Samstag, 12. Februar 2011

Aus der Wunderwelt der gut-doofen Filme - heute: Die Olsen-Bande fährt nach Jütland

Dieser Film hat zwei Dinge mit dem von mir zuletzt als "gut-doofer Film" vorgestellten
"Der Frosch mit der Maske"
gemeinsam: er ist ein Kriminalfilm und er wurde in Dänemark gedreht.
Sonstige Ähnlichkeiten wären rein zufällig.
Bildet olsenbanden"Jeg har en kup!" Egon Olsen

Es gibt nicht weniger als 14 dänische Kriminalkomödien um die Olsenbande. Weniger respektvolle Kritiker schreiben "Kriminalklamotten", womit sie meines Erachtens nicht ganz unrecht haben.
Die zwischen 1968 und 1998 entstandenen Filme erzählen von den immer neuen Versuchen dreier Krimineller, durch einen von Bandechef Egon Olsen ausbaldowerten "großen Coup" reich zu werden. In der Synchronisation der DEFA wurde aus "Jeg har en kup!" ein "Ich habe einen Plan!", was zwar nicht wortgetreu, aber irgendwie genial ist - jedenfalls eröffnete diese freie Übersetzung in der ehemaligen DDR mit ihrer Zentralplanwirtschaft, der staatlichen Plankommission, den Plankennziffern, den Perspektivplänen, der nicht immer gelingenden Planerfüllung und der stets geforderten Plandisziplin eine Fülle von (angeblich) ungeplanten Anspielungen und Assoziationen auf den gründlich verplanten realsozialistischen Arbeitsalltag.
Die DEFA-Synchro tat noch etwas, das der Popularität zugute kam: sie schwächte den deftigen, oft mit Fäkalsprache angereicherten Humor des Original auf "familientaugliches Maß" ab. Das deutlichste Beispiel ist die ständige Redensart Benny Frandsens (das ist der mit den Hochwasserhosen und den gelben Socken): auf Dänisch sagt Benny bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit "skidegodt", ("Scheiße gut" oder "scheißgut"), auf deutsch "mächtig gewaltig". Auch Egon Olsens schier unerschöpflicher Fluchwortschatz wurde entschärft.

Die gelungene Synchronisation kann aber nicht allein erklären, wieso die Olsen-Bande in der DDR ein Riesenerfolg war. Wieso die Reihe vor 1989 im "Westen" floppte, ist jedoch kein Rätsel: die West-Synchronisation war einfach unterirdisch schlecht. Nach der "Wende" fanden die Olsens dank DEFA-Synchronisation auch im Westteil Deutschlands viele Freunde, "Kult-Filme" sind die dänischen Klamotten um das schräge Ganoventrio aber nach wie vor im "Osten".

Die Olsenbandenfilme bauen auf einem Handlungsmuster auf, das nur geringfügig variiert wird. Typischer Ablauf: Egon Olsen wird aus dem Gefängnis entlassen, wo er einen genialen Coup ausgetüftelt hat. Trotz aller Widrigkeiten gelingt der wahnwitzige Plan, bis er im letzten Moment an irgendeiner dummen Kleinigkeit doch noch scheitert. Egon wird als einziges Bandenmitglied verhaftet.

Das war aber nicht von Anfang an so: Der erste Film "Die Olsenbande" (1968) ist eine Actionkomödie, der Humor ist deutlich auf ein erwachsenes Publikum zugeschnitten (die Olsenbande verkehrt z. B. regelmäßig in "Connys Bordell"), und ist streckenweise eine Parodie auf Agentenfilme im Stil von "James Bond". Der zweite Film," Die Olsenbande in der Klemme" (1969), nähert sich dem Schema bereits an. Erst der dritten Film ist der erste "typische" Olsenbandenfilm:

Die Olsenbande fährt nach Jütland (Olsen-Banden i Jylland) von 1971

(Dänischer Trailer, ca. 3 min)

Egon Olsen sitzt (wieder einmal) im Gefängnis, wo er den Plan eines von den deutschen Besatzern im zweiten Weltkrieg erbauten Bunkers in die Finger bekommt, in dem ein Schatz liegen soll. Nach Egons Haftentlassung reist die Bande (mitsamt der Familie Kjeld Jensens, des Dicken) nach Jütland, zu den (aus Kopenhagener Sicht) hinterwäldlerischen Jüten, die einen (in Kopenhagener Ohren) unmöglichen Dialekt sprechen. (Es ist erstaunlich und für das Hörverständnis von Touristen mit magerem Volkshochschuldänisch manchmal frustrierend, wie viele deutlich voneinander abweichende Mundarten die Dänen in ihren kleinen Land unterbringen.)
In der Gegend um Thisted im Nordwesten Jütlands angekommen, macht sich die Bande auf die Suche nach dem Bunker. Nach einer Autopanne geraten sie an den Schrotthändler Mads Madsen und dessen stummen Gehilfen Betterøv, in einer Kleinstadt namens Hauerslev. Wie sich herausstellt, befindet sich der Strand mit dem bewussten Bunker ganz in der Nähe. Allerdings liegt der Bunker (ein typischer "Atlantikwall-Klotz") inzwischen größtenteils unter Wasser, womit die Schatzbergung "etwas" aufwendiger wird, als geplant.
Egon braucht also Startkapital und versucht deshalb, Mads Madsens Tresor zu knacken. (Der erste von zahlreichen Tresoren der Marke "Franz Jäger, Berlin" in den Olsenbanden-Filme.) Er wird jedoch von Madsen erwischt. Der Bande bleibt nichts übrig, als ihn einzuweihen und mit der Hälfte der Beute zu beteiligen. Mads will die für die Schatzbergung nötige Ausrüstung besorgen.
Außer der Olsenbande wissen aber noch Karin, eine ehemalige Einwohnerin Hauerslevs, und ihr Begleiter, der Ganove Rico, von dem Schatz. Rico versucht vergeblich Børge (den Sohn von Kjeld und seiner Frau Yvonne) zu entführen. Karin gelingt es dagegen, erfolgreich einen Leutnant zu becircen, der einen kleinen, über den Bunkern gelegenen, Militärstützpunkt befehligt.
Nach einige Schwierigkeiten und Gefahren - unter anderem einer noch scharfen riesigen Granate, die auf einer eher an eine Achterbahn erinnernden Munitionstransportschiene in Bewegung gerät - gelingt es der Olsenbande den Schatz zu bergen (Dollarnoten und Goldbarren, natürlich in einem Tresor von "Franz Jäger, Berlin").
In einer wilden Verfolgungsjagd gelingt es ihnen, auch Rico abzuschütteln. Die Bande versucht, sich nicht an die Abmachung mit Mads Madsen zu halten und gleich zum Flughafen zu fahren. Das Auto bleibt liegen, sofort taucht Madsens stummer Gehilfe Betterøv mit einem Abschleppwagen auf. Betterøv bringt die Bande zurück zu Mads Madsen, wo die Beute gemäß der Abmachung geteilt wird. Madsen behält die Goldbarren, die Olsenbande die Dollarnoten.
Egon bring das Geld zur Bank, während Benny, Kjeld, Yvonne und Børge in einem Café in Thisted feiern. Genau in dem Moment, in dem sie zufällig entdecken, dass die Dollars falsch sind, hören sie Polizeisirenen: Egon wird (wieder einmal) verhaftet.

Der dritte Olsenbanden-Film ist, bei aller Albernheit und allem Brachialhumor, kein wirklich "doofer" Film. Er steht in der Tradition der Slapstick-Komödien der Stummfilmzeit - damals machte das dänische Komikerduo Fy og Bi (deutsch: Pat und Patachon) auf dem europäischen Markt sogar den amerikanischen Slapsticks erfolgreich Konkurrenz.
Von den meisten anderen Olsenbanden-Filmen unterscheidet sich "Die Olsenbande fährt nach Jütland" dadurch, dass er einen 1971 noch heiklen Punkt berührt: Die deutsche Besatzungszeit Dänemarks im 2. Weltkrieg. Besonders heikel war dieser Punkt in Nordjütland. Einerseits litt die Bevölkerung dort mehr als in anderen Gegenden Dänemarks unter der deutschen Besatzung, vor allem wegen des Baus der gewaltigen Atlantikwall-Bunker, anderseits gab es in dieser vernachlässigten Gegend auch relativ viele Kollaborateure. Die auch in Dänemark wegen ihrer blutigen Racheakte gegen echte und leider auch nur vermeintliche Kollaborateure umstrittene Widerstandsbewegung "Holger Danske" hatten einen ihrer Schwerpunkte in Nordjütland.
Darauf kann eine in wesentlichem vom Slapstick lebende Filmkomödie natürlich nur andeutungsweise eingehen. Allerdings war das Thema "Nazizeit" an sich schon heikel. (Übrigens auch in der DDR - als Egon den Bunker durchstreift, entdeckt er plötzlich ein großes Porträt von Adolf Hitler. Diese Szene wurde aus der DEFA-Synchronfassung herausgeschnitten.) Auf einen aktuelleren heiklen Punkt stieg der Film allerdings ein: der Umgang des dänischen Militärs mit den weniger ruhmvollen Kapiteln der Besatzungszeit und den Hang, diese Zeit, bis auf einige unbestreitbare Heldentaten des Widerstandes, zu verdrängen. Die Militäranlage direkt auf deutschen Bunkern, in denen nicht einmal die Munition geräumt wurde (es sieht ganz so aus, als ob die Olsens die ersten wären, die den Bunker überhaupt untersuchen), spielt nicht nur auf die tatsächliche Weiternutzung ehemals nazideutscher Anlagen an (die ja durchaus nachvollziehbar ist), sondern auch darauf, dass die dänische Armee buchstäblich verdrängte, was so alles "unter ihr" lag.
Das vermischt sich natürlich mit den (in Dänemark typischen) sarkastischen Witzen über die angeblich notorisch geringe Kampfkraft und lasche Disziplin dänischer Streitkräfte, und mit (allerdings harmlosen) Witzeleien auf Kosten der Nordjüten.

Kleiner persönlicher Einschub: ich sah "Olsen-Banden i Jylland" während eines Dänemark-Urlaubs im dänischen Fernsehen. Sehr viel vom Text verstanden habe ich zugegebenermaßen nicht. Allerdings blieb mir deshalb gerade dieser Film besonders im Gedächtnis. In der deutschen Fassung habe ich später alle Olsenbanden-Filme gesehen. Bei manchen von ihnen weiß ich nicht allerdings nicht mehr warum.

Die Reihe der Olsenbande-Filme erstickte später an ihrem Schematismus. Dass sich die Masche erschöpfte, war Drehbuchautor Henning Bahs und Regisseur Erik Balling schon 1974 klar - der sechste Film sollte eigentlich der letzte sein. Zwar gilt der siebte Film (Die Olsenbande stellt die Weichen) wegen seiner gut durchdachten Handlung bei vielen Fans als der beste der Reihe, aber ist meiner Ansicht nach auch der letzte Olsenbandenfilm, der auch ohne vorherigen reichlichen Biergenuss (vorzugsweise "Carlsberg" oder "Tuborg") durchgehend unterhaltsam ist. Erst recht ist es zu bedauern, dass Bahs und Balling sich nicht gegen die Geschäftsführung der "Nordisk Film" durchsetzen konnten, als sie planten, die Bande mit dem zwölften und letzten Film in den Ruhestand zu schicken. Bei aller Selbstironie (und Ansätzen zur sozialkritischen Satire) wirken die späten Olsenbandenfilme auf mich eher peinlich.

Olsenbandefanclub Deutschland

Nordisk Film (Produktionsfirma)

Nicht vergessen!

mubarak merkel
(Mubarak und Merkel)

In deutschen Medien waren, wenn ich mich richtig erinnere, Mubarak-kritische Artikeln vor dem Januar 2011 eher dünn gesät. Nicht etwa, dass über die unterdrückerischen Verhältnisse in Ägypten nicht berichtet worden wäre. Aber eben auf der Schiene: "Die Araber sind eben so, und Demokratie ist deren Kultur sowieso fremd, und deren Mentalität ist ja ganz anders, die brauchen einfach eine starke Hand, immerhin sorgt er für Ruhe und Stabilität, hält er den Friedensvertrag mit Israel ein (über die Anti-Israel-Hetze und die antisemitischen Verschwörungstheorie in offiziellen (!) ägyptischen Medien reden wir besser nicht), und er hält die Migrantenströme unter Kontrolle (die sudanesischen Flüchtlinge, die er abknallen lässt sind doch kein Thema, selbst wenn es die UN darüber berichtet), die wirtschaftlichen Beziehungen sind bestens, und die Touristen sind sicher (und gut abgeschirmt, zu deren eigenen Sicherheit und damit sie sich unbeschwert erholen: es würde sie ja nur verstören, wenn sie mitbekämen, wie es in Ägypten wirklich ist)."

Kurz gesagt: vor gerade Mal einem Monat war der brutale Diktator Ägyptens noch ein ganz normales, sogar "pro-westliches", Staatsoberhaupt.
Leider scheint Opportunismus in Deutschland, zumal im politischen Deutschland, zum guten Ton zu gehören: "Was schert mich mein Geschwätz von gestern?" (Konrad Adenauer)

Mittwoch, 9. Februar 2011

T. ist zurück

T. R., die junge Frau, die ich am 7, Februar als vermisst gemeldet habe, ist gerade nach Hause zurückgekommen. Zum Schutz ihrer Privatsphäre entschied ich mich, den Blogeintrag mit ihren Fotos zu löschen.

Danke an alle, die geholfen haben, die Nachricht über T. R. zu verbreiten, und an alle, die die Augen offen gehalten haben!

Samstag, 5. Februar 2011

Das letzte Tabu

Ein Gedankenexperiment, angeregt durch einen Blogbeitrag von Ace Kaise: Til Schweiger fordert... Ja, was eigentlich? .

Til Schweiger wütet bei Lanz gegen Sexualstraftäter
Man stelle sich vor, Til Schweiger hätte in einer Talkshow gefordert, Anlagebetrüger nach verbüßter Strafe per Internet-Pranger kenntlich zu machen. Immerhin hätten diese Kriminellen Tausenden ihrer Opfer die gesichert geglaubte wirtschaftliche Existenz ruiniert und sind auch nach verbüßen ihrer Strafe mit ihrem Wissen über Finanzmärkte und ihrer Fähigkeit, Gutgläubige über den Tisch zu ziehen, nach wie vor gefährlich.

Absurd? Nicht unbedingt. In späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit war es üblich, einen Betrüger körperlich zu "zeichnen", durch Aufschlitzen der Nase oder eines Ohrs (daher kommt der Begriff "Schlitzohr"). Sicherlich könnte der eine oder andere durch eine "Betrüger-Warnliste" vor dem Ruin durch Anlagebetrug gerettet werden. Aber eben so sicher würde sie in der Praxis jede Rehabilitation unmöglich machen.

Til Schweiger würde wahrscheinlich antworten, es ginge schließlich nicht um schnödes Geld, sondern um Kinder. Da müsse man einfach, nach dem Vorbild der USA, doch das "Gutmenschentum" an den Nagel hängen und im Internet die Aufenthaltsorte entlassener Sexualstraftäter veröffentlichen. Da könne er sehe, ob in seiner Nachbarschaft ein Sexualstraftäter lebe oder nicht.
Schweiger ist Familienvater und hat Angst um seine Kinder. Aber das ist meines Erachtens nicht der entscheidende Grund, aus dem er so viel öffentliche Zustimmung für seinen Wutausbruch erhielt.

Bekanntlich werden die meisten Sexualverbrechen an Kindern von Verwandten, guten Bekannten und Familienangehörigen verübt. Laut Statistik des BKA sind das 96 % - nur 4 % der Täter gehören zu denen, die Schweiger um seine Kinder fürchten lässt.
Genau so bekanntlich wird diese traurige Tatsache gern verdrängt. Die Täter, die so etwas schreckliches wie Kinder vergewaltigen tun, sind (in der Regel) "normale" Menschen und meistens "normale Menschen, die wir kennen".
Daher ist es so beruhigend, sich auf "abnorme" Sextäter zu konzentrieren, die einem fremd sind, und die daher gekennzeichnet werden müssen.

Hinzu kommt, dass Schweiger mit einem Teil seines Wutausbruches einen tatsächlichen wunden Punkt berührt: Deutschland ist in der Tat eine "Tätergesellschaft", wie es eine Mitarbeiterin der Opferberatungsstelle "Wildwasser" ausdrückt. Es beginne damit, dass das Opfer einer Sexualstraftat ein Glaubwürdigkeitsgutachten vorlegen müsse. Vor allem die psychischen Schäden des Opfers werden kaum gewürdigt. Es wird in der Tat weitaus mehr für die Täter als für die Opfer getan.
Beifall für Til Schweigers Wutrede gegen Sex-Täter (der Westen)
Das ist allerdings kein Zufall. Sowohl die Gesetze wie die öffentliche Empörung konzentriert sich auf die Täter, wobei in den Boulevardmedien (und das können inzwischen sogar "An-sich-Qualitätsmedien" sein) offen Rachephantasien gepflegt werden. Es ist offensichtlich, dass eine harte Strafe für den Täter, womöglich die Todesstrafe, den Opfern auch nicht hilft.
Auch Till Schweigers Vorstellung, es müsse einen Internetpranger für Sextäter geben, ist faktisch täterfixiert! Denn ob das eine wirksame Prävention wäre, darf nach den Erfahrungen in den USA bezweifelt werden.

Es gibt aber noch einen tieferen Grund, wieso Schweiger mit diesem Wutausbruch so gut punkten kann - während er mit einen ähnlichen Ausbruch zu einem anderen Thema sich wahrscheinlich unmöglich gemacht hätte. Es ist der selbe Grund, wieso z. B. der Diskurs über Internetsperren immer und immer wieder auf das Thema "Kinderpornos" im Internet kommt.

Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern ist, so der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch, das einzige Tabu, das nach den Zeiten der sexuellen Aufklärung blieb.
Ich bin allerdings der Ansicht, dass es mindestens ein weiteres noch allgemein wirksames sexuelles Tabu gibt: das Inzesttabu. Selbst eindeutig einvernehmlicher Sex unter nahen Verwandten ist nach wie vor strafbar - obwohl es kein Opfer gibt. Das Inzesttabu schützt in gewisser Weise sogar eine große Tätergruppe der sexuellen Gewalttäter gegen Kinder, die der Eltern und Geschwister.

Ein Tabu ist etwa anderes als eine gesellschaftliche Ächtung. Raubmord ist allgemein geächtet, es gibt praktisch niemanden, der für einen Raubmörder auch nur ein Quentchen Verständnis hätte. Trotzdem umgibt das Verbrechen "Raubmord" kein Tabu.
Tabus sind unhinterfragt, strikt, bedingungslos. Mit Tabu belegte Handlungen unterliegen stillschweigenden Übereinkünften, die tiefer in das allgemeine Verhalten eingreifen als Gesetze und geschriebene und ungeschriebene Regeln und Normen.
Tabus gewährleisten eine nahezu maximale Übereinstimmung des Verhaltens und Handelns einer sozialen Gruppe - wer ein Tabu verletzt oder auch nur hinterfragt, wird ausgegrenzt. Nicht allein der Täter ist "abgrundtief böse", sondern auch jeder, der wagt, den Täter nicht für "abgrundtief böse" zu halten. Auch weil normalerweise niemand enge Bekannte oder Familienangehörige für durch und durch "böse" hält, konzentriert sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf nur vier Prozent der potenziellen Täter.

Tabus haben aber auch eine andere Seite: sie stiften Konsens, sie halten eine Gemeinschaft zusammen. Tabus stabilisieren das Machtgefüge einer Gesellschaft, denn Tabus beruhen auf existenziell empfundener, verinnerlichter Strafangst.
Damit gerät das einzige verbliebene Sexualtabu automatisch in den Fokus, wenn z. B. Politiker Zustimmung zu Gesetzentwürfen erzielen wollen, die beim Wahlvolk wenig beliebt sind. Mit dem Thema "Kinderschänder" erreicht man die am Leichtesten.
Das Inzesttabu wäre dafür nicht mobilisierbar, denn Inzest "im Internet" geht nicht.

Interview mit Volkmar Sigusch Kindesmissbrauch "Es muss endlich um die Opfer gehen"

Nachtrag: Es kursieren unterschiedliche Angaben darüber, wie hoch der Anteil der "fremden und unbekannten" Täter im Vergleich zu Tätern aus dem "Nahbereich" sind. Die von mir oben genannten 96 % der Sexualverbrechen an Kindern, die von "Verwandten, guten Bekannten und Familienangehörigen" hängen sehr davon ab, wie diese Gruppen definiert werden - und auch davon, welche Taten als "Sexualverbrechen" aufgefasst werden. Hinzu kommt eine Dunkelziffer, über deren Höhe es weit voneinander abweichenden Schätzung gibt.
Bei der Kriminalstatistik muss man sich vor Augen halten, dass darunter nur die Taten fallen, die angezeigt wurden. Je näher der Täter dem Opfer steht, desto geringer ist die Chance, dass es zu einer Anzeige kommt.
Hart gesagt: diese Zahl ist in beide Richtungen manipulierbar.

Unabhängig von den Zahlen gilt:
Klischee und Wirklichkeit: Während Kinder auch heute immer noch vorwiegend vor dem "fremden Mann" gewarnt werden, tritt sexueller Missbrauch durch Fremde vergleichsweise selten auf. Fremden Tätern sind in der erster Linie exhibitionistische und damit die eher harmlosen Formen des Missbrauchs zuzurechnen. Allerdings begehen (zumeist) fremde Täter auch die - sehr seltenen - Extremtaten (Entführung, Missbrauch, Misshandlung und schließlich sogar Tötung). Einen totalen Schutz vor solchen Gewalttaten gibt es nicht; dennoch sind eine fortwährende Angst oder gar Panik weder angebracht noch hilfreich. Denn: Nicht verängstigte, in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkte Kinder, sondern mutige, starke und selbstbewusste Kinder sind am wirksamsten vor sexuellem Missbrauch geschützt.
(Aus: Polizei-Beratung: Sexueller Missbrauch von Kindern)

Freitag, 4. Februar 2011

Eine notwendige Voraussetzung für gute Musik

Gute Musik ist nicht belanglos, nicht wohlanständig, nicht harmlos. Leicht, aber nur ganz leicht, zugespitzt: Wenn Musik gut ist, verletzt sie Tabus, bekennt ihre Sympathie für den Teufel und propagiert hässliche Dinge wie Drogen, Sex und unanständige Ausschweifungen. (Das gilt nicht nur für Rock'n'Roll, wo es offen Programm ist, sondern auch für Klassik, Jazz und Folklore usw. usw. )
Das macht aus einem provokativ gemeinten, zum Erbrechen sexistischen Proll-Hip-Hop mit Schema-F-Melodie noch keine gute Musik. Aber Musik, die sich peinlich genau an alle Konventionen hält, die niemanden weh tun und jedem gefallen will, ist schlechte Musik.

(Nachtgedanken zum FAWM, angeregt durch einen Teilnehmer.)

Montag, 31. Januar 2011

Heute gibts Ursuppe

Der fünfte Teil der von mir schon vorgestellten Video-Reihe "Tatsache Evolution: Was Darwin nicht wissen konnte" befasst sich mit Ursprungstheorien, d. h. der Frage, wie das Leben auf der Erde entstand bzw. wie es auf die Erde kam.

Unter vielem Anderem geht es auch um die "Ursuppe". Sie ist eine der drei wichtigsten erklärenden Theorien zur chemischen Evolution.

Die Gesetze der Physik und Chemie reichen aus, um im Prinzip den Ursprung der ersten Vorläufer-Zellen zu verstehen, obwohl noch viele Detailfragen zur chemischen Evolution ungelöst und daher Gegenstand der Forschung sind.
Mit dem Wort Ursprungsfrage assoziiert man in der Regel christlich-religiöse Glaubensinhalte. So bezeichnen z. B. die deutschen Kreationisten die "Ursprungsforschung" als "Königsdisziplin der Biologie". Als Alternative zur atheistischen "Makroevolutionslehre" bieten sie ihren von der biblischen Offenbarung motivierten Schöpfungsglauben an - die Ursprungsfrage wird somit auf biblische Wunder zurück geführt und im Sinne des Intelligent Design-Kreationismus interpretiert. Diese inhaltsleere Schein-Erklärung eignet sich für kirchliche Sonntagsreden - sie hat jedoch in der Evolutionsbiologie nichts verloren.
Obwohl ich mich, anders als Dr. Kutschera nicht als Atheist verstehe, und meine Weltsicht nicht in allem völlig naturalistisch ist, gebe ich ihm da voll und ganz recht: Schein-Erklärungen und falsch verstandene Mythen haben in der Evolutionsbiologie (und im Bio-Unterricht in der Schule) nichts verloren!

Sonntag, 30. Januar 2011

Kinderfilmnostalgie: Ronja Räubertochter

Als Kind liebte ich die Bücher Astrid Lindgrens. Selbstverständlich liebte auch die Filme und Fernsehserien, die nach ihren Bücher entstanden.
Die meiner Ansicht nach schönste Lindgren-Verfilmung erstand leider erst zu einer Zeit, in der ich nicht mehr Kind war. Zum Glück gehört sie zu jenen Kinderfilmen, die auch Erwachsenen etwas zu sagen haben. Was nicht auf alle Lindgren-Verfilmungen zutrifft, die Fernsehserie "Kinder aus Bullerbü" beschreibt mir, als Erwachsener, eine zu "heile" Welt, andere Lindgren-Filme sind mit zu albern. Für Kinder im passenden Alter sind sie aber genau richtig!

"Ronja Rövardotter" ("Ronja Räubertochter", Schweden / Norwegen 1984, nach dem gleichnamigen Kinderbuch von Astrid Lindgren) gehört zu den Kinderfilmen, die für Kinder jeden Alters gemacht sind. Regisseur führte Tage Daniellsson, das Drehbuch schrieb Astrid Lindgren selbst.

Ronja ist die Tochter des Räuberhauptmanns Mattis und seiner Frau Lovis. Der Film beginnt in der Nacht, in der Ronjas geboren wird - (Lovis singt, während sie in den Wehen liegt:- "Damit es ein fröhliches Kind wird." Es sind solche Details, für die ich diesen Film liebe!) Ein Blitzschlag spaltet die Burg mitten im Wald, in der Mattis Bande lebt, in zwei Teile.
Ronja wächst inmitten Bande grober aber gutmütiger Räuber auf. Im Hauptteil des Filmes ist sie etwa 10 Jahre alt und ein extrem selbstbewusstes und selbständiges Mädchen, ein echter Wildfang. Sie ist aber auch schlau und erkennt Probleme und hinterfragt Dinge, die für die Erwachsenen "selbstverständlich" sind. (Mit der damals elfjährigen Hanna Zetterberg ist Rolle perfekt besetzt. Ihr Aussehen entspricht genau Astrid Lindgrens Beschreibung, und die junge Schauspielerin wirkt von ihrem ganzen Auftreten selbstsicher und überzeugend.)
Eines Tages zieht die verfeindete Räuberbande von Borka Borkason in die zweite Hälfte der Burg ein, die nun "Borkafeste" genannt wird. Mit Borka auch seine Frau Undis und ihr Sohn Birk.
Ronja und Birk werden rasch beste Freunde, sehr zum Ärger ihrer verfeindeten Eltern, die sich gegen diese tiefe Freundschaft der Kinder stellen. Als der Streit zwischen den beiden Banden eskaliert, ziehen Ronja und Birk gemeinsam in eine Höhle im Wald. Mattis Sehnsucht nach seiner Tochter bewegt ihn schließlich dazu, mit Borka den Streit beizulegen lösen.
ronja

"Ronja Räubertochter" ist meines Wissens der einzige "echte" Fantasy-Film nach einem Roman Lindgrens. Obwohl fast alle Geschichten der schwedischen Schriftstellerin phantastische Elemente enthalten, und oft ausgesprochene Kunstmärchen sind, sind es eher ihre "realistischen" Geschichten, die den Weg auf Leinwand und Bildschirm fanden. Wobei die Rumpelwichte und Wilddruden in "Ronja Räubertochter" ja nicht unrealistisch sind - sie sehen genau so aus und verhalten sich so, wie sich echte Wilddruden und Rumpelwichte nun einmal aussehen und sich verhalten. Lindgren knüft eng an die skandinavische Volkssagen an, ohne sie einfach zu kopieren. In dieser Hinsicht erinnert sie mich an Tolkien.
Sehr schön setzt Lindgren die Themen "Feindschaft" und "Freundschaft" um - und zwar ohne "pädagogischen Zeigefinger" und ohne den Versuch, den jungen Zuschauern eine bestimmte Weltanschauung aufzudrängen. Als Autorin war sie deshalb in Schweden lange Zeit umstritten - ihre Geschichten würden Kinder zu Ungehorsam, Disziplinlosigkeit und krassem Individualismus verführen. Wenn Astrid Lindgren eine Botschaft mit ihrer Geschichte hat, dann die, wie wichtig Freundschaft ist, dass echte Freundschaft sich in Notzeiten erweist, und dass es im wohlverstandenen eigenen Nutzen jedes Menschen ist, im Notfall auch über "alte Feindschaften" hinweg zusammenzustehen.

Eine wichtige "Rolle" spielt die herrliche, aber "wilde" Landschaft, die endlosen Wälder, die Moore und Heiden, die klaren Seen und reißenden Bäche, die strengen, schneereichen Winter und die heißen Sommer. Diese Wildnis hebt "Ronja Räubertochter" von den meist in Südschweden oder im städtischen Umfeld Stockholms spielenden anderen Lindgren-Filmen ab. Zum Abenteuer gehört, dass die Helden durchaus auch in Lebensgefahr geraten. Ronja und Birk sind sogar in Lage, für geraume Zeit ganz ohne Erwachsene auszukommen und in der Natur zu leben. Sie machen Fehler, aber lernen auch aus diesen Fehlern. Das Gefühl, ein echtes Abenteuer mitzuerleben, ist genau das, was Generationen von Kindern auch an Indianergeschichten fasziniert. Als Zehnjähriger wäre ich sicher gern so selbstsicher und unerschrocken wie Ronja gewesen.

Kurz und gut: ich liebe diesen Film und bedauere alle Kinder, die ihn nicht kennen. Allerdings ist der Film nichts für Kinder im Vorschulalter und auch Kinder im Grundschulalter sollten ihn nicht alleine ansehen. Es gibt doch einige gruselige Szenen.

Bei der Vorstellung des Buches "Ronja Räubertochter" äußerte sich Astrid Lindgren 1981 vor Journalisten:
Ihr fragt immer soviel danach, was ich meine und was dahintersteckt. Wisst ihr, ich werde euch mal etwas sagen. Ich denke überhaupt nicht so viel. Ich denke gar nicht. Ich schreibe einfach. (...) Das Einzige, worauf ich zu hoffen wage ist, dass meine Bücher den Kindern vielleicht ein wenig zu einer menschenfreundlichen, lebensbejahenden und demokratischen Einstellung verhelfen.

Mittwoch, 26. Januar 2011

"Gleichgültigkeit ist die schlimmste Einstellung"

Ein wichtiger Gedanke aus einem wichtigen Buch.
Gleichgültigkeit ist die schlimmste Einstellung

Es mag ja sein, dass die Gründe für Empörung heute nicht mehr so deutlich zu erkennen sind. Wer befiehlt und wer entscheidet? Wir haben es nicht mehr mit einer kleinen Elite zu tun, deren Machenschaften leicht zu durchschauen sind. Die Welt ist groß, und wir spüren deutlich, wie sehr die Dinge miteinander verschränkt sind. Aber in dieser Welt gibt es Dinge, die unerträglich sind. Wer sie sehen will, muss genau hinsehen. Ich sage den jungen Leuten: Wenn ihr nur ein wenig sucht, werdet ihr solche Dinge finden. Am schlimmsten ist es, wenn man sagt: "Damit habe ich nichts zu tun. Das ist mir egal." Wer sich so verhält, verliert eine der wesentlichen und unverzichtbaren Eigenschaften, die den Menschen ausmachen: die Fähigkeit zur Empörung und das Engagement, das daraus erwächst.
Stéphane Hessel, aus: Stéphane Hessels Pamphlet "Empört euch!" (faz)

Das Gegenteil von Liebe ist nicht etwa Hass (schließlich gibt es auch Hassliebe), sondern Gleichgültigkeit.

Gleichgültigkeit ist eine der meist unterschätzten menschlichen Eigenschaften. Die Fähigkeit der meisten Menschen (ich nehme mich da nicht aus), Dinge, die sie vermeintlich nichts angehen, zu ignorierend, ist erstaunlich. Douglas Adams karikierte diese Fähigkeit, indem er das PAL-Feld (Problem-anderer-Leute-Feld) "erfand".
Ein PAL-Feld beruht auf der angeborenen Neigung der Leute, nicht zu sehen, was sie nicht sehen wollen, nicht erwartet haben oder nicht erklären können. Sie erklären es einfach zum Problem anderer Leute und nehmen es deshalb nicht wahr. Es ist viel einfacher und wirkungsvoller als ein normales Unsichtbarkeitsfeld, kann obendrein über hundert Jahre lang mit einer einfachen Taschenlampen-Batterie betrieben werden, und ist so wirksam, dass ein Raumschiff, dass mitten im Spiel auf dem Lord’s Cricket Ground landete, von den Zuschauer überhaupt nicht wahrgenommen wurde.

Als satirische Science Fiction ist Gleichgültigkeit noch zum Lachen. Wenn ich mir jedoch vor Augen halte, dass der "Holocaust", der millionenfache industriell betriebene Massenmord in den von Nazi-Deutschland beherrschten Ländern, nur deshalb funktionieren konnte, weil sehr viele Menschen es "gar nicht so genau wissen" wollten, oder sich dachten, dass sei zwar schlimm für die Juden (Kommunisten, Zigeuner, Bibelforscher, Homosexuellen usw. usw.), aber das ginge einen "einfachen Menschen" nichts an, und "die da oben" würden sich schon "was dabei gedacht" haben. (So dachten durchaus auch Nicht-Deutsche; ich betone das, weil es z. B. Franzosen gibt, die meinen, "so etwas" sei typisch für die obrigkeitshörigen, rohen und tumben "Boches". Was natürlich nichts daran ändert, dass unter Anderem die extrem autoritären Traditionen Deutschlands und ein beinahe ebenfalls "traditionell" zu nennender skrupelloser Opportunismus der deutschen Eliten den "Holocaust" erst möglich machten.)
Das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte wurde durch Wegsehen und Nicht-wahrhaben-wollen erst möglich!

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