "Die Bürger wollen das nicht!" - seltsam nur, dass die Meinung eben dieser Bürger so wenig gefragt ist - womit ich wohl gemerkt weder Meinungsumfragen noch Volksausfragungen ("Volkszählungen") meine.

Die aus ganzen 10 Mitarbeitern bestehende Einrichtung mit dem bombastischen Namen soll sicherheitsrelevante Vorfälle im Bereich der Informationstechnologie (IT) analysieren und an Behörden und Unternehmen Empfehlungen abgeben. Ob es das überhaupt leisten kann, ist fraglich. Dr. Sandro Gaycken als ausgewiesenen Experte für IT-Sicherheit jedenfalls zweifelt am neuen Cyber-Abwehrzentrumt (tagesschau.de).
Zweifelhaft sind vor allem die Horrorszenarien von einem "Cyberterrorismus" (Innenminister Friedrich sprach einiger Zeit von "virtuellen Bomben" - was er damit eigentlich wirklich meint, ist unklar, klar ist nur, dass er für die Vorratsdatenspeicherung ist).
Es kann natürlich sein, dass der Minister keine Ahnung von dem hat, worüber er redet. Auf seine Berater und Zuarbeiter wird das allerdings nicht zutreffen. Also ist davon auszugehen, dass solche Bedrohungsszenarien die gleiche Funktion haben, wie der "Millardenmarkt Kinderpornographie" vor rund zwei Jahren - eine Drohkulisse, die so schrecklich ist, dass selbst einschneidende Eingriffe in die Bürgerrechte gerechtfertig erscheinen.

Es gehört schon ein gerütteltes Maß an Naivität und technischer Unkenntnis dazu, anzunehmen, kritische Infrastruktur - vor allem Wasserwerke und Kraftwerke - würden direkt "am Internet" hängen, und ein Hacker könne sich, wie in einem schlechten Unterhaltungsfilm, mal eben da "einhacken". Selbstverständlich sind solche Systeme autonom, und auch Stuxnet konnte nicht "übers Internet" in die Rechner iranische Atomanlagen eingeschleust werden.

Sandro Gaycken im Interview auf tagesschau.de:
Um eingebaute Sicherheitsmechanismen zu umgehen und mehrere Systeme langfristig zu stören, braucht man viele, sehr gute Experten. Man muss mit den Herstellern der Systeme oder deren Ex-Personal kooperieren, um zu verstehen, wie sie intern funktionieren. Man braucht Nachrichtendienste zur Unterstützung, weil die Systeme oft nicht am Internet hängen. Das alles sind Dinge, die organisierte Kriminelle mit viel Aufwand leisten könnten. Aber ich halte es für unwahrscheinlich, dass sie so viel Geld ausgeben würden, um in irgendwelche Kraftwerke einzubrechen. Außerdem ist ihnen das zu gefährlich. Das sind Dr. No-Erpresservisionen!
Diese realitätsfernen Dr. No-Szenarien können nur dann als Drohkulisse funktionieren, wenn die Medien brav bei der Panikmache mitziehen und, vor allem, die Bürger es nicht besser wissen. Was bekanntlich schon beim "Massenmarkt Kinderpornographie im Internet" nicht funktionierte.

Das "Cyber-Abwehrzentrum" ist meiner Ansicht nach in ersten Linie dazu da, zu demonstrieren, dass "etwas getan" wird - Aktionismus, wie Politik und Boulevardmedien ihn lieben. Ob die an die Wand gemalte Bedrohung überhaupt real ist, ist Nebensache, ob das "Cyber-Abwehrzentrum" auch etwas gegen diese Bedrohung, wäre sie dann real, ausrichten könnte, erst recht.
Eine Attrappe, die Handlungsfähigkeit vortäuscht. Handlungsfähigkeit gegen eine Bedrohung, die es in der von den verantwortlichen Politikern behaupteten Form gar nicht gibt.

Die in einem Artikel auf telepolis geäußerte Vermutung, der wirkliche Zweck des "Cyber-Abwehrzentrum" sei es, die Trennung zwischen Polizei und Geheimdiensten weiter aufzuweichen, ist meiner Ansicht nach völlig plausibel.

Außerdem sollte man nie vergessen, dass es auch in der Politik einen Placebo-Effekt gibt. Die Bundesregierung verweigert Informationen über Onlinedurchsuchung. Warum brüskiert sie das Parlament?
Die nicht nur für mich am nächsten liegende Antwort: Mit dem "Bundestrojaner" ist es gar nicht so weit her.
In allen bekannt gewordenen Fällen, etwa der Spyware des bayrischen LKAs, die alle 30 Sekunden einen Screenshot des Browsers aufnahm und übermittelte, wurde mit "konventionellen" Methoden, in diesem Fall: bereits verfügbarer Software, gearbeitet.
Ganz abgesehen davon, dass das LKA geltende Gesetze brach.
Von Experten wird bezweifelt, ob eine "echte" Online-Überwachung, d. h. ohne physischen Zugriff auf den Zielrechner, überhaupt praktisch umsetzbar wäre. Selbst wenn: es benutzt nicht jeder Windows oder ein Apple-OS, um nur das größte Hindernis für eine Online-Durchsuchung zu nennen.
Für kriminalistische Zwecke ist Spyware aller Wahrscheinlichkeit nach ineffizient und für den Masseneinsatz ungeeignet. Psychologisch wirkt die Angst davor, dass der digitale "Große Bruder" alles registriert, was ich auf meinem Rechner anstelle, allemal.

Montag, 13. Juni 2011

Gedankensplitter über NULL-Nachrichten

Wer aufmerksam die traditionellen und "neuen" Medien beobachtet, kennt sie: die Null-Nachrichten.
Null-Nachrichten sind Nachrichten über etwas, das weder neu, noch irgendwie hilfreich, noch näher besehen in irgend einer Weise sensationell wäre - aber trotzdem das Interesse vieler Menschen weckt und sich manchmal zum medialen Sturm im Wasserglas entwickelt.
Um es mit einem abgenutzten, aber treffenden Vergleich zu sagen: "Hund beißt Mann" ist keine Nachricht, "Mann beißt Hund" ist eine Nachricht und "Mann beißt vielleicht etwas, was möglicherweise ein Hund sein könnte" eine Null-Nachricht. Null-Nachrichten sind also nicht irrelevante Klatschgeschichten oder inhaltslose Pressemeldungen, sondern etwas, was auf den ersten Blick tatsächlich interessant, vielleicht sogar sensationell oder wirklich wichtig aussieht - oder wenigstens so verpackt wird, dass es interessant, sensationell oder wichtig erscheint.

Eine Beinahe-Null-Nachricht ist meiner Ansicht der Fall einer Lesbischen syrischen Bloggerin, die sich als Vierzigjähriger aus Georgia entpuppte.
Der Spruch "In the internet no one knows you are a dog" ist fast 20 Jahre alt. Wer "net-affin" ist, für den sind "Sockenpuppen", Fake-Blogs, Täuschungen und Selbsttäuschungen (wie die schier unausrottbare Story von den Heilkräutern, die die EU angeblich abschaffen will) alltägliche Erfahrungen. Daher war ich, obwohl ich die Bloggerin für authentisch hielt, auch nicht weiter schockiert oder enttäuscht, als ich erfuhr, dass sie eine Kunstfigur ist. Keine große Überraschung, keine Sensation.

Null-Meldungen sind fast immer Gerüchte und Spekulationen, die nicht mehr als Gerüchte und Spekulationen wahrgenommen werden. Eine typische Null-Meldung der letzten Wochen beruhte im Kern auf Überlegungen der Deutschen Fußball-Liga (DFL), möglicherweise Bundesliga-Spiele künftig über mobiles TV, also das Streaming im Internet und über mobile Endgeräte (iPad, iPhone) zu übertragen. Wie aus dieser "Mücke" der "Elefant" wurde, dass die ARD-"Sportschau vor dem Aus" stünde, dokumentiert Bildblog.

Ich will nicht behaupten, dass ich Null-Nachrichten immer als solche durchschauen würde.
Eine Null-Nachricht, auf die ich "anbiss", war die Nachricht, neu gefundene Dokumente könnten ein neues Licht auf die Geschichte der Raketenentwicklung in der Heeresversuchsanstalt Peenemünde auf der Ostseeinsel Usedom werfen. Neues Licht auf Rolle Wernher von Brauns?". Von Braun paktierte mit den Nazis, gilt aber als einer der größten Raumfahrtpioniere und als geistiger "Vater" der ersten Großrakete (und Terrorwaffe) A4 bzw. V2. Zwei Wissenschaftler der TU Cottbus legten in einer Pressemeldung nahe, dass von Braun vielleicht gar nicht der "geniale Konstrukteur" der V2 gewesen wäre - "ohne die genauere Erforschung vorschnell vorwegnehmen zu wollen", wie sie schreiben.

Sie stützen sich auf das Dossier Dr. Paul Schröders, eines früheren Mitarbeiters von Brauns, aus dem ihrer Ansicht nach hervorginge dass dieser bei der V2 nach einigen Misserfolgen "von jeglicher Planung ausgeschlossen war". Uta Mense, Denkmalpflegerin an der Universität, spürte die Papiere im Rahmen einer Arbeit über die frühere Heeresversuchsanstalt Peenemünde im Militärhistorischen Bundesarchiv in Freiburg auf.
Dr. Schröder war in der" Heeresversuchsanstalt Peenemünde" als Mathematiker an der Entwicklung der Flugsteuerung beteiligt. Anfang der 50er-Jahren wandte er sich mit dem Schriftsatz in den USA an die Presse und an Regierungsstellen, um, wie es in der Pressemeldung heißt"
die US-Behörden auf diverse Inkompetenzen des ehemaligen Technischen Direktors aus Peenemünde aufmerksam machen wollen, weil seiner Ansicht nach die Weiterentwicklung der Raketentechnologie in den USA behindert wurde
Warum sprach ich auf diese Meldung an, und hielt sie für substanziell und wichtig?
Für "wichtig" hielt ich sie grundsätzlich schon deshalb, weil ich mich für Raumfahrt, und für Technikgeschichte interessiere.
Der zweite Grund lag darin, dass Wernher von Braun eine der ambivalentesten Konstukteure in der an ambivalenten Charakteren nicht eben armen Geschichte der Großraketen ist. Ich traue "des Teufels Ingenieur" buchstäblich alles zu, während ich bei einem integeren Forscher oder Konstrukteur sofort vermutetet hätte, dass Dr.Schröder ihn nur anschwärzen wollte.
Drittens war von Braun am größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte beteiligt und profitierte von ihm - ohne Zwangsarbeiter schon in der A4-Vorserienproduktion, ohne die sich zu Tode schuftenden Sklavenarbeiter in der unterirdischen Waffenfabrik hätten die A4 nicht gebaut werden können.
Viertens, und am wichtigsten, war er eine Schlüsselfigur sowohl für die Entwicklung für die militärischen Großraketen der USA wie für die Raumfahrt der USA gewesen. Denkt man sich von Braun aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts weg, wäre sie anders verlaufen.
Der fünfte Grund, dass es mich erstaunte, dass es über Wernher von Braun überhaupt noch neue wichtige Erkenntnisse geben könne, ist dagegen eher eine meine Neugier verstärkender Faktor.

Wieso ist die Nachricht über den angeblich jahrelang von jeder technischen Entwicklung ausgeschlossenen Wernher von Braun in Peenemünde eine Null-Nachricht? Weil das, was von ihr neu ist, reine Spekulation auf extrem wackeliger Grundlage ist.

Schon der Umstand, dass gemäß Michael Neufelds anerkannter und gründlichen Biographie von Brauns, "Wernher von Braun: Visionär des Weltraums - Ingenieur des Krieges (Rezension in der "Welt", Rezension von Dr. Stefan Schulze, Rezensionen auf Buch.de) Dr. Schröder von Braun für arrogant und anmaßend, von Braun dagegen den Mathematiker für unerträglich pessimistisch hielt, und Schröder mit Billigung des Leiters der Heeresversuchsanstalt, Dornberger, 1939 abschob, weckt Misstrauen an Dr. Schröders Darstellung.

Entscheidend ist aber Dr. Schröders Darstellung der Dissertation Wernher von Brauns: Sie bestünde aus einer "Bildersammlung" sowie einem Text, der "etwa dem Niveau eines Studenten im zweiten Semester entspricht". Man habe dem Kandidaten dafür den Doktor der Philosophie verliehen, nicht den für Naturwissenschaften. Den Doktorgrad habe von Braun allein den guten Beziehungen seiner Familie zu verdanken.

Wernher von Braun promovierte 1934 in der Tat zum Dr. phil. (ein Titel, der bis heute noch an einige Universitäten auch für Doktoren der Naturwissenschaften vergeben wird) bei Erich Schumann, Ordinarius und Direktor des Zweiten Physikalischen Institutes der Universität Berlin und Karl Becker, Honorarprofessor für den Bereich Wehrwissenschaft an der Universität Berlin und ordentlicher Professor für Technische Physik an der TH Charlottenburg (heute Technische Universität) Berlin. Seine Dissertation Konstruktive, theoretische und experimentelle Beiträge zu dem Problem der Flüssigkeitsrakete war zwar in Nazideutschland Geheimsache, wurde nach dem Krieg aber publiziert, in Deutschland 1959 bei der "Deutsche Gesellschaft f. Raketentechnik u. Raumfahrt e.V." als Sonderheft der Fachzeitschrift "Raketentechnik und Raumfahrtforschung". 2007 erschien ein Reprint beim Elbe-Dnjepr-Verlag, ein Faksimile der Dissertation als pdf kann nach vorheriger Anmeldung von der Website Aggregat 2 des
"Sächsisches Verein für historisches Fluggerät e.V." heruntergeladen werden.
Ich kann also selbst nachsehen, ob von Braun tatsächlich eine "Dünnbrettbohrer-Diss" ablieferte, wie Dr. Schröder behauptete.

Von Braun mit "cum laude" benotete Dissertation hat in der Zeitschriften-Ausgabe einen Umfang von 48 Seiten, das Typoskript ist ca. 150 Seiten lang. Das mag wenig erscheinen, ist ist bei Arbeiten der Experimentalphysik allerdings keineswegs ungewöhnlich. Von einer "Bildersammlung" kann schwerlich die Rede sein, es sei denn, man nennt die seitenlangen Diagramme und Formeln so. Mir jedenfalls vermittelt sie den Eindruck einer typischen Dissertation im Bereich der experimentellen Naturwissenschaft, wo die Arbeit in erster Linie im Labor oder auf dem Prüfstand, und nicht am Schreibtisch geleistet wird.
Soweit ich es beurteilen kann, leistete von Braun echte Pionierarbeit. Er kannte und zitierte zwar die theoretischen Vorarbeiten Hermann Oberths, aber sonst war er bei seiner Arbeit auf sich und seine unmittelbaren Mitarbeiter gestellt. Es gibt zwar noch die entfernte Möglichkeit, dass jemand anders für ihn die Arbeit gemacht hat, aber 1934 gab es auf der ganzen Welt nur eine handvoll Menschen, die dazu überhaupt in der Lage gewesen wären.
Promotionsbetrug ist also extrem unwahrscheinlich, und eine "Arbeit auf dem Niveau eines Studenten im zweiten Semester" ist sie nun wirklich auch nicht. Vielleicht vermisste Dr. Schröder als Mathematiker bei den Differenzialgleichungen die mathematische Eleganz - Mathematiker halten Physiker, vor allem Experimentalphysiker, in dieser Hinsicht bekanntlich gern für schludrig und unbeholfen. Vielleicht meinte er ja, dass die verwendete Mathematik von Mathe-Studenten spätestens nach dem zweiten Semester beherrscht würde. Für erheblich wahrscheinlicher halte ich es, dass Dr. Schröder die Arbeit Dr. von Brauns nie selbst gelesen hatte, was, da er ja als Steuerungsfachmann arbeitete, und sein Fachgebiet die in von Brauns Dissertation untersuchten Verbrennungsvorgänge in Raketentriebwerken nur am Rande berührte, nicht verwunderlich wäre.

Dr. Paul Schröder hat, was die Dissertation von Brauns angeht, also gelogen oder, was auch nicht viel besser ist, aufgrund von Gerüchten drauflos spekuliert, was kein gutes Licht auf ihn wirft!

Eine weitere Unstimmigkeit ist, dass der Projektleiter Walter Dornberger von Braun jahrelang alle Kompetenzen entzogen hätte. Schröder schließt das aus der angeblichen Abwesenheit von Brauns bei wichtigen Sitzungen. Allerdings gehörte Schröder nach 1939 nicht mehr zum Entwicklungsteam, konnte also gar nicht aus erster Hand wissen, an welchen Sitzungen von Braun, immerhin technischer Direktors der Versuchsanstalt, seitdem teilnahm.

Was von der "Sensation" bleibt, sind altbekannte Tatsachen. Von Braun war kein herausragender Experte, kein Spitzenwissenschaftler oder -techniker auf einem bestimmten Gebiet. Er war Generalist, ein technischer Manager, der den Überblick über das Projekt behielt und Detailfragen delegierte. Es ist also nichts Besonderes, wenn er sich auf dem Gebiet etwa der Steuerung weit weniger gut auskannte als seine Mitarbeiter. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass von Braun von seinem Vorgesetzten und Freund Dornberger zurückgepfiffen wurde, weil er dazu neigte, sich zu viel um technische Details zu sorgen. Es ist eine erst recht banale Feststellung , dass von Braun Fehler machte und Irrwege (auch technische, politische und ethische sowieso) einschlug.
"Niemand hat behauptet, von Braun hätte die Flüssigkeitsrakete erfunden oder die V2 allein entwickelt."
Jesco von Puttkamer in Dieser Mann - ein Schwindler? ("Die Welt").

Der Archivfund von Schröders Dossier ist eine zeitgeschichtliche Marginalie. Die Geschichte der V-Waffenentwicklung muss nicht einmal in Details nicht neu geschrieben werden.

Samstag, 11. Juni 2011

Baureihe 23 - oder: die Lokomotive der Rätsel

Roger Murmann besuchte The original Darmstädter STEAMpunk-Convention. (Bei viel Steam ging da echt der Punk ab... :-) )
Das gerade 35 gewordene Eisenbahnmuseum Kranichstein birgt eine Lokomotive, die bei Science-Fiction-Fans ein wissendes Lächeln, und bei Verschwörungstheoretikern ein eiskaltes Gefühl in der Magengrube hervorruft - die (Trommelwirbel):
ILLUMINATISCHE ANTWORTLOK:
Steam Locomotive # 23 042
Während es bei den "Einheitsdampflokomotiven" der deutschen Bahnen immer nur eine Baureihe 01, 03, 24, 43, 50 usw. gab, gab es gleich drei sehr ähnliche, aber sich in technischen Details unterscheidende deutsche "Einheitslokomotiven" BR 23.

Noch seltsamer mag es erscheinen, dass die unmittelbare Vorgängerin der Baureihe 23 die Baureihe 38 (Ex-preussische P 8) war. Schließlich wurden die letzten 23er und 38er fast gleichzeitig Anfang der 70er Jahre außer Dienst gestellt - die "Vorgängerin" fuhr also so lange wie ihre "Nachfolgerin".

Die ursprüngliche Baureihe 23 der Deutschen Reichsbahn war eine Einheitsdampflokomotive, die als Ersatz für die Preußische P 8 von den Schichau-Werken konzipiert wurde. Das schreibt sich einfach dahin, tatsächlich war es gar nicht so einfach, eine Dampflokomotive zu konstruieren, die der P8 überlegen war. Die P8, genannt "Mädchen für alles", war eigentlich eine Personenzuglok, zog aber in der Praxis so ziemlich alles, außer den wirklich schnellen Schnellzügen und den ganz schweren Güterzügen. Außerdem war die P 8 eine sehr sparsame und robuste Maschine, die einfacher zu warten, zu reparieren und zu fahren war als vergleichbare Lokomotiven.
Daher ist es nicht erstaunlich, dass Friedrich Witte schon 1937 bei den ersten Entwürfen für die Baureihe 23 eine Lokomotive mit der Achsfolge 1'C1' und Verbrennungskammerkessel anstrebe. Der Entwurf wurde jedoch von seinem Vorgesetzten Richard Paul Wagner abgelehnt.
Da Wagner sein Amt als Dezernent für die Bauart der Dampf- und Motorlokomotiven im Reichsbahn-Zentralamt wie ein "kleiner Diktator" ausübte, und, trotz allen Charmes, der ihm nachgesagt wurde, abweichende Ansichten von Untergebenen und Kollegen nicht ertrug, ist das nicht weiter erstaunlich. Von Reichsbahndezernent Wagner wird berichtet, dass er in den 1930er Jahren die Technik eines Lokomotiventwurfes einer deutschen Lokomotivfabrik nach dem Vorbild des "Großmeisters des Dampflokomotivbaus" André Chapelon, als "eines deutschen Ingenieurs nicht für würdig" befand. Ob das daran gelegen hat, dass Chapelon Franzose war, oder daran, dass Wagner, als Theorieverächter, den ausgefeilten thermodynamischen Berechnungen nicht traute, oder er es einfach nicht möchte, wenn Maschinen anders konstruiert wurden, als er es für richtig hielt, ist fraglich. Wagner war wahrscheinlich auch deshalb so engstirnig, da er offensichtlich mehr an Macht als an Technik interessiert war - womit er "hervorragend" in diese Zeit passte. Sein Nachfolger, Witte, war zwar auch machtbewusst und nazi-freundlich, allerdings eher vom opportunistischen Typ, und hatte, zumindest was die technische Seite betraf, einen weiteren Horizont.

Zurück zur 23. Auch wenn Witte sich mit seinem Verbrennungskammer-Kessel nicht durchsetzte, erhielten die beiden Prototypen der 23 die Achsfolge 1'C 1', was bessere Laufeigenschaften als bei der "ruppigen" und bei Rückwärtsfahrt ausgesprochen unruhig laufenden P8 sicherstellte. Sie erhielte den gleichen Kessel und den gleichen Tender wie die parallel entwickelte Güterzuglok der Baureihe 50 und hatte auch sonst viele konstruktive Gemeinsamkeiten. Es bliebt aber bei den 1941 gebauten beiden Prototypen. Es war zwar geplant 800 Lokomotiven anzusschaffen, aber im Zweiten Weltkrieg hatten die für den Nachschub wichtigen Güterzugloks absoluten Vorrang.

Die Konstruktion der Lokomotiven diente nach dem Krieg als Grundlage für die ebenfalls als Baureihe 23 eingeordneten Neubaulokomotiven der Deutschen Bundesbahn und der Deutschen Reichsbahn der DDR. Damit stellt sich ein weiteres Rätsel: Wieso wurden zu einer Zeit, als es schon leistungsfähige Dieselloks gab, noch neue Dampflokomotiven gebaut?

Obwohl fast die Hälfte des rollenden Materials der Reichsbahn in der Kriegs- bzw. unmittelbaren Nachkriegszeit verloren ging, hatte die Deutsche Bundesbahn bei ihrer Gründung zwar, wegen des "Übergangs-Kriegslok-" und "Kriegslok-"Bauprogramms, ausreichend viele relativ neue Güterzuglokomotiven. Da viele hochwertige Lokomotiven aus den ostdeutschen (heute polnischen) Bahnbetriebswerken nach Westdeutschland verbracht worden waren, und auch Loks aus der späteren sowjetischen Besatzungszone vor der vorrückenden Roten Armee "in Sicherheit" gebracht wurden, gab es auch ausreichend viele Schnellzuglokomotiven - ausreichend wenigstens für den geringen Bedarf der Nachkriegszeit.
Nach dem Krieg musste man mit dem leben was man hatte, außerdem war die Neuentwicklung von Lokomotiven gemäß den Bestimmungen des Potsdamer Abkommens eingeschränkt, und so wurden neue Lokomotiven in Deutschland erst Ende der 1940er / Anfang der 1950er Jahre konstruiert, als an sich schon abzusehen war, dass die Dampflok keine große Zukunft mehr haben würden. Da aber die Elektrifizierung auch nur der Hauptstrecken auch unter günstigen Voraussetzungen Jahrzehnte dauern würde (tatsächlich ist sie selbst heute noch nicht ganz abgeschlossen), und da die "heimische Kohle" als einziger sicher verfügbarer Energierohstoff galt, rechnete man bei der jungen Bundesbahn noch damit, dass neu gebaute Dampfloks noch die bei der Konstruktion zugrunde gelegte Nutzungsdauer von 40 Jahren überstehen würden.
Was der Bundesbahn 1949 vor allem fehlte, waren vielseitige Personenzuglokomotiven - sie fehlten so sehr, dass sogar an einen Nachbau der alten P8 nachgedacht wurde. Daher wurde die BR 23 wieder aktuell.
Die Baureihe 23 der Deutschen Bundesbahn, zu der die illuminatische Antwortlok gehört, stammte allerdings nicht direkt von der BR 23 der Reichsbahn ab. Friedrich Witte, der 1948 die Leitung der Lokomotivbau- und Einkaufsabteilung der Bahn in den westlichen Besatzzungszonen übernahm (ab 1949 Deutsche Bundesbahn) setzte weitgehend "seine" Bauform mit geschweißtem Hochleistungskessel und Verbrennungskammer durch, die er bereits 1937 geplant hatte. Dank des effizienteren Kessels war die neue BR 23 um 300 PSi stärker als die alten Prototypen, bei etwa dem gleichen Brennstoffverbrauch.
Ab 1950 wurden 105 Lokomotiven der neu konstruierten Baureihe gefertigt. Das Fahrzeug mit der Betriebsnummer 23 105 war im Dezember 1959 die letzte Dampflok, die bei der Deutschen Bundesbahn ihren Dienst aufnahm.
Grundsätzlich war die 23 für den mittelschweren Personenzug- und den leichten Schnellzugdienst konzipiert - was man schon an der Größe der Räder, die für die Beschleunigung eines schweren Güterzuges nicht optimal wären, sehen kann. Wie ihre "Vorgängerin", die P8, war sie trotzdem "Mädchen für alles", allerdings war die Zughakenleistung der moderneren Lok mit 1480 PSe um mehr als 50 % höher als bei der P8, was die 23 noch vielseitiger machte.
Typischerweise zog die BR 23 Nahverkehrs- und Eilzüge, aber auch Postzüge und Leichtgüterzüge im Stückgut-Schnellverkehr ("Leig-Einheiten") gehörten zu ihrem Einsatzgebiet. In den 1950er Jahren wurde sie sogar planmäßig vor hochwertigen Fernschnellzügen eingesetzt. Ebenfalls planmäßig wurden die "23er" vor einem Schnellgüterzug aus Bremerhaven, dem "Fischzug", ab Würzburg als Vorspann vor Loks der Baureihe 50 eingesetzt.
"Unplanmäßig", dass heißt, beim Ausfall der regulären Loks, konnte man die "23er" noch in den 1960er Jahren vor D-Zügen sehen. Nach Angaben ehemaliger Mitarbeiter des Bahnbetriebswerks Kaiserslautern wurden noch um 1970 die Pariser Schnellzüge zwischen Kaiserslautern und Frankfurt/Main durch das Alsenz- und Nahetal mit "23ern" befördert, wenn die planmäßigen Dieselloks der Baureihe 220 (V 200) "mal wieder" ausgefallen waren. Trotz Ihrer relativ geringen Höchstgeschwindigkeit von 110 km/h hätten die Dampfloks dabei problemlos die planmäßigen Fahrzeiten halten können. Das muss kein "Bahnerlatein" sein, denn einerseits konnten die 23ern durch ihre gute Beschleunigung einiges wettmachen, anderseits waren die Leistungsreserven dieser Loks, wenn Lokführer und Heizer ihr Handwerk verstanden, groß genug, um deutlich schneller fahren zu können, als offiziell möglich war.
Anders als der unproblematische Kessel der P8 brauchte der Hochleistungskessel der 23er sorgfältige und erfahrene Heizer - weshalb es mit diesen Loks durchaus auch Probleme gab. Vor allem aber brauchte die 23er den richtigen Brennstoff, wenig schlackende Steinkohle, während die P8 notfalls so ziemlich mit "allem, was brennt", betrieben werden konnte (die minderwertige Braunkohle, "Blumenerde", auf die die Reichsbahn der DDR zurückgreifen musste, verlangte dem Heizer allerdings körperliche Höchstleistungen ab - der konnte kaum so schnell schaufeln, wie die Feuerung die Kohle weg fraß). Eine weitere "Macke" der 23er war ihr störanfälliger neu entwickelter Heißdampfregler. Nach dem Einbau von bewährten Nassdampfreglern erwies sich die BR 23 als sehr zuverlässig.

Gegen Ende ihrer Nutzungszeit wurde die 23, die ab 1968 mit der Einführung des neuen Baureihenschema der DB im Januar 1968 die Baureihennummer 023 trug, häufiger vor Güterzügen eingesetzt. Auch in diesem Einsatzgebiet schaffte die Lok "Heldentaten", für die sie eigentlich nicht konstruiert worden war, z. B. diese (nach Ebel, Die Neubau-Dampflokomotiven der Deutschen Bundesbahn, Kohlhammer, 1982): Die Strecke vom Ruhrgebiet zum "Eisenerz-Hafen" Emden war bis 1972 nur bis Münster-Nevinghoff elektrifiziert. Ein 200-achsiger leerer Zug aus Erzwagen stand am 21.2.1971 zur Weiterbeförderung nach Emden bereit, die planmäßige schwere Güterzuglok der Baureihe 043 hatte Überhitzerschaden. In Münster stand nur noch eine 023 bereit. Kurzfristig entschied man sich, dass die 023 102 den Erzzug - der mit ca. 1100 t auch leer "an sich" viel zu schwer für die Personenzuglok war - nach Rheine, wo eine schwere Güterzuglok bereit stand, bringen, dann nach Münster zurückfahren und ihren planmäßigen Personenzug nach Emden übernehmen sollte.
Nachtrag: die BR 23 war dafür konstruiert, einen 600 t schweren Zug in der Ebene mit 110km/h zu befördern, und keineswegs für einen 1100 t-Zug bei 60 km/h (was rechnerisch die gleiche Leistung "am Haken" erfordert).
Die 023 102 hatte offensichtlich einen Könner an den Reglern: die Lok setzte den aus 50 schweren Fad-Waggons bestehenden Zug langsam und ohne Schleudern (Durchdrehen der Antriebsräder), was wohl das Liegenbleiben bedeutetet hätte, in Bewegung. Zwei Stunden später war 023 102 wieder in Münster, um den planmäßigen Personenzug zu übernehmen. Probleme hat es also anscheinend nicht gegeben. Wenn ich von solchen "Heldentaten" höre oder lese, kann ich die nostalgischen Stoßseufzer älterer Bahnkunden angesichts wegen eher banaler Störungen ausgefallener Züge gut verstehen.

Obwohl sich also die Lokomotiven der Baureihe 23 gut bewährten, blieben sie nur wenig länger als die "alten Preußinnen" P8 im Dienst, die sie eigentlich ablösen sollten. Der Traktionswandel hin zu Diesel und Elektroloks ging, dank "Wirtschaftswunder" und damals billigem Öl schneller vonstatten, als 1949 vorhergesehen werden konnte. Zuletzt waren die Lokomotiven in den Bahnbetriebswerken Crailsheim, Saarbrücken und Kaiserslautern beheimatet. Der planmäßige Einsatz endete am 27. September 1975. Als letzte Lokomotive wurde im Dezember 1975 die 23 058 im Bw Crailsheim ausgemustert - nur ziemlich genau 13 Jahre nachdem die letzte 23 in Dienst gestellt worden war.

Auch wenn es hier schwerpunktmäßig um die 23er der Bundesbahn geht, soll ihr Gegenstück bei der Reichsbahn der DDR nicht vergessen werden. Tatsächlich wurde die DR-Baureihe 23.10 mit 113 Exemplaren etwas häufiger gebaut und war deutlich länger im Dienst (bis 1991) als die "West-23er".
Die 23.10 der DR wurde ab 1955 gebaut. Anders als die 23 der DB stammt die 23.10 direkt von den Prototypen der 23 der Vorkriegs-Reichsbahn ab und hat deren Abmessungen, technisch weist sie aber viele Parallelentwicklungen zur Schwesterbaureihe der Deutschen Bundesbahn auf. Wie diese hat sie z. B. einen geschweißten Blechrahmen (statt des geschmiedeten Barrenrahmens der Prototypen), einen geschweißten Hochleistungskessel mit Verbrennungskammer und ein nach ergonomischen Grundsätzen neu gestaltetes Führerhaus. Anders als bei der BR 23 der DB wurden ihre Feuerung und ihr Kessel für die in der DDR notgedrungen verwendete Braunkohle optimiert - was bedeutet, dass sie, wie die meisten Maschinen mit Neubaukesseln aus DDR-Produktion, mit hochwertigen Brennstoffen (Steinkohle oder Ölfeuerung) wahre "Dampfleistungsungeheuer" sind. Regulär erbrachte die 23.10 eine induzierte Leistung von 1.250 kW (gegenüber 1.312 kW induzierter Leistung der DB 23), mit hochwertiger Feuerung soll die "Ostlok" jedoch die stärkere sein.
Die 23.10 war ebenfalls eine sehr vielseitig eingesetzte Maschine, die im Laufe ihrer Einsatzzeit praktisch alles zog, was sie ziehen konnte. In der Regel zog sie etwas "hochwertigere" Züge als die DB 23er, ihr Einsatzschwerpunkt war der leichte bis mittelschwere Schnellzugdienst.
Eigentlich sollte die ab 1970 auf die Betriebsnummern 35 1001–1113 umgezeichneten Lokomotiven 1977 abgestellt werden, aber die Ölkrise sorgte dafür, dass einige Loks bis 1985 eingesetzt wurden. Ab dieser Zeit bleib die 35-1113 als Traditions- und Reservelok im Dienst, bis sie 1991 offiziell außer Dienst gestellt wurde.


23042 wird umgespannt. Kamera: Londo42

Ganz interessant, aber wenig rätselhaft ist vielleicht der "Lebenslauf" der 23 042.
Die 23 042 wurde bei Henschel in Kassel gebaut und am 21.12.1954 beim Betriebswerk Mön­chengladbach in Betrieb genommen. Bis 1965 war sie dort im Personen- und Eilzugdienst eingesetzt. Bei einer Ausbesserung im Ausbesserungswerk Nied erhielt sie 1964 den Tender der 23 034. Von 1965 bis 1971 war die 23 042 im Betriebswerk Bestwig beheimatet. Im Ausbesserungswerk Trier wurde ihr der auf Nassdampfregler umgebaute Kessel der bereits verschrotteten 23 043 eingebaut. In Crailsheim bis 1975 im Personenzugdienst eingesetzt. Am 25.10.1975 fuhr sie mit eigener Kraft ins Museum nach Darmstadt-Kranichstein, wo sie noch heute beheimatet ist. Bei der Deutschen Bundesbahn hatte sie bis dahin 1.580.000 km zurückgelegt. Nach längerer Standzeit wurde sie im Jahre 2005 mit Hilfe der Eisenbahnstiftung Joachim Schmidt wieder betriebsfähig hergerichtet.

Übrigens: Die 23 042 bietet auch etwas für Fantasy-Freunde.

Montag, 30. Mai 2011

Hobbys und Amateurpsychologen

Es gibt Hobbys, über die es viele Klischees und Vorurteile gibt. Das wäre nicht weiter der Rede wert, wenn nicht diese Klischees und Vorurteile nicht diversen Amateurpsychologen Anlass gäben, messerscharf zu erkennen, welche tieferen Gründe ansonsten doch ganz vernünftige Menschen dazu veranlassen würde, sich auf so merkwürdige Art die Zeit zu vertreiben. Und natürlich haben solche Schlüsse gar nichts mit Vorurteilen gegenüber den so charakterisierten Menschen zu tun! Man wisse doch genau, dass (hier die bevorzugte pop-psychologische Annahme einsetzen).

Was beim streichholzschachtelettikettensammelnden Großvater, der spinnenden (gemeint ist Wolle MM) Nachbarin oder dem seine Wochenenden als Ork verkleidet auf LARP-Events verbringenden Arbeitskollegen gilt, dass gilt auch z. B bei Politikern: sagt mir, welches Steckenpferd ein Minister reitet, dann sag ich dir, wie er z. B. zur Vorratsdatenspeicherung steht! (Eher ist der umgekehrte Schluss zulässig: Datenspeicher-Fans dürften in den seltensten Fällen einem Hobby nachgehen, das mit Computern und diesem Internetzdingens zu tun hat.)

Die Hobbys analysierenden Hobby-Psychologen dürften einer der Gründe sein, wieso Personalberater empfehlen, auf die Nennung von "Hobbys" im bei Bewerbungen zu verzichten. Auch wenn Nina Anika Klotz auf FTD.de ganz richtig feststellt, dass solche Angaben oft nichtssagend (Reisen, Lesen, Sport - gähn!) oder gelogen sind. Sie macht sich in ihrem Artikel Stirb, Steckenpferd, stirb! Gedanken darüber, wieso anscheinend immer weniger Deutsche ein klassisches Hobby (Kürbisse züchten, Buddelschiffe bauen, Mineralogie ... ) haben.
Die These: "Neue Medien" ersetzen traditionelle Hobbys. (Oder, so verstehe ich es: die Leute haben heute oft andere Hobbys als früher. Welche Überraschung - ich hätte noch von 15 Jahren schwerlich Blogger sein können.)
Nebenbei zeigt der Artikel, dass sogar richtige Psychologen nicht über die oben erwähnte vorurteilsgestützte Küchenspsychologie erhaben sind. Psychologe Peter Zellman findet:
"So gut war das Hobby früher ja nicht, es hat sehr viel Zeit in Anspruch genommen. Eigentlich war es ein Abkapseln. Sich Zeit für ein Hobby zu nehmen hatte etwas Egoistisches und Egozentrisches." Viele Familien und Freundschaften seien an übertriebenem Zeitaufwand für das Hobby zerbrochen.
Da stellen sich natürlich die Fragen: a) ob solche Besessenheit von einer Freizeitbeschäftigung wirklich oft vorkam, b) ob nicht "Workoholics", die keine Hobbys, sondern nur ihre Arbeit kennen, nicht mehr Familien und Freundschaften auf dem Gewissen haben, und c) moderne Freizeitbeschäftigungen wirklich in dieser Hinsicht harmloser sind als Briefmarkensammeln oder Modellbahnen. Facebook-Profile pflegen soll immerhin geselliger als die Spielerei mit einer Märklin (Schleichwerbalarm!) sein.
Wenn Modellbahnspielen ein ungeselliges Hobby ist und auf die Dauer in die Selbstisolation führt - wozu gibt es die vielen Modellbahnclubs, Modellbahnerstammtische, Modellbahnforen - und inzwischen auch Modellbahngruppen auf Facebook?

Ich bin selbst kein Modellbahner (jedenfalls nicht mehr), kenne aber welche und könnte mir gut vorstellen, diesem Hobby nachzugehen.

Wahrscheinlich, weil ein Hobby wie Modelleisenbahn mit so vielen küchenpsychologischen "Erkenntnissen" besetzt ist (wahrscheinlich haben nur die Computerspieler mit mehr "psychologischen" Klischees über sie zu kämpfen), wählte René Pfister in seiner Reportage über Horst Seehofer dessen Modellbahnanlage als Einstieg. (Das soll kein Einstieg über einen weiteren überflüssigen Kommentar zu fiktiven Elementen in Reportagen sein - bliebe es dabei immer bei Modellbahnen, die der Reporter nie selber sah, wäre es um den Journalismus erheblich besser bestellt.) Seehofer hat also einen "Spieltrieb" und "Lust am Herrschen". Letztere Aussage ist klassische Hobby-Psychologie oder wäre es, wenn man Seehofer nicht ohnehin als sehr machtbewussten Politiker kennen würde. Ein anderes, weit verbreitetes Modellbahner-Klischee, nämlich, dass Menschen, die an Modelbahnanlagen basteln, sich in eine selbst geschaffene heile Welt zurückziehen würden, trifft auf den bayrischen Ministerpräsidenten eher nicht zu.

Ich finde es ist manchmal erstaunlich, wie sehr anpsychologisierte Erklärungen für eine bestimmte Eigenart von Hobbyisten selbst nahe liegenden anderen Erklärungsmodellen vorgezogen werden. Es wirkt richtig erfrischend, wenn ein Modellbahner in seinem Blogs auf die Frage, wieso die Modellbahnbranche in Schwierigkeiten steckt, ganz pragmatische und nachvollziehbare Gründe nennt, anstatt lang und breit über Mentalitätswandel, Wertewandel oder sonst einen -wandel zu räsonieren.
Eine - anscheinende - "Binsenwahrheit" kommt aber auch in diesem Artikel vor: Die "Epoche III" (vom Ende des 2. Weltkriegs bis 1968 oder 1970 in der ehemaligen DDR und in Österreich und der Schweiz) hat den größte Anteil an Modellbahnen in Deutschland, da das die Zeit wäre, in der die meisten Modellbahner ihre Kindheit hatten.
Es ist wahrscheinlich etwas an der Vermutung dran, dass viele Modellbahner ihre Kindheitserinnerungen nachspielen. Aber sie ist nicht die ganze Wahrheit. Auch meine Modellbahn, die ich als Jugendlicher besaß, war eine "Epoche III"-Bahn - was auch daran lag, dass diese Epoche noch nicht lange vorbei war, als ich meine erste Lok zu Weihnachten geschenkt bekam. Der Hauptgrund war aber, dass ich gern sowohl "nostalgische" Dampfloks wie Loks wie jene, die ich selbst am Bahnhof "in echt" zu sehen bekam, auf meiner Anlage haben wollte. Anfangs störten mich Anachronismen wenig, als ich ansatzweise begann, mich darum zu kümmern, stellte ich fest, dass bis auf einige Container-Wagen mein "rollendes Material" mit einigen kleinen Kompromissen (Beschriftung) recht gut in die Epoche III passen würde - wobei allenfalls meine frühe Kindheit in diese Zeit fällt.
Wäre ich beim Modellbahnhobby geblieben, wäre ich wohl auch bei Epoche III geblieben. Und warum nicht? Immerhin war das die Zeit, in der alle drei Traktionsarten (Dampf-, Elektro-, Dieselloks) nebeneinander bestanden. In der Epoche II gab es noch praktisch keine Dieselloks, in der Epoche IV nur noch einige Jahre einige wenige Dampfloks. Die Typenvielfalt war sehr groß - in Epoche IV setzte eine "Flurbereinigung" der Baureihen ein, aus Rationalisierungsgründen wurden "Splitterbaureihen", auch wenn sie noch recht neu waren, ausrangiert. Es gab noch viele Nebenbahnen, ein dankbares Thema für Modellbahnen (das betrifft mehr die "Westbahner" wie mich, bei der Deutschen Reichsbahn der DDR gab es kein so einschneidendes "Nebenbahnsterben" wie bei der Deutschen Bundesbahn).
Würde ich heute wieder mit dem "Modellbahnen" anfangen, würden mich auch die Epochen VI mit den ganz modernen Zügen und I - die Länderbahnzeit vor 1923 - reizen. Hingegen wäre die Epoche IV, in die der größte Teil meiner Kindheit und Jugend fällt, für mich wenig attraktiv.

Zurück zum Thema: Ich habe mich oft darüber geärgert, wenn ich als Science-Fiction- und Fantasy-Fan als "unreifer Spinner" bezeichnet wurde, und mir andererseits anhören musste, dass Maler und Zeichnen doch typische "Rentnerhobbys" seien. Diesen und ähnlichen "Menschenkennern" widme ich diesen Artikel!

Samstag, 21. Mai 2011

Es sind keine Zufälle!

Wie langjährigen Lesern meines Blogs bekannt sein dürfte, habe ich für "Verschwörungstheorien" nichts übrig.
Das heißt aber noch lange nicht, dass ich Vorfälle wie diese: Tödlicher Schuss im Jobcenter (Süddeutsche.de) für eine reine Verkettung unglücklicher Umstände halten würde.
Es gab schon viele Fälle, denen Jobcenter-"Kunden" durchdrehten und gewalttätig wurden bzw. "amokliefen". Tatsächlich wundert es mich eher, wie wenig eigentlich in Jobcentern passiert.
Polizisten, die auf fatale Weise falsch reagieren - hätte die Angreiferin nicht anders gestoppt werden können, als mit einem tödlichen Schuss? - gibt es auch nicht gerade selten.
Wobei: unter Umständen könnte es sogar verständlich sein, dass die Polizistin geschossen hat. Nicht bestreiten will ich, dass die Situation war für den angegriffenen Polizisten gefährlich war.
Der Skandal ist, dass die Situation überhaupt so weit eskalieren konnte. (Und damit fordere ich jetzt nicht, dass Jobcenter-“Kunden“ künftig einem Sicherheits-Check im Flughafen-Stil unterworfen werden sollten – dieser Vorschlag kommt garantiert.) Leider überaus typisch war der Grund des Streites. Die Nigerianerin wollte eine Barauszahlung, der Sachbearbeiter bestand auf einer Überweisung. Eine gesetzlich zulässige Barauszahlung hätte die Situation deeskaliert - es ging um ganze 50 Euro - und vermutlich ein Menschenleben gerettet.
Ich verstehe auch nicht, warum die Polizisten auf die Angabe der Personalien bestanden, nachdem die Frau ausgerastet war, denn die Identität der Frau war im Jobcenter bekannt. Ja, ich weiß, solche Fragen sind reine Routine. Allerdings dachte ich bisher, dass Polizisten eigentlich wissen müssten, dass sie mit solchen Fragen einen Menschen, der buchstäblich von Sinnen ist, nur in die Enge treiben und die Rage geradezu anheizen.

Das Problem liegt in der Struktur des Betriebes "Jobcenter". Und zwar nicht beim kleinen Sachbearbeiter. Sondern auf der politischen Ebene. Und im (auch nicht vom Himmel gefallenen) gesellschaftlichem Klima.

Genau da liegt sich auch hier: Ausländerbehörde: “Ich mache dich alle, du russisches Schwein!”. Klar, es sind die Beamten und Angestellten, die Flüchtlinge bedrohten, beleidigten und nötigten. Und die juristische Schuld liegt voll und ganz und auch zurecht bei ihnen.
Aber wieso kommen kleine Sachbearbeiter überhaupt auf die Idee, solche Methoden anzuwenden - und offensichtlich für legitim zu halten? Ein möglicher Hinweis: ein Opfer gibt an, in der Befragung als "Asylbetrüger" beschimpft worden zu sein.

Zu wünschen wäre eine Diskussion über Amtsfehler und falsche Reaktionsmuster, über fehlende Deeskalation und gefährliche Klischees.

Aber was erwarte ich, wenn sogar die deutsche Bundeskanzlerin sich mit rechtspopulistische Behauptungen über die Faulheit von Südeuropäern, von denen sie weiß, dass sie nicht stimmen, profiliert?

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