Montag, 12. Juli 2010

Welche Grundbedürfnisse können Nazis bedienen?

Einige Gedanken, angeregt vom Artikel: Jeder Mensch hat Bedürfnisse, die sich die Rechtsextremen zu Nutze machen - wenn man sie lässt auf Netz gegen Nazis. Es ist ein Interview mit Prof. Dr. Andreas Zick, Sozialpsychologe an der Universität Bielefeld.

Auf diesen Artikel gestoßen bin ich durch einen Facebook-Beitrag von Karan, die meint:
Identität, Wertschätzung, Zugehörigkeit, Vertrauen. Bleiben diese Grundbedürfnisse unerfüllt, steht die Tür zum Hirn sperrangelweit offen für den Einmarsch extremer Ideologien. Das Netz gegen Nazis betreibt Ursachenforschung. (Schon seit einiger Zeit; hier sind die vorausgegangenen Artikel: https://www.netz-gegen-nazis.de/category/lexikon/ursachen)
In dem Interview sagt Dr. Zick:
Jeder Mensch hat bestimmte Bedürfnisse, die sich die Rechtsextremen zu Nutze machen, um UnterstützerInnen zu gewinnen. Zwei der Bedürfnisse sind die nach Identität und Selbstwert. Man sucht nach einer sinnvollen Form, das Selbst zu definieren und möchte Wertschätzung erfahren. Dies ist besonders bei Menschen aus einem problematischen familiären Hintergrund der Fall. Ein mangelnder Selbstwert wird durch Zugehörigkeit zu einer Gruppe ausgeglichen. Rechtsextreme bieten genau diese klare Definition des Selbst und die aufwertende Gruppenzugehörigkeit an.
Ich stimme nicht ganz mit Karan darin überein, dass, wenn Grundbedürfnisse nach Identität und Selbstwert unerfüllt bliebe, die Tür zum Hirn sperrangelweit offen für den Einmarsch extremer Ideologien stünde. Einmal, weil die Umweltfaktoren - da bin ich einer Meinung mit Dr. Zick - doch wichtiger sind, ob jemand "extremen Ideologien" zuneigt, und wenn ja, welchen.
(Da ich Karan kenne, gehe ich davon aus, dass sie mit "extremen Ideologien" nicht die Extremismustheorie, wie sie etwa Familienministerin Schröder vertritt, meint. Kurzfassung der Extremismustheorie: "Gute Mitte, böse Ränder, und je weiter jemand von der anständigen Mitte der Gesellschaft weg ist, desto böser. Und linke, rechte, religiöse Extremisten sind im Grunde das selbe." Ich verstehe sie so: extreme Ideologien sind als Ideologie extrem, d. h. ihre Anhänger sind extrem dogmatisch, extrem intolerant, extrem leicht fanatisierbar, extrem unzugänglich gegenüber allem, was ihrer Ideologie widerspricht oder auch nur widersprechen könnte.)

Der zweite Grund liegt darin, dass Nazis und ähnlich gestrickte Gruppen an den "inneren Primitivling" appellieren. Das ist zwar auch ein Einfallstor ins Bewusstsein (und Unterbewusstsein), aber eines, dass mit legitimen Grundbedürfnissen nichts zu tun hat. Das Bedürfnis, das die "Kackbraunen" wirklich bedienen können, ist das Bedürfnis, das "zivilisierte Verhalten", die für ein reibungsloses Zusammenleben zwischen Menschen nun einmal erforderliche Selbstbeherrschung und Rücksichtnahme, in bestimmten Situationen einfach "vergessen" zu "dürfen". Nicht zur "Triebabfuhr" oder um auf eher harmlose Art die "Sau rauszulassen", sondern die (moralische) "Erlaubnis", ohne schlechtes Gewissen ihren Hass auf alles, was ihnen "fremd" oder "verkehrt" vorkommt, freien Lauf zu lassen. Die große Verführung, Aggressionen an Schwächeren auslassen zu "dürfen", und zwar ohne schlechtes Gewissen, da der Stärkere ja "von Natur aus" recht hätte. Es ist "in Ordnung" und "gesundes Volksempfinden" und überdies herrlich bequem, borniert zu sein, dumpfe Vorurteile nicht zu hinterfragen, sich als "Herrenmensch" zu fühlen, und so lange auf einen am Boden liegenden "Untermenschen" zu prügeln und zu treten, bis der nicht mehr aufsteht.
Das mögen Bedürfnisse sein, die die Nazis bedienen können, aber hoffentlich keine legitime Grundbedürfnisse. Es ist meines Erachtens eine Frage der Umwelt und der Erziehung, ob jemand solche Bedürfnisse entwickelt.

Im Grunde können die kackbraunen Kameraden nur ein (echtes) Grundbedürfnis erfüllen: das Bedürfnis nach Zugehörigkeit, nach einem Wir-Gefühl. (Denn Identität, Wertschätzung, Vertrauen können sie ja allenfalls versprechen. Identität setzt ein gewisses Maß an Individualität voraus und Wertschätzung ein gewisses Maß an Toleranz - beides ist bei alten und neuen Nazis eher wenig zu finden. Und schon aufgrund ihrer Ideologie sind Neonazis zutiefst misstrauisch. Auch gegenüber Gruppenmitglieder.)

Ein häufiges Problem beim Menschen, die sich intensiv mit rechtsextremen Denken auseinandersetzen, ist es ja, dass wir (ich schließe mich ausdrücklich ein) irgendwann beinahe zwangsläufig ein tiefes Misstrauen gegen viele Arten des Wir-Gefühls bekommen. Etwa gegen Fähnchenschwenken zur Fußball-WM. Das ist so, weil diese Art "Wir-Gefühl" etwas mit nationaler, ethnischer oder historischer Identität zu tun hat. Wir haben Angst, uns selbst zu beschmutzen, wenn wir solche Dinge wie nationale oder ethnische oder historische Identität auch nur mit der Kohlenzange anfassen, und wir haben den Hang, im Zweifel im Wir-Gefühl etwas Gefährliches zu sehen.

Ich denke, dass ein Wir-Gefühl, das nicht auf Kosten anderer geht, eher positiv ist. Aber nur dann.

Samstag, 10. Juli 2010

Mehr Heinrich Brüning als Ludwig Erhard

Die notdürftig als Wirtschafts-Öchsperten getarnten Lobbyhanseln von der "Initiative" "neue" "soziale" "Markt-" Wirtschaft (INSM) schlagen mal wieder heftig zu, wie ich von "Weissgarnix" weiß: Die dümmsten Kälber… .

Die Öchsperten von der INSM machen in ihrer Anzeige mit einem Zitat von Ludwig Erhard auf, um für eine in einer noch längst nicht durchgestandenen Krise gefährliche prozyklische Sparpolitik Reklame zu machen:
Jede Ausgabe des Staates beruht auf einem Verzicht des Volkes
Ich habe auf die Schnelle leider nicht herausbekommen, in welchem Kontext Erhard das geäußert hat. Ich vermute, dass der "Vater der sozialen Marktwirtschaft" damit gegen schuldenfinanzierte Konjunkturprogramme argumentierte. Nur dass die in Deutschland zur Zeit gar nicht auf der Tagesordnung stehen. Erhard war zwar ein in der Wolle gefärbter Marktwirtschaftler, der (vielleicht zurecht) nichts von deficit spending hielt. Aber so viel ich weiß hütete er sich vor einer Spar- und Deflationspolitik, wie sie Heinrich Brüning als Reichskanzler in der Wirtschaftkrise Anfang der 1930er Jahre betrieben hatte. Brüning hoffte, mit einer Politik der Senkung staatlicher Leistungen und der Absenkung von Löhnen und Gehältern den deutschen Export zu erhöhen. Das Dumme war aber, dass auch Deutschlands Handelspartner Sparpolitik betrieben - und deshalb gar nicht importieren konnten. Diese prozyklische Politik - Bremsen, wenn es sowieso schon langsam läuft - scheiterte, sie verschärfte letztlich nur die Wirtschaftskrise in Deutschland, weil die Inlandsnachfrage völlig zusammenbrach. (Und war Wasser auf die Mühlen der Nazis, die, einmal an der Macht, eine Verschuldungspolitik ungeheuren Ausmaßes für die Aufrüstung betrieben.)

Dass das Zitat in dem Kontext, in den den von der INSM gestellt wurde, geradezu perfide ist, hat Weissgarnix überzeugend dargelegt.
Das ist aber just genau das, was die INSM fordert: Dass der Staat sein Ausgaben zurückführt, dass er Schulden tilgt. Dass Einnahmen und Geld verschwinden – bei Lehrern, Krankenschwestern, Beamten, Soldaten, Richtern und Transferleistungsempfängern. Und den ganzen kleinen Klein- und Mittelbetrieben, die auf kommunaler oder Landesebene Arbeiten für die Öffentliche Hand erledigen. Zufällig nicht die Klientel der INSM – too bad.

Besonders perfide an der INSM-Kampagne ist, dass für das vollformatige Foto genau jener Teil des “Volkes” ausgewählt wurde, der in nicht geringem Umfang auf Einkommen aus Staatshand angewiesen ist: Kinder, Kleingewerbler, Bürger mit Migrationshintergrund.
Mir fällt im Zusammenhang mit Erhard und der Sozialen Marktwirtschaft eher ein anderes Zitat ein, der Titel seines populären Buches Wohlstand für alle (1957).

Ich könnte mir glatt vorstellen, dass ein Politiker, der heute als Hauptziel der Wirtschaftspolitik "Wohlstand für alle" nennen würde, von der "neoliberalen" "Initiative" "Neue" "Soziale" "Markt"-Wirtschaft glatt mit Vorwürfen wie "linker Träumer", "Gleichmacher" oder "Ist das gerecht gegenüber den Leistungsträgern?" bedacht würde. "Wohlstand für alle!" - Wo kämen wir denn da hin?!?

Mittwoch, 7. Juli 2010

Psychologie der sexuellen Askese - ein historisches Beispiel

Augustinus von Hippo (354 - 430) ist einer der bedeutendsten christlichen Kirchenlehrer und einer der einflussreichsten Philosophen und Theologen (das lässt sich bei Augustin nur selten trennen) der "christlich-abendländischen" Tradition. Seine Theologie beeinflusste sowohl die katholische wie die protestantisches Lehren. Zum Beispiel sind die theologischen Schriften Joseph Ratzingers (Benedikt XVI.) wesentlich von seiner Lehre durchdrungen.

Für die Geschichte des Christentums so entscheidende Begriffe wie "Erbsünde" und "Prädestination" begründete Augustin in seiner umfangreichen theologischen Schrift De civitate Dei (Der Gottesstaat).
Im 14. Buch des "Gottestaates" befasst er sich eingehend mit seinem "Lieblingsthema", der Sünde, vor allem in Hinblick auf das, was wir erst seit dem 19. Jahrhundert "Sexualität" nennen.

Adams "Sündenfall" würde den ewigen Tod, das heißt, die ewige Verdammnis (in der Hölle) aller Menschen bedeuten, hätte Gottes unverdiente Gnade nicht viele davon ausgenommen. Die Ursache der Sünde ging aus der Seele hervor, nicht aus dem Fleisch. Die ganze Menschheit für die Sünde Adams zu bestrafen, wäre gerecht, denn Gott hätte Adam nicht mit zahlreichen oder ungeheuerlichen oder schwierigen Geboten beladen, sondern ihm lediglich mit einem ganz einfachen und leichten Gebot unter die Arme gegriffen, um das Geschöpf daran zu erinnernd, dass Gott der Herr sei. Zu seinem eigenen Besten hätte der Mensch freiwillig unterwürfig sein sollen. Infolge seiner Sünde wurde der Mensch, der geistig im Fleisch hätte sein sollen, fleischlich im Geiste.

Dass wir der geschlechtlichen Lust (libido) unterworfen sind, gehört nach Augustins Ansicht zu unserer Bestrafung für Adams Sünde. Er räumt ein, dass der Geschlechtsverkehr in der Ehe keine Sünde wäre, aber nur dann, wenn er dazu dienen soll, Kinder zu zeugen. Ein tugendhafter Mensch wird aber den Wunsch haben, dabei ohne Lustempfindung auszukommen. Aber selbst in der Ehe, wo Geschlechtsverkehr erlaubt und ehrbar ist, haben wir das Verlangen, ihn ohne Zeugen zu vollziehen. Warum? Augustin meint: Weil das, was von Natur aus völlig in Ordnung ist, doch bei seinem Vollzug aus Strafe zugleich die Scham (über Adams Tat) zur Begleiterin hat.

Nach der Lehre der Kyniker - über die sich Augustin in markigen Worten empört - sollte man keine Scham über als natürlich empfundene Gegebenheiten haben. Diogenes hätte angeblich keine Scham empfunden und aus Eitelkeit den Beischlaf öffentlich vollzogen, aber die Kyniker hätten nach diesem einen Versuch davon Abstand genommen. Augustin vermutet, dass Diogenes und andere, von denen das behauptet wird, das nur vorgetäuscht hätten. Sie hätten nicht wirklich unter den Augen von Menschen die geschlechtliche Lust auszuüben vermocht. (Ich kann mir die Bemerkung nicht verkneifen: man merkt, dass es zu Augustins Zeit noch keine Pornovideos gab.)

Das Beschämende an der geschlechtlichen Lust sei, dass der Wille darauf keinen Einfluss hat. Vor dem Sündenfall hätten Adam und Eva ohne Lustempfinden miteinander verkehren können - laut Augustin taten sie das übrigens nicht. Ohne den Sündenfall würden die Menschen sich der Zeugungsglieder zur Gewinnung von Nachkommenschaft in derselben Weise bedient haben, wie der übrigen Glieder, nämlich nach dem Machtspruch des Willens.
Handwerker empfinden beim Gebrauch ihrer Hände ja auch keine Lust, und wenn uns der Gebrauch der Hände Freude bereitet, dann könnten sie wir immerhin noch willkürlich beherrschen. (Augustins gibt das beeindruckende Beispiel eines Priester namens Restitutus, der sich willkürlich in einen todesähnlichen Zustand versetzen konnte, in dem er keinen Kniff und Stich spürte und sich sogar ohne Schmerzgefühl, vom Feuer brennen lassen konnte, nur dass nachher die Wunde schmerzte.) Anders als etwa die Hände oder die Zunge hätten die Geschlechtsorgane die Lust sozusagen in Eigenrecht genommen, in einem Maße, dass sie nicht in Bewegung gesetzt werden können, wenn die Lust sich versagt und wenn sie nicht von selbst oder auf Anreiz hin sich erhebt.

Dass zum Geschlechtsverkehr Lust gehören muss, ist also eine Strafe für Adams Sünde. Ohne Sündenfall hätte das Geschlecht von der Lust getrennt werden können.

Psychologisch gesehen ist diese Begründung für sexuelle Enthaltsamkeit - denn darauf zielt Augustin ja ab - bemerkenswert. Offensichtlich ist er der Ansicht, dass zur Tugend die vollständige willkürliche Kontrolle über sich selbst gehört. Dem Ausspruch "der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach" hätte Augustin nicht zugestimmt: ein williger, moralisch denkender, Gott gehorsamer Geist hat gefälligst das Fleisch zu beherrschen! Dass das auf der sexuellen Ebene nicht funktioniert, ist ein Zeichen für Sündhaftigkeit und eine verdiente Strafe Gottes. Weil das bei allen Menschen so ist, muss wohl die ganze Menschheit Adams Sünde geerbt haben.

In seiner Autobiographie (Confessiones) ergeht er sich sieben Kapitel lang in heftigsten Selbstanklagen, weil er als Junge zusammen mit einigen gleichaltrigen Freuden Birnen vom Baum des Nachbar geklaut hätte, obwohl er nicht hungrig war und seine Eltern bessere Birnen daheim hatten. Es wäre nicht schlimm gewesen, wenn er Hunger oder keine andere Möglichkeit gehabt hätte, zu Birnen zu kommen. Deshalb ist der Birnendiebstahl ein Akt der reinen Schlechtigkeit, eine unsagbar böse Tat, eine Bosheit der Bosheit willen, inspiriert von der Liebe zum Bösen.
Was ihn nach Jahrzehnten heftig beschämt, ist offensichtlich die Erinnerung daran, nicht vernünftig, kontrolliert und im Einklang mit den moralischen Regeln gehandelt zu haben.

Aus all dem folgt, dass der Geschlechtsakt und alles, was damit zusammenhängt, mit einem vollkommen tugendhaften Leben nicht vereinbar ist. Jedenfalls wenn man wie der "Kirchenvater" denkt.

Zusatz, da ich nach meiner Meinung gefragt wurde
Augustins Einfluss auf die "abendländische Geschichte" und die heute auch bei nichtchristlichen "Abendländern" übliche sittenchristliche Mentalität halte ich für verheerend.
(Die völlig verkorkste Sexualmoral der katholischen Kirche ist meines Erachtens ohne den Einfluss Augustins genauso wenig erklärbar, wie der verklemmte Puritanismus vieler Protestanten.)

Was ihn selbst angeht: ich denke manchmal in ähnlichen Bahnen wie er. Er hatte (wie ich auch) eine Neigung zur gegen sich selbst gerichtete Aggressivität, einen Hang zur Selbstanklage und offensichtlich ständig ein schlechtes Gewissen - mit und ohne Grund.

Bei ihm mündete diese Neigung in - anders kann ich es nicht nennen - Versündigungswahn. Augustins Wahn schlug in eine ungeheuerliche Selbstgerechtigkeit um. Ich nehme an, dass er sich vom quälenden Gefühl, sich versündigt zu haben, entlastete, indem er die ganze Menschheit zu schlimmen Sündern erklärte. Mir fällt auch auf, wie selbstverständlich er davon ausging, dass sein (im Alter) extremes Schamgefühl der Normalfall sei - und das, obwohl er in seiner Jugend sehr viel weniger schamhaft war.

Da er außerdem hochintelligent war, sämtliche rhetorische Tricks der langen römischen Rednertradition beherrschte, und gute Beziehungen zu den Mächtigen seiner Zeit hatte, setzten sich seinen Furcht erregenden theologischen Doktrinen (Erbsünde, ewige Verdammnis aller ungetauften Kinder, Prädestination bei gleichzeitiger Möglichkeit, aus freiem Willen schuldig zu werden, extremer moralischer Dualismus, die Lehre vom gerechten, moralisch und theologisch gebotenen Krieg, um nur einige zu nennen) gegen weniger fanatische Auffassungen durch.

Wegen des Bildungsmonopols des katholischen Klerus bis zum hohen Mittelalter gab es in Westeuropa jahrhundertelang keine Alternative zur Theologie und Philosophie des Kirchenvaters Augustinus. Außerdem waren und sind viele seiner Positionen für politische Machthaber ausgesprochen nützlich.

Mittwoch, 30. Juni 2010

Gedankensplitter zum neuen BP Wulff

Immerhin, der Mann ist für sein hohes Amt bestens qualifiziert:
Wulff war Krawattenmann des Jahres 2006, ist Träger des Big brother Award 2005 (für die Zerschlagung der Datenschutzaufsicht in Niedersachsen), der Zentralrat der Juden attestierte ihm fehlendes Geschichtsbewusstsein und er klungelt mit erzreaktionären Fundi-Christen, darunter dem Arbeitskreis Christlicher Publizisten.

Das heißt, er repräsentiert das politische Deutschland anno 20 10 geradezu perfekt. Und da es bestimmt auch nette Homestorys mit junger Frau & Kind geben wird, werden auch die Hauptstadtjournalisten ihn schätzen lernen (die machen ohnehin fast nur noch "Yellow Press", wollen es manchmal nur nicht wahr haben).
"Uns ist dieses Land anvertraut worden. Wir sollten es so oder besser hinterlassen, wie wir es vorgefunden haben."
(Aus der Antrittsrede des neuen Bundespräsidenten. Steht so ähnlich in jeder öffentlichen Toilette. Und wie die manchmal aussehen ... )

Linktipps:
Bundespräsident Wulff: Nichts lief wie geschmiert (hpd)

Warum die Linke Wulff zum Präsidenten machen wird (burks) (Nach dem zweiten Wahlgang geschrieben.)

Warum Wulff Bundespräsident wird und mir das nichts ausmacht (jensscholz)

Und noch was:
Christian Wulff beklagte sich auf D-Radio darüber, dass er wegen des Internets keinen Wissensvorsprung mehr vor dem Rest der Welt hätte.

Via: Digitale Notizen

Sonntag, 27. Juni 2010

Aus der Wunderwelt der gut-doofen Filme: Liane, das Mädchen aus dem Urwald

Nach längerer Zeit und an die Nackedei-Zensur-Sache, die Wirr-Licht passiert ist, anknüpfend, stelle ich wieder einen "gut-doofen" Film vor. Dieses Mal einen deutschen Film aus den 1950er Jahren, der nicht unbedingt repräsentativ für die deutschen Filme der 1950er Jahre ist. Liane, das Mädchen aus dem Urwald

Liane Plakat

Zur Handlung:
Eine Expedition findet im Südosten Afrikas eine junge weiße Frau. die die weibliche Ausgabe Tarzans sein könnte, wenn sie einige Mädchenklischees weniger erfüllen würde. Thoren, der Kameramann der Expedition verguckt sich in sie. (Thoren wird gespielt von Hardy Krüger, später einer der wenigen deutschen Schauspieler, die eine internationale Filmkarriere machten.) Er fängt das "wilde Mädchen" buchstäblich ein. Anhand eines Foto wird sie als Liane identifiziert. Ihr einziger lebender Verwandter ist der sehr reiche Reeder Amelongen, der sich zur Ruhe gesetzt hat. Die Reederei wird von seinem Neffen, dem skrupelosen Viktor Schöninck, geleitet, den sein Onkel zu seinem Universalerben eingesetzt hat, da er nicht wusste, dass seine Enkelin Liane noch lebt. Schöninck fürchtet, Liane könnte ihm sein Erbe und seinen ertragreichen Geschäftsführerposten streitig machen und intrigiert gegen sie. Nach vielen vergeblichen, von Schönrick angeleierten, Versuchen, das Mädchen als Schwindlerin zu entlarven, findet der alte Amelongen einen eindeutigen Beweis für die Herkunft Lianes. Doch bevor das öffentlich bekannt wird, wird der alte Reeder ermordet aufgefunden. Die Indizien deuten auf Lianes Begleiter, den Wo-Do-Krieger Tanga, als Mörder hin. Es stellt sich jedoch heraus, dass Schöninck den alten Mann umgebracht hat.
Liane kommt mit der Zivilisation nicht zurecht, und kehrt an der Seite von Thoren in ihren Urwald zurück.

Auch wenn es Ansätze zu einer flotten Mischung aus Abenteuerfilm und Krimi gibt, erstickt "Liane" streckenweise geradezu in Klischees. Aus heutiger Sicht ist der Film frauenfeindlich und streckenweise rassistisch. Hardy Krüger nannte "Liane" nicht von ungefähr später den schlechtesten Film, den er jemals gedreht hätte.

Ein dünner Tarzan-Aufguss mit Softporn-Einlage? Nicht ganz. Im direkten Vergleich zeigt sich, dass einige Tarzan-"Klassiker" genau so klischeehaft, albern und oft weitaus rassistischer sind.

Die meisten Tarzan-Filme etwa ab Mitte der 30er Jahre sind ausgesprochen prüde und in erotischer Hinsicht geradezu klinisch "sauber" - was bei einem gut gebauten Helden im Lendenschurz in gewisser Hinsicht wieder eine reife Leistung ist. Diesen Vorwurf kann man "Liane, das Mädchen aus dem Urwald" gewiss nicht machen.
So leicht bekleidet wie die 1956 erst 16 Jahre alte Hauptdarstellerin Marion Michael - im Lendenschurz und "oben ohne" - traute sich damals außerhalb des "Sittenfilms" niemand auf die Leinwand. So viel Nacktheit - auch die Darstellerinnen der Afrikanerinnen trugen nicht viel mehr am Leib als Marion Michael - wäre in den USA damals und auch später noch absolut undenkbar gewesen, und ist auch für bundesdeutsche Verhältnisse der 50er Jahre ein kleines Wunder - der Film war, leicht geschnitten, sogar "ab 10" freigegeben.

Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass das Kokettieren mit nackter, weiblicher Haut und der Appell an männliche Sexualfantasien eiskalt kalkuliert war, um einen Film mit deutlichen Drehbuchschwächen kommerziell zu retten. Seit jeher gelang es dem "exotischen" Abenteuerfilm, Nacktheit durch angebliche "Natürlichkeit" an der Zensur vorbeizuschmuggeln, so dass das vielleicht weniger gewagt war, als es im Nachhinein wirkt. Der Film ist zwar tatsächlich so harmlos, wie es die Freigabe nahe legt, aber was sich im "Kopfkino" junger, männlicher Kinobesucher abspielte, die in der sexuell miefigen Atmosphäre der Adenauer-Zeit aufwuchsen, lässt sich denken. Ich vermute, dass auch die unfreiwilligen Werbung der katholischen Kirche, die den "Sittenverfall" anprangerte, von vornherein einkalkuliert war - auf den "Beißreflex" des katholischen "Filmdienstes" bei "unzüchtig" bekleideten Darstellern war Verlass.
Finanziell war der Film jedenfalls ein großer Erfolg. Liane, die fast nackte "verführerisch-unschuldige Kindfrau", machte ihn zum ersten deutsche Kultfilm der Nachkriegszeit.
Gut an "Liane, das Mädchen aus dem Urwald" ist, dass er etwas für die Durchlüftung der miefigen bundesdeutschen Moralverstellungen der damaligen Zeit tat.

Allerdings hat die Produktion auch eine "dunkle Seite" - nicht im Sinne der "öffentlichen Moral" als im Sinne der privaten Moral des Filmproduzenten Gero Wecker. Er band seine "Entdeckung" mit einem über sieben Jahre laufenden Knebelvertrag an seine Filmgesellschaft und zwang sie in eine Laison, von der sie verzweifelt versuchte loszukommen. Das Leben der sozial engagierten, wahrscheinlich sehr idealistischen Frau glich einer tragischen Achterbahnfahrt, 2007 starb die Film- und Theaterschauspielerin. Schauspielerin Marion Michael - Das "Mädchen aus dem Urwald" ist tot (Spiegel)

Im "Wikipedia"-Artikel Liane, das Mädchen aus dem Urwald stehen aufschlussreiche Angeben über die Freigabepraxis:
Liane, das Mädchen aus dem Urwald wurde vom Arbeits- und Hauptausschuss der FSK (AA: 1. Oktober 1956, HA: 19. Oktober 1956) zunächst mit drei Schnitten ab 10 Jahren freigegeben.

Der Film erregte bei seinem Erscheinen erhebliches Aufsehen, da die Hauptdarstellerin Marion Michael darin, wie auch die afrikanischen Statisten und Statistinnen, teilweise nur mit einem Lendenschurz bekleidet war. Die Szenen sind aus heutiger Sicht harmlos, sorgten damals aber für große Entrüstung. Auch deswegen wurde der Film ein großer finanzieller Erfolg.

Die Obersten Landesjugendbehörden (OLJB) bemühten daraufhin ein Wiederaufnahmeverfahren, das wegen Verfahrensmängeln wiederholt werden musste. Der Arbeitsausschuss legte den Film in seiner Sitzung vom 1. Oktober 1956 auf ab 12 Jahren fest, der Hauptausschuss gab den bereits seit vier Monaten laufenden Film schließlich am 13. Februar 1957 mit knapper Mehrheit ab 16 Jahren frei. Der letztinstanzliche Rechtsausschuss bestätigte aber am 6. April 1957 die Freigabe ab 10 Jahren. Umstritten war dabei, ob sich auch eine leicht beschürzte Weiße unter oberkörperfreien Afrikanerinnen bewegen könne. Bei letzteren unterstellten die Prüfer keine sexuelle Reizwirkung.[1]

Die FSK senkte in der Prüfung vom 8. Juli 1974 die Altersgrenze auf ab 6 Jahre, erhöhte sie in der Prüfung vom 22. März 1990 aber auf ab 12 Jahre.
Die Angabe, dass die Prüfer bei oberkörperfreien schwarzen Frauen keine "sexuelle Reizwirkung" unterstellten, stammt aus: Jürgen Kniep: „Keine Jugendfreigabe!“. Filmzensur in Westdeutschland 1949-1990, Wallstein Verlag Göttingen 2010 ISBN 978-3-8353-0638-7

Ich neige dazu, zu vermuten, dass es dabei weniger um die "sexuelle Reizwirkung" ging - ich wüsste nicht, wieso dunkelhäutige Frauen für Weiße generell sexuell unattraktiv sein sollten. Ich bin mir ziemlich sicher, dass den Prüfern das klar war - so weltfremd sind nicht einmal FSK-Prüfer, selbst nicht in den 50ern.
Es ging wohl um das Klischee, dass "Negerinnen" und andere "Wilde" im Urwald natürlich barbusig herumlaufen könnten, was bei einer zivilisierten Frau aber unmoralisch wäre.

Bezeichnend finde ich auch, das die 1974 auf sechs Jahre gesenkte Altersfreigabe 1990 auf 12 Jahre erhöht wurde. Ich sehe darin ein Indiz für die beginnende "Neo-Prüderie", wobei die FSK dem allgemeinen Trend um Jahre voraus war.

Mittwoch, 23. Juni 2010

Kaventsmänner

Eine interessante Meldung bei "Spiegel online", die mich zu einigen Gedanken anregt:
Sie werden bis zu 30 Meter hoch, zerstören selbst große Schiffe - Monsterwellen lassen sich bisher nicht vorhersagen. Nun können Forscher immerhin zeigen, unter welchen Bedingungen die gefährlichen Wasserwände entstehen. Eine Erkenntnis: Die Kaventsmänner sind erstaunlich langlebig.
Forscher erkennen Monsterwellen-Wetter.

Selbst in diesem interessanten und meiner Ansicht nach gut recherchierten "Spiegel"-Artikel geht es nicht ohne eine Behauptung ab, die in kaum einem Text über "Freak Waves" fehlt, die aber meines Erachtens so nicht stimmt:
Noch vor wenigen Jahren hätte kaum jemand seinen Erzählungen geglaubt: Berichte über Monsterwellen galten als Seemannsgarn.
Mit den "Kaventsmännern" was es lange Zeit ähnlich wie mit den Kugelblitzen. Es gab neben Augenzeugenberichten nur wenige fotografische Belege. Vor allem fehlte eine allgemein akzeptierte Erklärung für dieses Phänomen. Wie Einstein sagte: "Die Theorie bestimmt, was wir beobachten können." Passt ein Phänomen nicht in das vorherrschende Erklärungsmodell, wird es - ohne böse Absicht und ohne ausgeprägte Ignoranz - gerne einmal für eingebildet erklärt. Zumal die Überlebenden eines Schiffsunglücks ja traumatisiert sind. Und was Seeleute so alles erzählen, wenn der Abend lang und die Getränke stark sind, das weiß schließlich jeder ...
Hinzu kam, dass Schiffsversicherer (ein bekanntermaßen rauer Zweig der Versicherungswirtschaft) ohnehin gern im Verschwiegenen arbeiten. Ein wirkliches Interesse, das Ausmaß des Risikos "Monsterwellen" publik zu machen, gab es offensichtlich nicht.
Deshalb war das Phänomen "Monsterwelle" bis 1995 umstritten.

Zwei Ereignisse führten dazu, dass die "Kaventsmänner" auch von den größten Skeptikern nicht mehr wegdiskutiert werden konnten - diese Ereignisse mit eindeutig dokumentierten Monsterwellen führten dazu, dass deren Existenz nicht mehr in Frage gestellt und wissenschaftliche Forschungen betrieben werden: In der Neujahrsnacht 1995 wurde von der automatischen Wellenmessanlage der norwegischen Ölbohrplattform Draupner-E während eines Sturms in der Nordsee eine einzelne Welle mit 26 m Höhe gemeldet.
Aber in das Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit - einschließlich besonders hartnäckiger Landratten - kamen die "Freakwaves" erst am 11. September 1995, als der britische Luxusliner "Queen Elizabeth 2" bei der Neufundlandbank von Monsterwellen getroffen wurde. Das extrem seetüchtige Schiff überstand den Vorfall mit nur leichten Schäden. Es gab vor allem hunderte Zeugen und dutzende gute Fotos und Videos.

So viel ich weiß, war es unter Seeleuten, aber auch z. B. unter Reedern, Seefahrtshistorikern und anderen mit der Seefahrt verbundenen Menschen niemals wirklich strittig, dass es die "Kaventsmänner" wirklich gibt.

Ich erinnere mich konkret an zwei Schiffsunglücke, die sich zu meiner Schulzeit ereigneten, und bei denen ich über Klassenkameraden (in einem Fall der Sohn eines Kapitäns eines Schiffes, das an der Suche nach der "München" beteiligt war) indirekt die Diskussionen um die Ursachen der Havarien mitbekam - auch Dinge, die es damals nicht in die Zeitungen schafften.
Der erste Fall war der rätselhafte Untergang der MS München im Dezember 1978. Der einzige vorstellbare Grund, wieso ein modernes und sehr seetüchtiges Schiff einfach bei schwerer See "verschwinden" kann, war, dass war auch damals schon offensichtlich, Wellenschlag. Nun war die "München" keine Nussschale, die Wellen müssten über 25 m hoch gewesen sein, um dem Frachter etwas anhaben zu können. Damals gab es tatsächlich "Experten", die bestritten, dass es solche Wellen überhaupt gebe könne. Nach tagelanger Suche war klar, dass die 28 Menschen an Bord der "München" umgekommen waren. Gefunden wurden nur drei Leichter, ein leeres, zerstörtes Rettungsboot und eine Notfunkbake sowie unbenutzte, teils ölverschmierte Rettungsinseln. Das Schiff musste also sehr schnell gesunken sein. Das Rettungsboot war ursprünglich in zwanzig Metern Höhe an der Steuerbordseite des Schiffs mit Bolzen befestigt gewesen. Diese Bolzen waren nicht nur nicht gelöst worden (was geschehen wäre, wenn jemand das Boot benutzen wollte), sondern auch noch völlig nach hinten hin verbogen, was auf schweren Wellenschlag von vorn hindeutete.
Es war in Seefahrtskreisen - übrigens auch bei der Seeamtsverhandlung über die Havarie - also völlig klar, dass die "München" einer "Monsterwelle" zum Opfer gefallen war. Trotzdem gab es "Experten", die das bestritten, und z. B. schwere Konstruktionsfehler an der "München" für das Unglück verantwortlich machten. Ich erinnere mich an eine Karikatur, in der ein winziges Forschungsschiff zu sehen war, über dem sich eine berghohe Welle türmt. An Bord des Schiffes sagt ein Wissenschaftler zum Kapitän: "Keine Angst, Käpt'n, das da ist nur eine optische Täuschung!"

Phoenix Doku: Die Monsterwellen auf dem Meer

Das zweite Unglück war der Untergang der E.L.M.A. Tres (eigentlich: "MS Corinna Drescher", das Schiff war an die argentinische Staatsreederei E.L.M.A. verchartert) am 26. November 1981 im Atlantik, nahe den Bermudas, wobei 23 Seeleute starben.
Zwar kam im Falle der "Corinna Drescher" auch ein Maschinenausfall hinzu, aber es war ziemlich deutlich, dass das Schiff ohne extrem hohen Wellen nicht verloren gegangen wäre. Ich erinnere mich lebhaft an die von der Gewerkschaft ÖTV erhobene schweren Vorwürfe gegen die Reederei wegen des Zustandes des Schiffes und den schlechten Ausbildungsstand der überwiegend phillipinischen Mannschaft. Die "Monsterwellen" wurden auch als "Monsterwellenlegende" oder "Bermuda-Dreieck-Legende", als bloße Schutzbehauptung eines verantwortungslosen Reeders, bezeichnet. Auch wenn der Reederei vor dem Seeamt tatsächlich einige Versäumnisse nachgewiesen werden konnten, waren die extrem hohen Wellen keine Ausrede.

Mit dem Untergang der "Corinna Drescher" sind wir mitten im "Bermuda-Dreick". Einem ganz gewöhnlichem Seegebiet übrigens, in dem keineswegs mehr Schiffe oder Flugzeuge als in anderen ziemlich dicht befahrenen und ziemlich gefährlichen Seegebieten verschollen gehen.

Zu den sieben Meeresgebiete, in denen besonders oft "Monsterwellen" entstehe, gehört in der Tat das Bermudadreieck, aber auch der Agulhasstrom an der Ostküste Südafrikas - und die nördliche Nordsee.
Wenn man sich vor Augen hält, wie viele Bohrinseln und Ölförderplattformen es in der nördlichen Nordsee gibt, dass der Fall der Bohrinsel "Ocean Ranger", die am 15. Februar 1982 wahrscheinlich einer Riesenwelle zum Opfer fiel, zeigt, dass die Bohrinseln keineswegs gegen solche Gefahren gefeit sind, und - siehe die Riesenölpest im Golf von Mexiko - wie nachlässig die Sicherheitsbestimmungen offensichtlich gehandhabt werden, dann ist es klar, dass Kaventsmänner nicht nur eine Gefahr für Seeleute sind.

Sonntag, 20. Juni 2010

"Werbung, die nicht mehr geht" - nicht immer aus gutem Grund

Wer sie noch nicht kennen sollte, sollte sie sich einmal ansehen - alte (US-amerikanische) Werbeanzeigen, die heute nicht mehr funktionieren würden.
Ad’s That Just Don’t Work Anymore.
Zusammengefasst: aus heutiger Sicht sind viele der Werbeanzeigen unglaublich sexistisch, konkret: frauenverachtend. Erstaunlich auch, mit welcher Frechheit Produkte, die auch damals schon im berechtigte Ruf standen, ungesund zu sein, beworben wurden. ("More Doctors smoke Camels than any other cigarette.")

Nach einigen amüsierten, erstaunten und manchmal entsetzten Momenten drängte sich mir ein Gedankengang auf, den Antje Schrupp auf twitter in einem Satz zusammenfasste:
Ich frage mich bei sowas immer, was wir wohl heute für völlig normal halten und in 30 Jahren alle facepalmen.
Ich würde mich freuen, wenn z. B. "Greenwashing" künftig genau so lächerlich und unverschämt wirkt, wie heute z. B. die damaligen Versuche der Tabakindustrie, die Gesundheitsgefahren des Rauchens herunterzuspielen. (Lesetipp dazu: Das Märchen vom grünen Riesen (spon) und die Greenwash-Studie (pdf) von LobbyControl.)

Allerdings enthält die kleine Sammlung der Werbeunglaublichkeiten eine Anzeige - und zwar ist es ausgerechnet die erste - die ich gar nicht schlimm finde: "Why did we put our heads together? To save money! Bradley Group Showers"
Ich könnte mir vorstellen, dass diese Werbung für Gruppenduschen noch heute funktionieren könnte - allerdings nicht in den USA.

Der Wandel der gesellschaftlichen Normen, der aus dieser alten Werbung spricht, ist meiner Ansicht nach ambivalent.

Noch deutlicher wird das anhand einer alten deutschen Werbung, die ich vor längerer Zeit schon einmal vorstellte - eine "Höhensonnen"-Werbung aus dem Jahr 1966.
hoehensonne

Sie wäre heute aus einem guten und einem schlechten Grunde kaum noch denkbar.
Der gute Grund ist der, dass UV-Bestrahlung von Kindern gesundheitlich bedenklich ist und kein Solarienhersteller mehr auf die Idee käme, seine Produkte für die Gesundheitsvorsorge für Kinder zu empfehlen. (Allerdings ist auch dieser "gute Grund" etwas ambivalent: die Hautkrebsprävention kippte in eine "Sonnenpanik" um, die wohl eine Ursache des dramatischen Anstieg des Vitamin D-Mangels sein dürfte. An dem sollen über die Hälfte der Kinder leiden - jedenfalls, wenn man den Herstellern von Vitamin-D-Präparaten glaubt.)
Der schlechte Grund ist der, dass es seit Anfang der 1990er Jahre üblich geworden ist, bei Kinderfotos sofort mitzudenken, wie diese wohl auf "Pädophile" wirken könnten. Was an sich nicht falsch wäre, wenn die Besorgnis nicht längst in Hysterie umgeschlagen wäre, und wenn es nicht ziemlich gefährliche Vorstellungen darüber gäbe, wie "Kinderschänder" "ticken". Ich nenne nur die "Anfixhypothese", die in der Debatte um die Internetsperren eine unrühmliche Rolle spielte, und in der Nacktfotos von Kindern die Rolle einer "Einstiegsdroge" in die "harte Kinderpornographie" einnehmen.
Um es noch einmal zu sagen: "Kinderpornographie" ist keine Pornographie, sondern die Darstellung einer tatsächlich stattgefundenen sexualisierten Misshandlung eines Kindes.
Was bei Fotos wie dem auf der alten "Höhensonnen"-Werbung nicht der Fall ist.

Um auf Antjes Frage zurückzukommen: Ich fürchte, dass es nicht nur einen positiven Wandel in Richtung weniger Diskriminierung und mehr Verbraucherschutz in der Werbung gibt.
Ich fürchte einen Wandel hin zu sehr konservativen und sehr repressiven Moralvorstellungen, der von der stets opportunistischen Werbung flankiert wird.
Vielleicht "funktioniert" Werbung mit religiösen Anspielungen in einigen Jahren nicht mehr - und zwar aus Angst vor Fundi-Christen und Fundi-Moslems? Oder es wird es umgekehrt bald "ganz normal" sein, sich in der Werbung über "Unterschichtler" und "Sozialschmarotzer" lustig zu machen? Sind ja eh keine kaufkräftige Zielgruppe!

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