Dienstag, 25. Januar 2011

NeuRoMantik von den Singvøgeln: "Für Zeiten wie diese"

Wie immer, wenn ich etwas von den Singvøgeln besprechen und bekritteln will, stand ich vor der Frage: Wie nennen ich bloß die Musikrichtung dieses Trios?

Bei "heidnischen" Bands - es ist kein Geheimnis: die Singvøgel sind eine solche - denken Kenner der zeitgenössischen Rockmusik an "Neofolk". Die Singvøgel gehören, trotz mancher hörbarer folkloristischer Einflüsse und obwohl ihre Songs im Zweifel eher neu sind, gewiss nicht in diese Kategorie.
Sie machen - auf ihre Art - eine sehr romantische Musik. (Was nicht im musikhistorischen Sinne zu verstehen ist. Aber Neofolk hat ja auch nicht viel mit Folklore zu tun.)
Also vielleicht Neoromantik?
Da fiel mir ein Buchtitel ein, der Titel eines Science-Fiction-Romans aus dem Jahr 1985, dessen Autor ein Wort prägte, von dem die meisten Menschen, die es verwenden, nicht einmal wissen, dass es aus der Science Fiction stammt.
Der Autor heißt William Gibson, das Wort ist "Cyberspace", der Roman heißt "Neuromancer".

Zwar ist der Begriff Neuromantik schon vergeben, das ist aber nicht weiter schlimm ist, denn von Kleinigkeiten wie der zeitlichen Einordnung her passt es ganz gut. (Selbstverständlich ohne den politischen Rechtsdrall mancher Neuromantiker.) Nicht für alle Lieder der Singvøgel, aber für viele.

Also beschloss ich: künftig nenne ich die Musikrichtung der Singvøgel Neuromantik. Neu romantisch und neuro mantisch. Um das deutlich zu machen, schreibe ich es NeuRoMantik.

Nein, "Für Zeiten wie diese" ist kein "Cyberpunk" - wenig "Cyber" und "Punk" eher auch nicht. Es ist das bisher märchenhafteste Album der "Singvøgel" - jedenfalls, wenn der Maßstab die Themen der Lieder sind: Während im vorangegangenen Album "Drei" sehr viel von den Göttern gesungen wurde, geht es bei auf "Zeiten wie diese" verstärkt um Menschen, und es geht, gleich mehrmals, um Märchen. Aber nicht darum, sich in einer Traumwelt zu verlieren: Einige Songs sind Realität vom Bissigstem.

Für Zeiten wie dieseFür Zeiten wie diese

Zum Titelbild:
Im Vergleich zu den sehr schönen Arbeiten auf den Covern von "Lieder Sind" und "Drei" ist es doch für meinen Geschmack etwas zu konventionell, zu "üblich", geworden. Außerdem wirkt das Bild in starker Verkleinerung unübersichtlich: Es ist gewissermaßen nicht "thumbnail-tauglich".

Die Songs:
1. Dilemma
Ein flotter kleiner Chanson, gesungen von Karan. Nichts Tiefsinniges, aber witzig und unverklemmt.

2. Die Existenz der Hölle
Fast ein Kommentar zum "Unwort des Jahres 2010, "alternativlos": "Lass doch dem Schicksal seine Arbeit, das weiß mehr als einen Weg."
Der Song ist im besten Sinne typisch für den Sänger, Komponisten und Texter in Tateinheit, Duke.

3. Muschelkalk
Elne ziemlich lange, ziemlich pathetische und ziemlich gute Ballade. Der Text lässt sich als "Kunstmärchen" mit leichten Parallelen zu Hans Christian Andersens "Kleiner Meerjungfrau" beschreiben - aber mit ganz anderen zeitlichen Dimensionen. Da trifft es sich gut, dass das fast professionell anmutende Video größtenteils in Dänemark entstand:

(Ich muss allerdings einräumen, dass mir "Muschelkalk" ein Tick zu kitschig ist.)

4. Schwanenritter
Auch diese Ballade von Duke lässt sich als Kunstmärchen deuten - oder als eine Parabel. Was allerdings bei dieser musikalischen Andersweltreise keine zwingende Interpretation ist.

5. Heute mal anders
Wer nach den ersten vier Titeln vielleicht vermutet, die Singvøgel hätten ihre sozialkritische Ader verloren, wird von diesen keineswegs platt agitieren Song Karans eines besseren belehrt. Karan beweist als Texterin ihr Gespür für treffende und originelle sprachliche Bilder.

6. Alles wird lebendig
Ein kurzes, knackiges Stück Rock'n'Roll (für Puristen: im weitesten Sinne) von Duke.

7. Für Zeiten wie diese
Ein weiteres ballardeskes Stück, aber mit alles anderem als märchenhaftem Text. Bei mir rief es ein eindringliches "Kopfkino" hervor, eine regelrechte "innere Bildreportage" - gäbe es ein Video, würden darin viele demonstrierende, konstruktiv wütende Menschen vorkommen.

8. Es war einmal ...
Wie unschwer am Titel zu erkennen ist, geht es um Märchen. Ich fasse den Text als Appell an die Kraft der Phantasie und die Wahrhaftigkeit richtig verstandener Mythen auf - aber das ist meine Interpretation.

9. Nach Haus
Duke und Karan im Duett. Ein leicht melancholisches Lied, das gut tut.

10. C. U. V.
Duke behauptet in diesem rockigen, schnellen Song, er sei "Chronisch untervøgelt". Ob das wirklich so ist, wage ich zwar zu bezeifeln, aber ich kenne keinen Song, der das Klischee des "sexsüchtigen" Rocksängers so gekonnt veräppelt. (Wobei: Vielleicht ist es doch wahr?) "Sexsüchtig" ist, im Sprachgebrauch selbsternannter "Qualitätsmedien" übrigens jemand, der öfter und heftiger Sex hat, als der jeweils schreibende Journalist.

11. Stasi 2.0
Ein nicht ganz neues Lied, ein Protestsong, der leider immer noch aktuell ist - oder aktueller den je! Der "CC"-lizensierte Song lief schon auf so einigen Demos gegen Vorratsdatenspeicherung, Zensur, Überwachungsstaat und staatliche und staatsnahe Lügen - und an so manchem Infostand.

12. Aus und ein
Ein deutlicher musikalischer und inhaltlicher Kontrast zum vorigen Song. Karans Lied ist ist fast eine geführte Meditation, entspannend und erdend, aber keine Atemübung zur Entspannung, wie der Titel vielleicht vermuten ließe.

13. Piratin
In diesem musikalisch reizvolle Chanson ist Karan eine Frau, die gerne den (mutmaßlich netten) Mann im kleinen Café als kühne Piratin verführen / entführen würde. ("Piratin" ist nicht politisch zu verstehen, obwohl es zur Sängerin passen würde.) Will man dieses Song unbedingt verschubladisieren, so wäre "Steampunk" nicht unpassend. Was übrigens nichts mit Punkrock, aber sehr viel mit der Atmosphäre des Victorianischen Zeitalters zu tun hat.

14. Wo die Götter tanzen
Da kommt Duke nach eigenen Angaben her. Jedenfalls verrät der muntere Song viel über Duke und Dukes Art.

15. Irgendwo
Karan erzählt, was sie spürte, als des Nachts aufwachte. Es lassen sich Dinge erzählen, die sich nicht beschreiben lassen, und Karan kann das, wie ich finde, wunderbar. Ein Gänsehautsong ohne Gruseleffekte.

16. Held des Augenblicks
Ein Song wie der Abspannsong eines Kinofilms - was "Held des Augenblicks" ja tatsächlich werden soll und hoffentlich werden wird. Als Titelsong enthält er die Elemente eines Soundtracks - für romantische Szenen, für Action-Szenen, für nachdenkliche und für lustige Momente, und ist echte Filmmusik, auch wenn es den dazugehörigen Kriminalfilm noch nicht gibt.
Außerdem ist er, finde ich, ein wundervoller Mutmach- und Kopf-hoch-Song.

Wo zu bekommen?
Am besten direkt beim Hersteller bestellen: CDs der Singvøgel bestellen. Das hochwertig ausgestattete Album im Digipak mit 24-seitigem Booklet kostet 16,- Euro.

Man kann die Singvøgel-Songs auch als MP3 einzeln oder als Album downloaden.Pro Track kostet euch das bei dooload 0,99 Cent, das komplette Album gibt’s dort für nur 9,99 EUR. Wenn ihr möchtet, dass der größte Teil dessen, was ihr bezahlt, auch wirklich bei den Singvøgeln ankommt, dann kauft bitte bei dooload.

Das Album bei dooload: Für Zeiten wie diese.

Natürlich gibt es sie aber auch über iTunes, Amazon.com, Musicload, u.v.m..

Samstag, 22. Januar 2011

Alltagsrassismus und die Wichtigkeit des "N-Wortes"

Um es von vornherein klar zu stellen: Der Begriff "Neger" ist und bleibt eine rassistische Beleidigung.
Warum?
Der wichtigste Punkt: Weil fast alle dunkelhäutigen Menschen es für eine schwere Beleidigung halten, so genannt zu werden.

Um einem gängigen "Gegenargument" zuvor zu kommen: Das ist nicht damit gleichzusetzten, dass die meisten Deutschen nicht gerne "Boche" oder "Moff" genannt werden. Denn obwohl ich keine Schuld an den Verbrechen Deutscher - an in diesem Falle Franzosen oder Niederländer - habe, weiß ich, dass z. B. die Naziverbrechen von einer großen Mehrheit der damaligen Deutschen befürwortet oder wenigstens hingenommen wurden. Dass heißt: Es ist psychologisch mehr als verständlich, wenn auch ein heutiger Franzose, Niederländer, Norwegen "die Deutschen" verabscheut - und einem Polen, einen Russe, einem Ukrainer nehme ich es nicht übel, wenn er mich ganz persönlich nicht mag, allein aus dem Grund, weil ich nun einmal ein Deutscher bin. Bei Juden, Sinti, Roma akzeptiere ich auch offenen Hass. Nicht, weil ich es mag, gehasst zu werden. Oder weil ich mich in einer "Sack und Asche"-Demutshaltung gefalle - die kommt übrigens gar nicht gut an. Vom "Schuldkult", von denen deutsche (und "alldeutsche, sprich österreichische) Nationalisten gerne quatschen, hat das erst recht nichts zu tun. Weil das nichts, aber auch gar nichts mit "Schuld" zu tun hat. Sondern mit Gefühlen, mit Einfühlung und Respekt für die Gefühle anderer, und vor allem: mit historischem Bewusstsein.
Noch etwas anderes ist, wenn z. B. ein Österreicher mich "Piefke" nennt. Schlimmstenfalls mag er die Deutschen nicht - Geschmacksurteil. Normalerweise ist das aber Scherzhaft gemeint. Aber "Neger" hat einen so üblen Beiklang, dass ich es geschmacklos respektlos und wiederum beleidigend finde, einem Schwarzen, der über so einen Scherz nicht lachen kann und sich schwer beleidigt fühlt, "Humorlosigkeit" vorzuwerfen.

Im Falle "Neger" wird eine über die Hautfarbe konstruirete Gruppe von Menschen, die oft nichts gemeinsam hat, als eben diese Hautfarbe, und die heute noch spürbar benachteiligt wird, von durch nichts als die Farbe ihrer Haut Privilegierten beleidigt. Das ist der Unterschied!

"Neger" ist, auch wenn es ursprünglich nur Menschen mit sehr dunkler Hautfarbe beschrieb ("negro" = "schwarz"), durch Jahrhunderte der Sklaverei, des Kolonialismus, der systematischen Benachteiligung "Nichtweißer", und des Sklaverei, Kolonialherrschaft und Benachteiligung rechtfertigen Rassismus, so eng mit übelsten rassistischen Zuschreibungen verbunden, dass es eben nicht neutral gebraucht werden kann.
Das ist übrigens der Unterschied zu im Rahmen von "politisch korrekten" Sprachregelungen verpönten Völkerbezeichnungen wie "Eskimo" oder Hautfarbenbezeichnungen wie "Mulatte". Die können beleidigend gemeint sein, müssen es aber nicht.
Eine noch heute gängige rassistische Zuschreibung, die mit dem Wort "Neger" verbunden ist, ist die der Triebhaftigkeit. ("Der Neger schnackselt halt gern!" - und ist daher an der erschreckenden AIDS-Epidemie in südlichen Afrika "selber Schuld".) Es ist ohnehin unübersehbar, wie sehr Diskriminierung bis hin zum offenem Hass mit Sex und Sexualrepression verknüft sind. Schwule und Lesben können davon ein Lied singen!

Es wird auch heute immer wieder gerne – unter Zuhilfenahme für für wissenschaftlich gehaltenen Thesen - darauf hingewiesen, dass "Negern“ bestimmte Eigenschaften eben "angeboren" seien. Der "Klassiker": "von Natur aus weniger intelligent als Weiße".

Mit dem Wort "Neger" ist außer dem Rassismus - die "Neger" seien den "Weißen" unterlegen - Viktimisierung, die Darstellung als Opfer bzw. als schwach und, oft "gut gemeinte", Bevormundung und Infantilisierung verbunden. Wen ich "Neger" nenne, nehme ich nicht ernst.
Es fällt mir auch immer wieder auf: Texte, in denen das Wort "Neger" "unbefangen" und nicht distanzierend verwendet wird, sind auch sonst meistens rassistisch, sogar dann, wenn das N-Wort in "scherzhafter" Form verwendet wird.

Soweit das.
Anderseits: Vor einigen Tagen ging ein Beschluss, dass Wort "Nigger" (noch mal um einige Umdrehungen heftiger als "Neger") aus Mark Twains Huckleberry Finn. Wohl gemerkt war Twain Antirassitist, das Buch hat eine gegen Rassismus gerichtete Tendenz und Twain wusste, warum er seinem Ich-Erzähler das Wort "Nigger" in den Mund legte: die Gesellschaft im (heute gern verklärten) "Alten Süden" der USA war zum Erbrechen rassistisch. Wenn man das "N-Wort" weg lässt, verfälscht und verniedlicht man die Aussage Twains über die allgemein übliche rassistische Mentalität.

Dann gibt es noch etwas, was ich "Negerkuss-Antirassismus" nenne. Einen demonstrativen Antirassismus, bei den es gar nicht so wichtig ist, ob Schwarze Rassismus ausgesetzt sind, sondern im Vordergrund steht, dass man selbst sich schön antirassistisch fühlen kann. Sicherlich ist "Negerkuss" ein dummes Wort. Aber es ist ein Nebenproblem. Es wäre schön, wenn Rassismus in Deutschland nur noch mit "Negerküssen", "Zigeunerschnitzel" und dergleichen zu tun hätte. ("Negerkuss" ist schließlich kein Schimpfwort, wie "Negermusik", sondern beschreibt eine sehr leckere Sache.)

Fast sieht es wie eine bewusste Ablenkung davon aus, wie schlimm es in Wirklichkeit aus sieht.

Die Wirklichkeit, die sieht z. B. so aus: Wer nichts hat kann auch mehr bezahlen. Ganz normaler Behördenrassismus in Deutschland. Oder so: Kampf dem europäischen Grenzregime! Um Europa keine Mauer, Bleiberecht für alle und auf Dauer! Verhindert Abschiebungen, zeigt Zivilcourage! (Überhaupt ist Che's Warblog eine Fundgrube für Menschen, die sich für Rassismus und die Folgen wirklich interessieren.)
Die Reaktion des "Mainstreams" der Medien auf Rassismus ist wegsehen, vertuschen, nicht wahrhaben wollen!

Zurück zum N-Wort. Im deutschen Sprachraum gibt es erst in den den letzten Jahrzehnten ein Bewusstsein dafür, dass der Begriff "Neger" rassistisch und beleidigend ist. Laut Wikpedia finden sich in deutschen Wörterbüchern erst ab den 1970er Jahren Hinweise auf eine abwertende oder diskriminierende Konnotation des Begriffs. Das allgemeine Sprachgefühl hinkt dem noch nach. Zu jemanden, der aus dem Urlaub tief gebräunt nach Hause kommt, zu sagen: "Wow, Du bist ja schwarz wie ein Neger!" dürfte in den meisten Fällen nicht beleidigend gemeint sein.

Dienstag, 18. Januar 2011

Paralelluniversum

Ich habe etwas mit meinem Freund Duke aka Eibensang gemeinsam: Ab und an gerate ich in ein Paralleluniversum. (Da ist alles wie hier, nur mit leicht verschobenen Ebenen, man bemerkt den Switch kaum und passt sich ergo automatisch an, wie Duke es ganz richtig beschreibt.)
Eine so gute und originelle Geschichte wie Duke sie schildert, kann ich leider nicht bieten.

Normalerweise bin ich nicht wetterabhängig, und normalerweise habe ich auch nichts gegen den Winter. Nun gab es für meinen Geschmack doch zu viele bleierne Tage hintereinander, und wenn ich wolkenverhangene Wintertage, an denen es nicht richtig hell wird, noch so einigermaßen ertrage, so ertrage ich meine Mitmenschen, denen der Januar zu schaffen macht, überhaupt nicht. Es hat etwas gespenstisches, wie leicht miese Stimmung ansteckt.

Und mit einem Mal - scheinbar übergangslos - da war es Sommer. Und es war der letzte Arbeitstag vor dem Urlaub. Und ich war auf dem Weg nach Hause, wo mich meine geliebte Frau (seit wann bin ich verheiratet?), meine drei Kinder (seit wann habe ich dann die?) in unserem schönen Reihenhaus (welches Haus?) zu erst einmal einem langen Wochenende und danach unserer Urlaubsreise erwarteten. Der Flug ging am Dienstag.
Ja, es war Sommer. Ein gewittrig-schwüler Hochsommertag. Ich taumelte aus dem Büro, es war Nachmittag, so gegen 15 Uhr, in die feuchtigkeitsgesättigte Hamburger Luft. Für Hamburg ist so ein drückendes Wetter eher untypisch, aber wenn die Schwüle drückt, dann drückt sie wirklich. Das Auto hatte Inge, meine Frau; ich fuhr nicht gern im dicken Berufsverkehr durch die Stadt, bei so einem Wetter sowieso nicht, auch wenn unserer blauer Volvo eine Klimaanalage hatte.
Die Fahrt mit der U-Bahn war noch einigermaßen erträglich, aber leider musste ich, um ins heimische Glinde (seit wann wohne ich in Glinde?) zu kommen, in den Bus umsteigen. Leider erwischte ich so einen alten Ersatzbus, ohne Klimaanlage. Was bei fast 30 Grad Lufttemperatur und gefühlten 100% Luftfeuchtigkeit kein Vergnügen war. Der weiche PVC-Bezug des Sitzes klebte an meiner Hose, der muffige Geruch des gut gefüllten Busses klebte in meiner Nase: Diesel, vermischt Schweißgeruch und vergossenem Bier. Die Gesichter der Menschen gleichen in ihrer Muffigkeit der abgestandenen Luft im Bus. Graue Gesichter, grau trotz der sommerlichen Bräune, die manche aufwiesen, grauer Himmel, graue Häuser, selbst die Blätter der Bäume erschienen mir grau. Nur das Gras, das war gelb und verfilzt. Eine Wolkendecke wie oxidiertes Blei lag über Hamburg und Umgebung. Meine Augen brannten, die Ozonwerte wagte ich nicht zu schätzen.
Der Bus röhrte über die Autobahnbrücke. Die Stadt lag hinter uns. Auf den Feldern staubten die Mähdrescher, um so viel Korn wie möglich vor dem drohenden Gewitter in die Tanks zu bekommen. Ländliche Idylle? Die gab es vielleicht mal, früher, daran erinnerten nur ein paar alte Fachwerk-Bauernhäuser, die längst zu komfortablen Eigenheimen betuchter Städter umgebaut worden waren.
Nachdem der Bus die fälschlich "Wald" genannte Stangenholzplantage passiert hatte, tauchten die vertrauten öden Reihenhausreihen und einfallslosen Einzelhäuser auf. Ich stand auf, griff nach meinem Aktenkoffer. Der Bus hielt an der allzu vertrauten Haltestelle mit dem Wartehäuschen aus verkratztem und beschmiertem Plexiglas. Ich stieg aus. Feucht-warme Luft umfing mich, aber nach dem Mief im schlecht gelüfteten Bus war das ein wahres Labsal.
Wir wohnten in einem Endreihenhaus ganz am Ende der Straße. Die Straße war heute so lang wie von hier bis zum Horizont. Ich schwitzte, wie ich im Urlaub im heißen Spanien nie geschwitzt hatte. Was findet Inge immer bloß so toll an Stränden, deren Sand so heiß ist wie eine Herdplatte? Ja, ich hatte Meerweh, nach kühlen Wasser und frischer Brise. "Da ist das Wetter doch genauso beschissen wie hier", kreischte meine Frau, als ich den Vorschlag vorzubringen wagte, wir könnten dieses Jahr doch einfach mal an die Nordsee fahren. Die Kinder, wenigstens der Große, sind ja auch schon in einem Alter, in dem ein reiner Strandurlaub sowieso langweilig wird. Zugegeben, derjenige, der sich immer langweilte, das war ich. Aber wir haben schon gebucht. Spanien im Hochsommer, wir müssen völlig bekloppt sein!
Unser Haus war nach der Architekturmode (Ich wagte es nicht, das "Stil" zu nennen) der späten 1960er Jahre errichtet, also nicht ganz so bunkerähnlich-grau wie die neueren Häuser eine Straße weiter, die in den 1970ern aus Waschbetonplatten zusammenklotzt worden waren. Roter Backstein und terrassenartige, gepflegte Vorgärten ließen die Hausreihe beinahe so etwas wie behaglich wirken. Leider hörte man bei diesem Wind die nicht allzu weit entfernte Autobahn.
Ich hatte keine Lust, erst nach meinem Haustürschlüssel zu kramen. Inge hatte heute frei, und ich sah, dass der große Sonnenschirm auf der Terrasse aufgespannt war. Sie war also zuhause. Also klingelte ich.
Es dauerte einen Moment, bis sie mir die Tür öffnete. Sie trug einen grellorangenen Bikini, der an Halle Berry vielleicht gut ausgesehen hätte, sie hatte wohl auf der Terrasse gelegen.

Schnitt - Rücksturz aus dem Parallleluniversum.

Lektion des Tages: suche nie mit mieser Laune ein
Paralelluniversum auf, es wird danach sein!

Mittwoch, 12. Januar 2011

15.1.: Demo gegen Nazis in Hamburg-Bergedorf

(Ich bin - vertrottelt wie ich manchmal bin - tatsächlich wohl zu spät dran mit dieser Meldung.)

Aufgrund anhaltender Übergriffe von Neonazis auf alternative Jugendliche und linke Projekte in Bergedorf entstand die antifaschistische Kampagne „Nazistrukturen aufdecken – Rassismus bekämpfen“, welche am 15. Januar 2011 mit einer Demo den vorläufigen Höhepunkt erreichen wird. In diesem Artikel möchten wir einen Eindruck von der Situation in Bergedorf geben und die Antifa-Kampagne vorstellen.

Unvollständige Liste der Übergriffe und Neonazi-Aktivitäten in Bergedorf im letzten Jahr

- Neonazis besprühen die KZ-Gedenkstätte Neuengamme bei Bergedorf mit Hakenkreuzen https://de.indymedia.org/2010/04/277504.shtml
- Die Veranstaltung der Initiative „NPD – kehrt Marsch!“ im Kulturforum (Serrahnstraße) erhielt „Besuch“ von acht zum Teil bekannten Rechtsradikalen aus der Umgebung.
- Ein minderjähriger Antifaschist wurde mehrfach durch Bergedorf gehetzt, angegriffen und schwer verletzt.
- Das Jugendzentrum „Unser Haus e. V.“ wurde im Laufe des Jahres mehrmals attackiert, beschädigt und mit rassistischer Propaganda beklebt.
- Die Ausstellung „Opfer rechter Gewalt“ an der HAW Bergedorf wurde gestört und Flyer gegen „linke Gewalt“ verteilt.
- Neonazis verschenken verkleidet als Weihnachtsmänner Schokolade und Tan­nenzweige mit rassistisch umgeschriebenen Weihnachtsgedichten.
- Der HVV-Busfahrer Thomas S. hört auf seinen Fahrten in Bergedorf und Umgebung deutlich für alle anderen Fahrgäste Rechtsrock wie „Landser“ und „Screwdriver“. Der HVV unternimmt auf Nachfrage nichts dagegen.
- Am 1.11. übernimmt Thomas „Steiner“ Wulff den NPD-Kreisvorsitz in Bergedorf, um im Osten Hamburgs „eine Wahl- und Systemalternative aufzubauen“.

Diese Aktionen reihen sich nahtlos in die Liste der Aktivitäten des Vorjahres ein: https://de.indymedia.org/2009/05/249991.shtml
(Übernommen von AntifaBargtheide, wo es auch weitere Infos gibt.)

14. Januar, 19h, Cafe Flop (Bergedorf): Info- und Mobilisierungsveranstaltung über die Neonazi-Szene in Bergedorf und die Antifa-Demo am 15. Januar; Danach Party (House/Minimal) mit DJ Jong. Ort: Wentorfer-Str. 26.

15. Januar (Samstag), 15h Antifa-Demo: Beginn am Lohbrügger Markt (Nähe S-Bergedorf): „Nazistrukturen aufdecken – Rassismus bekämpfen“; Danach Vokü, (was Warmes zum Essen, MM) Konzert und Party mit diversen Bands.

Dienstag, 11. Januar 2011

Video-Reihe "Tatsache Evolution: Was Darwin nicht wissen konnte"

Der Arbeitskreis Evolutionsbiologie veröffentlicht eine Reihe, wie ich finde, gut verständlicher Videos zum Thema "Tatsache Evolution" auf YouTube. (Sie entsprechen in etwa guten Biologie-Einsteigervorlesungen, also kein "Infotainment" mit Animationen usw.)

Ein Grund für den AK Evolutionsbiologie, diese Video-Serie zu machen, ist es, den Fehlinformationen, die auf YouTube über zahlreiche Kreationisten-Videos verbreitet werden, aktuelle Sachinformationen entgegen zu setzen. Das Thema "Evolution" ist auf YouTube praktisch vollständig von laienhaften Darstellungen fundamentalistischer Christen besetzt, die über inhaltsleere, aber professionell hergestellte Filme die Biowissenschaften als Ganzes diskreditieren.
Haupt-Zielgruppe sind interessierte Laien, Oberstufenschüler und Studienanfänger.

Ausgehend von populären Irrtümern zum Thema Evolution, soll dieses Video aus dem Arbeitskreis Evolutionsbiologie im VBiO anschaulich zum Thema hinführen und die folgenden Schwerpunkte behandeln:
  • Allgemeine Definitionen des Evolutionsbegriffs;
  • Populationen als Einheiten der Evolution;
  • Artbildung, das Aussterben und Stammbäume
  • die Zellen-Regel und der Evolutionsbeweis
  • Evolutionsbiologie als Theoriensystem und angewandte Naturwissenschaft;
  • der doppelte Beleg zur Abstammung des Schimpansen und Menschen aus einer gemeinsamen afrikanischen Zwischenform.
Video 1: Was ist Evolution?

Der wörtlich verstandene, auf biologische Phänomene übertragene biblische Schöpfungsglaube (Kreationismus) breitete sich nach der Veröffentlichung von Charles Darwins Hauptwerk (On the Origin of Species, 1859) in Europa aus und ist noch heute in Deutschland und den USA, wo es keinen staatlichen Religionsunterricht gibt, weit verbreitet.

In den beiden Lehr-Videos Nr. 2 und 3 werden nach Darlegung einiger Grundbegriffe die folgenden Themen behandelt:
  • Versionen des biblischen Schöpfungsglaubens: Vom flache Erde-Kreationismus über den Amtskirchen-Kompromiss zum Konzept der Naturalistischen Evolution
  • Kreationistische Organisationen in Deutschland
  • Die Behauptungen der Kreationisten bzw. Intelligent Design-Vertreter und deren Widerlegung
  • Das Grundtypen-Dogma der Kreationisten R. Junker und S. Scherer (Studiengemeinschaft Wort und Wissen)
  • Pseudowissenschaft unter dem Deckmantel der Biologie
  • Das Intelligent Design-Argument und dessen Widerlegung am Beispiel der Augen- und Flagellen-Evolution
  • Propaganda-Strategien der deutschen Kreationisten und der Missbrauch akademischer Institutionen
  • Bewertung des (Intelligent Design) Kreationismus aus der Perspektive der Evolutionsbiologie: Glauben heißt nicht wissen!
Video 2: Was ist Kreationismus?

Video 3: Was ist Intelligentes Design?

Video 4 - Was ist Lebensentstehung?

In diesem Video wird die Problematik der Lebensentstehung diskutiert und als das Aufkommen der ersten Ur-Mikroben definiert. Die Merkmale urtümlicher Zellen werden dargelegt und die ältesten, ca. 3.500 Millionen Jahre alten versteinerten Bakterien vorgestellt. Das Video endet mit einer Darstellung der Umweltbedingungen auf der jungen Erde, wo vor ca. 4.000 Millionen Jahren in den warmen Ozeanen die ersten Zellen entstanden sind.
Das zugehörige Video Nr. 5 "Was sind Ursprungstheorien?" wird im Januar 2011 veröffentlicht.

Hier noch zwei Links zu zum Thema passenden Beiträgen:
Teilhard de Chardin, der Evolutionäre Theismus und Papst Benedikt XVI. vom Religionswissenschaftler Michael Blume. Ich halte diesen Beitrag für wichtig, da methodischer Naturalismus (und damit ein a-theistischer Therieansatz) im Falle Teilhard de Chardins durchaus mit einem theistischen Weltbild zusammen ging. Ob das aber für andere Anhänger der theistischen Evolution (immerhin der offiziellen Position der beiden großen Kirchen in Deutschland) so gilt, wage ich zu bezweifeln: Oft ist "theistische Evolution" kaum etwas anderes als ein fauler Kompromiss zwischen Schöpfungsglaube und Biologie auf Tatsachenbasis.

Wer für alles offen ist, ist nicht ganz dicht Interview des Züricher Tages-Anzeigers mit Religionskritiker Michael Schmidt-Salomon über Light-Christen, abgewürgte Aufklärung im Islam und übertriebene Toleranz.

Auch wenn ich Schmidt-Salomon nicht in allem zustimme - hiermit hat er meiner Ansicht nach völlig recht:
Die zentrale Differenz sehe ich auch nicht zwischen Theismus und Atheismus, sondern zwischen einem dogmatischen und einem kritisch-rationalen Zugang zur Welt.

Freitag, 7. Januar 2011

Sarrazin-Restbestand aus dem letzten Jahr

Da der demogogische Dreck vom letzten Jahr leider nicht mit dem Jahreswechsel weg geht, noch mal was zum beliebtesten "Man-wird-ja-noch-sagen-dürfen"-Sager und erfolgreichsten Buchverkäufer des vergangenen Jahres. Sarrazins Beliebtheit zeigt übrigens wieder einmal, dass "gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" keine Spezialität von "Extremisten" ist.

Es geht dabei meiner Ansicht nach längst nicht mehr um Fakten beziehungsweise inhaltlich nachprüfbare Tatsachenbehauptungen. Was inhaltlich von diesen Thesen zu halten ist, nimmt das von der Politologin Naika Foroutan herausgegebene Dossier Sarrazins Thesen auf dem Prüfstand gründlich auseinander.
Ich stimme Jakob Augstein ausdrücklich zu, wenn er in Sarrazin und Lügen zu Weihnachten – Nachtrag schreibt:
Also hier noch einmal mein Hinweis: Es geht mir nicht einmal in erster Linie darum nachzuweisen, wo Thilo Sarrazin irrt. Es geht mir darum, wie auch schon im Weihnachtsblog, darauf aufmerksam zu machen, dass seine Behauptung, er stelle unwidersprochene und unwiderlegbare Tatsachen dar, falsch ist. Sarrazin handelt mit Thesen. Nicht mit Fakten. Es ist eine Technik des Demagogen, die Grenzen dazwischen verschwimmen zu lassen.
Ich bin mir dabei aber ziemlich sicher, dass Sarrazin nicht so selbstbewußt und selbstgerecht sozialdarwinistische und kulturalistische und quasi-rassistische Thesen in die Welt setzen würde, wenn er nicht das Gefühl hätte, sich dabei auf das Urteil von Experten stützen zu können. Wobei das Urteil, sprich die Thesen der Experten, z. B. im Falle Heinsohns, auch aus zur These passend zurechfrisierten Daten beruht.

Wie ich an anderer Stelle schon schrob, geht es meiner Ansicht nach bei dem ganzen Zirkus Sarrazini nur der Provokation halber z. B. um "Gene" bzw. "Intelligenzunterschiede bei unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen".
Der Kern der sarrazinischen Weltsicht ist: Der Wert eines Menschen hängt von seiner Nützlichkeit ab.
"Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen". Sagte ja auch Münte, einen gefälschten Paulus-Brief zitierend, und sich auf die sozialdemokratische Tradition, sprich August Bebel berufend (nicht ganz zurecht, nicht ganz ehrlich übrigens). Dachte auch Peter Hartz. Daher bin ich nicht überrascht, wie viele Sarrazin-Fans es an der SPD-Basis gibt.
Ich fasse Sarrazins Kernthese mal so zusammen:
Deutschland braucht mehr Hochleistungs-Nutzmenschen, notfalls durch Einwanderung, das ist eben effizienter, als mühsam den sich kanikelhaft vermehrenden degenerierten Unterschicht-Kindern Bildung beizupulen. Wobei man das ja auch nicht ganz lassen sollte, weshalb Sarrazin ja auch für Kindergarten-Pflicht, Ganztagsschule, Schuluniformen, ordentlich Disziplin und harte Strafe für Bildungsverweigerer ist. Und überhaupt: es ist mega-wichtig, eventuell doch talentierte Unterschicht-Kinder den Einfluss ihrer leistungsverweigernden Eltern zu entziehen. Am Besten schon ab Krippenalter!

Da ja Kritiker der Sarrazinische Thesen gern mit dem Hinweis abgebügelt werden, man müsse Sarrazins Buch "Deutschland schafft sich ab" gelesen haben, dann würde einem schon klar werden, dass er auf solider Faktenbasis argumentieren würde, hatte ich mir "den Sarrazin" mal angetan (übrigens als ein ausgeliehenes Exemplar).

Sarrazin gibt zuerst "einen Blick in die Zukunft" (so das erste Kapitel). Er entwickelt ein Schreckens-Szenario, wie es ähnlich schon viele andere Kulturpessimisten aufgemacht haben: Er zeichnet das Bild eines überalterten Landes, das nicht mehr weiß, wie es seine Rentner durchfüttern soll. (Das kann man diskutieren, sollte dabei aber auch nicht Tatsachen wie Produktivitätsentwicklung / Automatisierung außer acht lassen.)
Das zweite Kapitel übernimmt Sarrazin inhaltlich fast 1 : 1 von
Gunnar Heinsohn: In Deutschland würden überdurchschnittlich viele Kinder in sogenannten bildungsfernen Schichten mit häufig unterdurchschnittlicher Intelligenz aufwachsen.
Sarrazin legt dann seine Ansichten zu Armut und Arbeit dar.
Bemerkenswert erscheint mir, dass er viele Begleiterscheinungen der materiellen Armut, wie mangelnde Gesundheit und fehlerhafte Ernährung, nicht auf einen Mangel an Einkommen zurückführt. (Damit bleibt er seiner Linie als Berliner Finanzsenator treu, wo er vorrechnete, wie sich ein ALG 2 Empfänger sich für - ich weiß nicht mehr wie wenig Euro - gesund ernähren könnte.) Wer intelligent und gebildet ist, könne auch haushalten, setzte die Prioritäten richtig, komme irgendwie auch ziemlich flott aus der Misere raus. Wer dumm ist, bliebe arm. (Das ist jetzt meine polemische Zusammenfassung.) Sarrazin behauptet, 90 Prozent der von der Armutsforschung beobachtete negativen Auswirkungen seien nicht Folgen von Einkommensarmut, sondern deren Begleiterscheinungen, die aber dieselben Ursachen hätten wie die Einkommensarmut. Zugespitzt: "Wer arm ist, ist (wenn nicht gerade krank oder von Unglücksfällen heimgesucht) selbst daran schuld." Ganz auf Linie der "Agenda 20-10" ist für ihn das wichtigste, Menschen in Arbeit zu bringen (egal welche, egal unter welchen Bedingungen, egal, wie bezahlt), denn die Abhängigkeit von staatlichen Transfers verschärfe das Problem von mangelndem Antrieb und Selbstwertgefühl.
Sarrazin ist Anhänger einer verpflichtenden Gegenleistung von Transferempfängern (durchaus im Sinne von "wer Hartz IV kriegt, soll dafür Schnee schippen"). Das sei entscheidend für die Aktivierungsfähigkeit der Menschen. Das alles ist meiner Ansicht nach Sozialdarwinismus, der aber gut "sozialdemokratisch" verkleidet und mit einer protestantisch-calvinistischen Moral überzogen ist. (Sarrazin ist tatsächlich reformierter Christ und stammt aus einer Hugenottenfamlie, es würde also passen. Ich vermute, dass seine religiöse Ausrichtung bei seiner Auseinandersetzung mit dem Islam wichtig sein könnte.)
Dann folgen einige Kapitel zum Thema "Bildung".
Sarrazin geht (sowie ich ihn verstehe) davon aus, dass das Bildungssystem einen optimalen Beitrag zum Funktionieren von Wirtschaft und Gesellschaft leisten soll.
Interessant wird es beim, laut Sarrazin, "Kernproblem": dem Umgang mit den "Bildungsfernen". Sarrazin Vorschläge laufen darauf hinaus, diese "Problemgruppe" stark zu überwachen und zu gängeln. Sarrazin ist für Kita-Pflicht, Ganztagsschulen usw. . Mir fällt dabei auf, wie konservativ Sarrazins Vorstellungen von Kindererziehung sind: Fernsehen und andere moderne Medien solle es in Kitas nicht geben, und zu den Freizeitangeboten der Ganztagsschule gehören ausdrücklich kein Fernsehen und keine Computerspiele. Um ein Übermaß an Medienkonsum zu unterbinden, sollen zumindest größere Kinder nur das Wochenende und den Feierabend zu Hause verbringen. Ja, und für Schuluniformen, mehr Disziplin, "Schluss mit Lustig" usw., harte Strafen für "Schulverweigerer" ist Sarrazin natürlich auch.
Erst jetzt kommt das Kapitel, um das es fast immer geht, wenn über Sarrazin diskutiert wird: Zuwanderung und Migration. Die Inhalte dürfte, nach über einem halben Jahr, den meisten Mediennutzern in groben Zügen bekannt sein, bis auf zwei Forderungen, die nach meinem Eindruck von seinen Anhängern gern verschwiegen werden: Er ist für Geldstrafen für die Beherbergung Illegaler Einwanderer, und für eine zentrale bundesweite Datenbank für alle Einwohner, die nicht die deutsche Staatsbürgerschaft haben.
Richtig heftig wird es im letzten Kapitel: "Demografie und Bevölkerung". Er behautet, dass Zuwanderung keine Lösung für Deutschland sei, und dass die Nettoreproduktionsrate angehoben werden müsse. Daher will er u. A. die Fortpflanzungsbereitschaft gebildeter Frauen erhöhen. (Hier ist er wieder sehr nahe bei Heinsohn.)

Nicht alles, was Sarrazin schreibt, ist von vornherein nicht diskussionswürdig, daran ändert auch sein "kreativer" Umgang mit Statistiken nichts, denn es geht um Thesen, nicht um Fakten. Die Zahlen dienen nur der argumentativen Verstärkung, bestätigen, was er schon vorher "wusste". Er schwimmt mit vielen seiner Ansichten im medialen Mainstream, weshalb sie auch wenig Aufsehen erregen. Selbst der Inhalt seiner Provokationen trifft auf "in der Mitte der Gesellschaft" weit verbreitet Vorstellungen und Vorurteile.
Interessanter ist meiner Ansicht, wie Sarrazin "tickt", welche Denkstrukturen hinter seinen Thesen stehen.
Er schätzt einen asketischen Lebensstil, Disziplin und Fleiß sehr hoch ein, und bewertet das durchaus moralisch.
Anderseits habe ich den Eindruck, dass er nicht aus der Perspektive eines "reichen Oberschichtlers" oder eines "arroganten Bildungsbürger" denkt, auch wenn er faktisch die Position der materiell Privilegierten verteidigt. Er ist, und das ist das Erschreckende, durchaus ein "alter Sozi": Nur die Arbeit verleiht dem Leben Sinn, Arbeit über alles, Arbeit adelt, wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen und wie die ganzen gegen das "Lumpenproletariat" gerichteten Sprüche lauten. Wie viele "alte Sozis" denkt er völlig von der Ökonomie her. Dass er Wasser auf die Mühlen knallharter Kapitalisten lenkt, vor allem der Bezieher leistungsloser Einkommen aus Kapitalverzinsung (die der olle Bebel so auf dem Kieker hatte), scheint ihm egal zu sein.

Sarrazin spricht einige meiner Ansicht nach durchaus reale Probleme an. Aber das haben andere vor ihm schon besser gemacht: Was an Sarrazins "Deutschland schafft sich ab" richtig und gut ist, ist nicht neu, und was an ihm neu ist, ist Sozialdarwinismus, halbgarer Biologismus und Hetze pur!

Was gerade "alten Sozis", sogar denen vom rechten Flügel, auffallen sollten, und was jeder Anhänger(in) der "christlichen Soziallehre" eigentlich über aufstoßen müsste, ist, dass die Ungleichheits-Diskurse, die von Sarrazins Thesen angestoßen wurde, vor den wirklich destruktiven Ungleichheiten unserer Gesellschaft ablenken: die sind ökonomischer Natur, nicht etwa biologischer, ethnischer, religiöser oder kultureller Art. Diese ökonomische Ungleichheit führt zurück in eine ganz altmodische Klassengesellschaft. Es erstaunt mich, dass durch und durch ökonomistisch denkende Menschen wie Sarrazin oder Heinsohn ausgerechnet hier einen "blinden Fleck" haben. Oder ideologische Scheuklappen.

"Ökonomische Natur" heißt nicht, dass es allein ums Geld ginge. Nicht allein, denn die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Eltern entscheiden in Deutschland mehr als in den meisten anderen europäischen Staaten über Chancen und Möglichkeiten der Kinder. Nicht "wer dumm ist, bleibt arm", sondern "wer arm ist bleibt dumm". Es geht vor allem um die unterschiedliche Verfügbarkeit von materiellen Möglichkeiten - das muss kein eigenes Vermögen sein - und vor allem auch um Privilegien. Wer irgendwie zu Geld gekommen ist, gehört nicht automatisch "dazu". Die "Oberklasse" fürchtet Aufsteiger: "Türkische Gemüsehändler" sind, trotz Fleiß und auch wenn sie es zu Wohlstand und Vermögen gebracht haben, nicht erwünscht.
Daher halte ich die "neue" Klassengesellschaft auch nicht für eine "notwendige" Begleiterscheinung des Kapitalismus. Die entsteht nicht von alleine, quasi naturgesetzlich, die wird gemacht. Auch mit Hilfe von Propagandisten wie Sarrazin.

Mittwoch, 5. Januar 2011

2005 - nach dem Rabenrök

Eine weitere autobiographische Episode über meinen "spirituellen Weg", die ich ursprünglich nicht schreiben wollte. Also: "Teil 6 einer fünfteiligen Serie".
1974 - Sommer der Wandlung
1982 - Im Labyrinth der Eiszeit
1989 - "Paradigmas lost"
1997 - Der Schritt aus der Besenkammer.
2000 - "Don't dream it - be it!"

brennenderRabe

Es gab am Ende des Jahres 2005 Journalisten, die es als "Katastrophenjahr" bezeichneten. Katastrophen gab es in der Tat mehr als genug: beim Bruch des Shakidor-Damms in Pakistan wurden mindestens 350 Menschen getötet, in einem chinesischen Kohlebergwerk starben 214 Kumpel, im strengen Winter mit extremen Schneefällen und zahlreichen Lawinen kamen im Kaschmir und in den angrenzenden Bergregionen Pakistans und Afghanistans über 1000 Menschen ums Leben. Ein schweres Erdbeben vor der Küste Nord-Sumatras forderte über 1300 Tote - und löste eine Massenpanik aus. Am stärksten im Gedächtnis blieben der Hurrikan Katrina - bei der Sturmflut brachen die schlecht gewarteten Deiche in New Orleans, die Stadt wurde nahezu vollständig Überflutet. Im Oktober verwüstest ein Erdbeben die Region nordöstlich von Islamabad (Pakistan), es gab mindestens 80000 Tote alleine in Pakistan; wie viele in Afghanistan starben, ist ungewiss.
Naturkatastrophen? Nicht alle und nicht ganz. Das Bergwerksunglück im Kohlebergwerk Sunjiawan bei Fuxin wäre vermeidbar gewesen. Es war nur das Schlimmste einer ganzen Reihe schwerer Grubenunglücke, denn es ist in China viel billiger, sehr viele niedrig bezahlte Bergleute einzustellen, als Maschinen anzuschaffen, mit denen Kohle effizienter und sicherer gefördert werden könnte. Außerdem wird häufig auf wichtige Sicherheitsmaßnahmen verzichtet, um die Fördermengen und Gewinne zu steigern. (Nebenbei: das rücksichtslos kapitalistisch wirtschaftende China schimpft sich nach wie vor "sozialistische Volksrepublik", die Staatspartei "kommunistische Partei".)
Im Falle New Orleans hätte bessere Deiche und ein besseres Krisenmanagement das Schlimmste abwenden können.

Das Jahr 2005 fing auch in Deutschland nicht so schön an: das Arbeitslosengeldes II ("Hartz IV") wurde eingeführt. Und es fing für mich nicht gut an, weil ich auf diese Leistung angewiesen war. Trotzdem war 2005 ein erfreuliches Jahr, in dem ich nach meinem persönlichen "Katastrophenjahr" 2004 wieder einigermaßen auf die Beine kam, merkte, wer meine wirklichen Freunde waren, und mich von einigen Illusionen verabschiedete.

Ich litt unter Anderem unter einer ziemlich hartnäckigen Depression. Weitere Einzelheiten, wieso und in welcher Weise es mir 2004 schlecht ging, gehören nicht hierher.

Sehr wohl gehören aber einige äußere Umstände hier her, die sehr dazu beitrugen, dass es mir schlecht ging.
2003 versuchte ich mich selbstständig zu machen. Vor alleine bin ich auf diese, im Nachhinein kontraproduktive, Idee nicht gekommen. Ich war ab 2002 abwechselnd arbeitslos und "geringfügig beschäftigt", weit unter meiner Qualifikation. Und da ich ja schon mal freiberuflich gearbeitet hatte, erschien mir der Schritt in die Selbstständigkeit gar nicht so gewaltig zu sein - zumal die BA für Arbeit damals alles tat, mir diese Möglichkeit schmackhaft zu machen.
Was soll ich groß sagen: die Idee scheiterte im Ansatz, und meine Ersparnisse, inklusive einer nicht ganz unflotten Kapitallebensversicherung, waren futsch. Und ich machte mir Vorwürfe. Heftige Vorwürfe, wie ich nur so leichtgläubig und über-optimistisch hätte sein können.
Dass ich in der selben Zeit eine etwas komplizierte Beziehung mit einer etwas komplizierten Frau hatte, trug sicherlich auch zu der Abwärtsspirale bei, in die ich ab dem Spätsommer 2003 geriet.

Über einige der Dinge, die mich damals herunterzogen, kann ich heute lachen - auch wenn es ein bitteres Lachen ist. Deshalb liegt mir nichts daran, alten Fehden wieder aufleben zu lassen, weshalb ich im Folgenden auch keine Namen nennen werde.

Ich war damals Pressesprecher im Rabenclan - eine Aufgabe, die mir Spaß machte, und die mir in gewisser Hinsicht Ersatzbefriedigung für meinen beruflichen und persönlichen Ärger bot. Besonders die Interviews, die ich gab - buchstäblicher Höhepunkt war ein Interview für das ZDF zum Thema "neue Hexen" auf dem Brocken - taten meinem angeschlagenen Selbstwertgefühl gut.
Mit großen Einsatz kümmerte ich mich auch um die Internetpräsenz des Vereins, wobei ich zahlreiche Artikel selbst schrieb.
Allerdings - so gegen Ende 2003 kamen mir die ersten Zweifel an meinem Ehrenamt.
Denn der Verein hatte sich gewandelt. Er war, bis 2002, ziemlich verschnarcht, um es einmal so auszudrücken. Der Schwung war offensichtlich ´raus, neue Impulse fehlten. Nachdem eine neue Vorsitzende gewählt war, die ich anfangs begeistert unterstützte, bewegte sich endlich etwas.
Nur leider nicht unbedingt in eine Richtung, die mir passte. Ich will nicht so weit gehen, wie mein Freund und "Amtsvorgänger" als Pressesprecher des "Rabenclans", der eine fortschreitende Verwandlung in einen esoterischen Heißluftballon feststellte (außen glänzend, innen hohl, Hauptmerkmal: aufgeblasen). Aber die enge Vernetzung mit der "ökospirituellen" Szene, mit deren politischen Agenda ich wenig anfangen konnte und kann, gefiel mir gar nicht.
Da es mir 2004 mies ging, hatte ich aber andere Sorgen. Ich war froh, dass ich meinen "Job" als Pressesprecher so halbwegs geregelt bekam. Es war mir sogar relativ egal, dass die "Vernetzungsarbeit" weitgehend an mir vorbei ablief - im Gegenteil, ich machte mir vor, dass das mir meine "Kernaufgaben", etwa die Pflege von Pressekontakten, nur erleichtern könne. Noch Ende Oktober 2003 nahm ich am Hexen-Symposium am Völkerkundemuseum Hamburg teil (ich betone das, weil manche im Nachhinein behauptete, ich wäre damals schon zu fertig gewesen, um noch konstruktiv arbeiten zu können).
Man kann es sogar als Lektion sehen, was damals, im kleinen Rahmen der "Vereinsmeierei" geschah: ich habe vieles über "praktische" Parteipolitik (oder "Unpolitik") gelernt, und zwar genauer, als ich es wissen wollte.
Damals war ich noch nicht Mitglied in der "Nornirs Ætt". Ich bekam aber sehr wohl mit, dass sie, seitens des neuen Vorstandes, zunächst über den grünen Klee gelobt ("Politisches Herz des Rabenclan"), und dann, so ab Ende 2003, zunehmend in ein übles Licht gerückt wurde. Es hieß, dass die Mitglieder der Nornirs Ætt bei ihren Aktivitäten im Verein zunehmend als geschlossener Block aufträten. Teils klang das für mich plausibel, denn wenn es eine halbwegs geschlossene "Fraktion" im Rabenclan gab, dann war das die Ætt, und es war auch abzusehen, dass sie den damaligen Vorstand loswerden wollte. Teils klang es aber arg nach Verschwörungstheorie.
Anfang November 2004 passierten zwei Dinge, die vielleicht zusammengehören, vielleicht auch nicht: meine Depression verstärkte sich dramatisch, es ging nicht mehr ohne schwere Medikamente, ich bekam meinen Alltag nicht mehr auf die Reihe. Ehrlicherweise hätte ich spätestens jetzt als Pressesprecher zurücktreten müssen, besser für mich wäre es sogar gewesen, mich ganz aus dem Verein zurückzuziehen.
Das andere war, dass Duke seine Teilnahme an der Tagung der Evangelischen Zentrale für Weltanschauungsfragen (EZW) absagte - wie Duke die Sache sah, schrieb er hier - und auch damals konnte ich ihn verdammt gut verstehen. Der Vorstand hielt aber den Kontakt zu Weltanschauungsbeauftragen für so wichtig, dass dafür die eine oder andere Kröte zu schlucken sei. Ich verfasste damals eine Presseerklärung, die beiden Seiten gerecht werden wollte.
Der "Rabenrök" - in Anlehnung an Ragnarök - war dann die offene Auseinandersetzung zwischen Vorstand und Nornirs Ætt auf der Rabenclan-Jahreshauptversammlung gegen Ende November. Sie endete im Eklat.
Für mich, weil ich die Anspannung der ständigen äußeren und inneren Konflikte, die offensichtliche Heuchelei, die unverschämten Lügen, die Unsicherheit, psychisch nicht verkraftete. Ich tickte auf eine äußerst peinliche Art und Weise aus. Ich betone, dass mein Verhalten für mich äußerst unangenehm war, und dass ich mich dafür auch heute noch schäme, weil der Verdacht geäußert wurde, mein Zusammenbruch sei absichtlich inszeniert gewesen.
Sie endete auch für den Rabenclan im Eklat. Der Termin der Vollversammlung war vom Vorstand auf den Sonntag gelegt worden, als alle Feierlichkeiten längst vorbei waren und viele Rabenclan-Mitglieder schon abreisen mussten. Daher war mit 34 Stimmberechtigten die "Vollversammlung" nicht gerade repräsentativ für einen Verein, dem damals ca. 140 Mitglieder angehörten. Das passte zum intransparenten Stil des damaligen Rabenclan-Vorstandes, der es nach meinem Eindruck mit der "direkten Demokratie" nicht so hatte.
Im Vereinsblatt war die Nornirs Ætt von jemanden, der damals nicht Mitglied im Rabenclan war, übel verunglimpft. Als die Frage, an wen von den nicht zum Verein gehörenden Gästen das Blatt gegangen sei, mit einem trockenen "an alle" beantwortet worden war, standen alle anwesenden Mitglieder der Nornirs Ætt alle auf und gingen.
Selbstverständlich gab es auch hier den Vorwurf, diese Aktion sei vom "Ætt-Block" abgesprochen gewesen.
Erst später begriff ich, was da wirklich passiert war: außer dem Vorstand, einigen dem Vorstand nahe stehenden Mitgliedern und den Vertretern der Nornirs Ætt waren am Ende nur noch eine Handvoll weiterer "Raben" anwesend. Der "Ætt-Block" hätte die absolute Mehrheit der Anwesenden ausgemacht, und den Vorstand einfach abwählen können.
Es tat es nicht.

Ich begriff erst im hier zu Rede stehen Jahr 2005 - dem Jahr nach dem "Rabenrök" - warum: die Ziele und das Demokratieverständnis zwischen "Rest-Rabenclan" und Nornirs Ætt klafften weit auseinander. Was nicht allein am Vorstand lag: Über hundert Mitgliedern schien soweit alles recht bzw. egal zu sei. Nicht untypisch für Vereine, aber eine Basisdemokratie, wie sie auch mir vorschwebte, ist bei dieser Einstellung kaum zu machen.
Die Nornirs Ætt beendete im Januar 2005 ihre Zusammenarbeit mit dem Rabenclan. Was mir imponierte, denn schließlich gehörten mehrere Gründungsmitglieder des Rabenclans der Nornirs Ætt an.

Aber lassen wir die alten Vereinsgeschichten, so sehr sie mich damals auch mitgenommen haben.
Es soll ja um meinen spirituellen Weg gehen. Und der verlief nach der Krise erstaunlich gradlinig.
Als erstes wurde mir klar, wer wirklich meine Freunde waren. Ich hatte am Ende des Jahres 2005 weniger Freunde als Ende 2004, dafür aber bessere.
Ich orientierte mich in Richtung Ásatrú und anderseits Richtung Neoschamanismus - womit ich bei der "Nornirs Ætt", der ich 2005 übrigens noch nicht beitrat, an der richtigen Adresse bin.
Neoschamanische Methoden hatten mir in meiner psychischen Krise übrigens sehr geholfen.

Ich begann auch, meine Einstellung zur Arbeit und Beruf zu ändern.
Vorher teilte ich eine Einstellung, über die offensichtlich gesellschaftlicher Konsens besteht: Man arbeitet, weil man muss, und nicht, weil man will. Es geht bei der Arbeit letzten Ende nur um Geld. "Richtige", "ehrliche" Arbeit muss erlitten sein, Arbeit und Vergnügen sind deutlich getrennt. Mit der Knechterei im Job hat "man" es sich dann auch "verdient", für ein paar Wochen auf der "faulen Haut" zu liegen.
Ergänzt wird diese Arbeitsideologie durch eine Haltung, die sich am Besten mit "wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen" umschreiben lässt. Die übrigens nur an Rande mit der Abwehr von Trittbrettfahrern, Nassauern und "Schmarotzern" zu tun hat, aber sehr viel mit einer im Kern religiösen Einstellung, auch bei Menschen, die keiner christlichen Konfession angehören.
Hätte ich diese Anschauung nicht geteilt, wäre ich z. B. nie auf die Idee gekommen, mich nicht etwa deshalb selbstständig machen zu wollen, weil ich Feuer und Flamme für eine Geschäftsidee wäre, mit der ich mit viel Einsatz und Herzblut stehen würde, sondern weil das die Gelegenheit sei, mit viel Arbeitseinsatz mein (materielles) Glück zu machen.
Auch die weit verbreitete Praxis von Arbeitsagenturen und Jobcentern, eine lange Liste von monatlich nachzuweisenden Bewerbungen zu verlangen, gehört für mich zu dieser Arbeitsideologe. Denn in der Praxis ist klar, dass eine mit Engagement und Sorgfalt verfasste Bewerbung bei der Arbeitssuche mehr wert ist, als zehn lieblos unter Zeitdruck hingehauene Bewerbungen nach "Schema F".

Ich verstand lange Zeit diejenigen nicht, die für wenig Geld viel Engagement in ihre Arbeit steckten - ausgenommen "Liebhabereien", wie in meinem Falle der Schriftstellerei, die dann aber keine "richtige Arbeit" sind, sondern eben Hobby: Bringt es keinen Spaß, lässt man es sein. (Für Menschen, die sich willig ausbeuten lassen, habe ich, nebenbei bemerkt, immer noch kein Verständnis.)
Ein arbeitsaufwendiges Ehrenamt - das des Pressesprechers - trug dazu bei, dass sich meine Auffassung änderte. Ich begriff, dass eine Tätigkeit, die nicht immer Spaß macht, und die nicht bezahlt wird, trotzdem sehr befriedigend sein kann.
Noch später begriff ich dann, dass der auch von mir ersehnte "Erfolg bei der Arbeit" nur dann eintritt, wenn diese Arbeit auch das ist, was ich wirklich will.
Dazu muss ich allerdings gesamtgesellschaftliche moralische Überlegungen wie "Wer soll dann die ganze unangenehmen Arbeiten machen?" von meiner persönliche Lage trennen, und von der irrtümliche Annahme, jeder Mensch sei im Grunde Egoist und würde sich ohne "Anreize" und Zwang nach Kräften drücken, wo er kann: Lebensziel "Couchpotato". Ein düsteres Menschenbild. Übrigens war die unangenehmste Arbeit, die ich je verrichtet hatte - Outbound-Telefonieren im Callcenter - auch die unnützeste und gesellschaftlich schädlichste. Abgesehen davon, dass ich sie psychisch nicht verkraftet hatte - sie war Baustein meiner Depression (u. A.). Ohne Callcenter-Jobs wäre ich vielleicht nicht so scharf auf die Selbständigkeit gewesen. Lieber im Park Müll sammeln, als noch mal "outbound" Leute belästigen! ("Outbound" heißt, der Call-Center-Agent ruft aktiv bei jemandem an - oft unter einem Vorwand, denn Outbound-Anrufen ist rechtlich nur zulässig, wenn bereits eine Geschäftsbeziehung besteht.) Es kann gut sein, dass viele, wenn nicht die meisten "Scheiß-Jobs" schlicht überflüssig sind. (Und andere, wie in den Pflegeberufen und z. B. in der Gebäudereinigung, müssten keine "Scheiß-Jobs" sein, was auch, aber nicht nur, eine Frage der Bezahlung ist.)

Zurück zur (sittenchristlichen? protestantischen?) "Arbeits-Moral":
Sehr gut brachte das die Journalistin Meike Winnemuth die bei "Wer wird Millionär?" 500 000 Euro gewann, und nicht bei der "Süddeutschen Zeitung" kündigte, auf den Punkt: "Sie spinnen, Herr Jauch!"
Wer auf die Frage, ob er beim Gewinn von viel Geld kündigen würde, »sofort« sagt, sollte vielleicht auch ohne die Million gehen. Denn er ist am falschen Ort und hat fast schon die Pflicht, sich etwas zu suchen, was ihn glücklich macht – man hat nur ein Leben.
Ich war in diesem Jahr, 2005, gründlich desillusioniert, voller Selbstzweifel und Selbsthass, weit hinter das zurückgefallen, wo ich schon mal war.
Ich lag auf der Schnauze. Aber ich blieb nicht liegen. Was mir nur dank der Hilfe einiger guter Freunde, und, davon bin ich überzeugt, der Hilfe der "Großen" gelang.

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