Gedankenfutter

Donnerstag, 30. Oktober 2008

"Moraltheologie" - oder: wer was wie sagen darf

Moraltheologie, Disziplin der katholischen Theologie; befasst sich mit dem praktischen Lebensvollzug des Christen und den diesem zugrunde liegenden normativen Handlungsvorgaben; ihr entspricht in der evangelischen Theologie die theologische Ethik.
Meyers Lexikon online

Als praktizierender Heide übersetze ich das so: Die Moraltheologie befasst sich mit der Frage, was Christen dürfen, wobei die "moralische Richtschnur" dessen, was man als Christ darf, aus religösen bzw. mythologischen Überlieferungen abgeleitet wird.
Im übertragenen Sinne "moraltheologisch" sind solche Aussagen und Handlungen, in denen es in erster Linie darauf ankommt, sich selbst zu vergewissern, dass man zu den "Guten" gehört, und zu benennen, wer oder was "böse" ist.
Dabei rücken die Fragen, ob "das Böse" angemessen benannt und verboten wird, und ob "die Bösen" angemessen hart bestraft werden, die Frage, ob ein Misstand durch "moraltheologisch" motiviertes Handeln wirklich abgestellt oder wenigstens eingedämmt wird, völlig in den Hintergrund.

Praktisches Beispiel - der "Bible Belt" der USA. Hier ist die Politik stark "moraltheologisch" ausgerichtet, vor allem auch in Hinblick auf Kriminalität. Wäre eine Politik, die darauf drängt, dass Kriminelle aus moralischen Gründen unnachsichtig verfolgt und hart bestraft werden müssen, besonders erfolgreich, müsste man im "Bible Belt" besonders sicher vor Straftaten sein. Ein Blick in die Liste der gefährlichsten Städte der USA zeigt hingegen, dass knapp die Hälfte der "gefährlichsten Städte" der USA im klassischen "Bible Belt" liegen - und nur drei der 25 sichersten Städte.

Nach Ansicht des Journalisten und Schriftstellers (Schwerpunkte: Internet, Rassismus, Antisemitismus, Rechtextremismus, Zensur) Burkhard Schröder erschöpfen sich viele (die meisten?) politische Diskurse in Deutschland in "Moraltheologie":
Man diskutiert nicht über den Inhalt des Gesagten, wie hierzulande üblich, wenn es um Moraltheologie geht, sondern darüber, ob dieser oder jener dieses oder jenes hat sagen und vergleichen dürfen.
Dabei ging es um das Thema Internet-Zensur in China, revisited - aber im Prinzip gilt das für etwa die Hälfte aller politischen und gesellschaftlichen Diskurse, die es in deutsche Massenmedien schaffen. Egal ob es um Drogen, Kinderpornographie, Terrorismus, Rassismus, Antisemitismus, Gewaltkriminalität, Neonazis und sogar Umweltschutz geht. Selbst die Diskurse um die Finanzkrise kreisen hierzulande zu oft um "moraltheologische" Fragen.
Motto: Empörung zeigen, betroffen sein, und jeden abstrafen, der es wag, gut gemeinte, aber unwirksame, Maßnahmen, Projekte, Programme, Gesetze zu hinterfragen.

Die Verbindung zum autoritären Gesellschaftsverständnis ist mit Händen zu greifen. Auf der einen Seite Unsicherheit: "Darf man das? Ist das erlaubt?" - (Ich gebe zu: auch ich bin oft verunsichert, bzw. lasse mich leicht verunsichern.) Auf der anderen Seite: "Wer hat Ihnen das dann erlaubt? Da könnte ja jeder kommen!"

Mal ein aktuelles Beispiel: neulich im Deutschlandfunk (und zwar nicht bei der "Morgenandacht" - sorry für die fehlende Quellenangabe, habe Uhrzeit und Sprecherin nicht notiert) - Es sei zynisch und menschenverachtend, von einer "geplatzte Spekulationsblase" zu reden - denn die Finanzkrise bedeutet für zahllose Menschen Verlust ihre Ersparnisse, Arbeitsplatzverlust, für viele Armut.
Als jemand, dem es - vorsichtig ausgedrückt - wirtschaftlich nicht allzu gut geht, kann ich nur sagen: das Bild einer platzenden Blase trifft's genau. Stelle ich mir so vor wie ein platzender LKW-Reifen. Das ist nicht nur extrem laut, sondern auch extrem unfallgefährlich. Eine platzende Spekulationsblase ist größer, lauter, gefährlicher.
Und selbst wenn es nicht so wäre, wäre der Wortgebrauch mein geringstes Problem.

Das erinnert mich an die "Negerkuss P.C" - oder "Political Correctness für Dünnbrettbohrer": lieber einen vielleicht fragwürdigen, aber für die vom Rassismus Betroffenen einigermaßen harmlosen Sprachgebrauch verdammen, als tatsächlich rassistische Strukturen - z. B. das mörderische Grenzregime der EU auch nur benennen. Aber im Fall der "Negerküsse" reicht es aus, wenn ich das "N-Wort" nicht in den Mund nehme, um mich "als einer der Guten" fühlen zu dürfen.

Donnerstag, 21. August 2008

Zieleinlauf a la "Asterix"

Im Comic Asterix bei den Olympische Spielen spielen Asterix und Miraculis der römischen Mannschaft heimlich Zaubertrank zu. Die mit Zaubertrank "gedopten" Römer laufen alle gleichzeitig über die Ziellinie.

Laut Hockey ist dieser Gag gleich zwei Mal Realität geworden -
Asterix in China. Aber bei den jamaicanischen Wunder-Sprinterinnen ist natürlich kein "Zaubertrank" im Spiel ...

Samstag, 16. August 2008

Präventionitis

Dieser Beitrag schließt sich an meine Gedanken zu Kultur der Angst an.

"Ängstliche Angstmacher", wie unser Bundesinnenminister, rufen gerne nach Prävention. Das Wort "Prävention", oder schlicht "Vorsorge", hat einen guten Ruf, der sich aus der Alltagserfahrung ergibt - regelmäßig Zähneputzen erspart schmerzhafte Karies, Ölstandkontrolle den Motorschaden und ein vernünftiges Türschloss so manchen Einbruchsdiebstahl.
Für ängstliche Menschen hat die Prävention noch eine andere Funktion: Angstabwehr. Ich erinnere mich an eine Nachbarin, die schreckliche Angst vor Einbrechern hatte. Bevor sie schlafen ging, kontrollierte sie jedes Mal ihre Schlösser - das gab ihr das nötige Gefühl der Sicherheit, um ruhig schlafen zu können. Sie war sich allerdings bewusst, dass ihre Turschloßkontrolle eine Marotte war, wie sie sagte. Angsterfüllte Politiker oder "Sicherheitsexperten" reflektieren ihre Ängste und ihre Angst-Abwehr-Rituale dagegen nicht - im Gegenteil, sie bestreiten nicht selten, dass sie überhaupt Angst hätten.

Manchmal müssen Experten, die nach Prävention rufen, erst die Angst erwecken, die mit der jeweils vorgeschlagene Maßnahme abgewehrt werden soll.
Wenn also das Gesundheitsministerium feststellt, dass 63 Prozent der Jugendlichen gerne besser aussehen würden, dann zucke spontan mit den Achseln: Na und? In der Pubertät ist man eben mit sich selbst und der Welt nicht im Reinen, ich fand damals z. B. meine unreine Haut katastrophal, obwohl ich sonst nicht sonderlich eitel war, und habe Unmengen an Aknemitteln durchprobiert. Irgendwann war diese Phase vorbei, übrigens vor dem Ende der Pubertätsakne.
Im Kontext mit Magersucht und ähnlichen Selbstwahrnehmungsstörungen ist es vielleicht interessant zu wissen, wie weit verbreitet die Unzufriedenheit mit dem eigenen Aussehen ist, vor allem, ob diese Unzufriedenheit zugenommen hat, aber "beunruhigend" finde ich diese Zahlen nicht.
Aber der Verbraucherminister findet es beunruhigend - und fordert (wieder einmal) mehr Anleitung zum gesunden Essen. Als Patentrezept sowohl gegen Übergewicht wie gegen Magersucht.
(Mein Vorschlag: da weder Gesundheitsministerin Ulla Schmidt noch Verbraucherminister Horst Seehofer sonderlich schlank und durchtrainiert aussehen, sollten sie solche Ermahnungen besser der hageren Familienministerin Ursula von der Leyen überlassen.)

So wie es auf eine konkrete Gefahr gerichtete Ängste und abstrakte Ängste gibt, so gibt es auch auf die Abwehr konkreter Gefahren gerichtete Präventionsmaßnahmen, deren Erfolg oder Misserfolg eindeutig erkennbar sind - ein Beispiel aus dem Gesundheitswesen wären Schutzimpfungen - und solche, bei denen die Gefahr diffus ist und Erfolge oder Misserfolge schwer nachweisbar sind - ein Beispiel wären Kampagnen zur "gesunden Ernährung". Antiraucherprogramme liegen in etwa dazwischen.

Präventionsprogrammen gegen diffuse Bedrohungen, egal, ob sie aus dem Bereich Gesundheit, Jugendschutz ("Killerspiele") oder Terrorismusbekämpfung stammen, haben folgende gemeinsame Merkmale:
  • Für "abstrakte" Präventionsprogramme ist grundsätzlich jeder Einzelne ein Risikofaktor. Die "Schuld" wird auf den Einzelnen abgeladen. Bei Gesundheitsprogrammen äußert sich das in Bevormundung, bei der Kriminalprävention im Generalverdacht - im Falle Jugendschutz ist beides möglich.
  • Wer Zweifel am Sinn der Präventionsmaßnahme hegt, dem wird Angst gemacht. Gelingt das nicht, wird der Zweifler mit Hinweisen auf die Dringlichkeit des Problems zum Schweigen gebracht. Nicht selten wird der Kritiker selbst als "Gefährder" wahrgenommen oder als "kriminell" angeprangert.
  • Blinder Aktionismus: Immer muss sofort etwas geschehen. Egal, ob es überhaupt handfeste Erkenntnisse über Art und Ausmaß der Bedrohung gibt. Oft reichen schon vermutete oder gefühlte Bedrohungen aus.
  • Präventive Logik ist expansiv: Wenn eine Präventionsmaßnahme nichts gefruchtet hat, dann muss eben die nächste Maßnahme nachgeschoben werden. Reflexionen darüber, ob die Prävention überhaupt sinnvoll ist, unterbleiben. (Anders etwa als bei Vorbeugung mit konkreter Zielsetzung.)
Egal, auf welchem Gebiet diese von politischen Angstbeißern angestoßenen Präventionsprogramme wirken, ob gegen die "demographische Zeitbombe" oder die "Jugendkriminatlität", gegen "Volkskrankheiten" oder "Terrorismus" - rechtsstaatliche Regularien, vor allem Bürgerrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat, gelten als hinderliche Förmlichkeiten. (Einige durch Präventionitis berohte Rechte: Ärztliche Schweigepflicht, Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung, Fernmeldegeheimnis, Recht auf freie Berufswahl, Versammlungsrecht, Elternrecht usw. usw. .)

Die ängstlichen Angstmacher bahnen den Weg in den Präventionsstaat.

Samstag, 9. August 2008

Gedanken zur Kultur der Angst

Angeregt durch einen schon etwas zurückliegenden Blogbeitrag von Andreas Stadelmann A - N - G - S - T !!!, durch ein Gespräch mit Sven Scholz vor genau einer Woche und nicht zuletzt einigen Reflektionen darüber, wie Angst meine Persönlichkeit prägt, die ich aber größtenteils für mich behalte, schreibe ich über Angst. Keine originellen oder neuen Gedanken, gewiss nicht; alles, was ich hier schreibe, habe andere entweder schon besser ausgedrückt, oder ich vermute wenigstens, dass andere es schon besser ausgedrückt hätten.

Angst spielt im heutigen Bewusstsein eine zentrale Rolle. Nicht nur in Deutschland - die "German Angst" ist in den USA geradezu sprichwörtlich - werden unterschiedlichste Themen durch "Angst-Brille" gesehen.
Angst und Angstabwehr spielten schon im frühen 20. Jahrhundert eine problematische Rolle im politischen Handeln, man denke an die Ursachen des 1. Weltkrieges oder an den Aufstieg der Nazis in Deutschland; und die Jahre des "Kalten Krieges" kann man ohne weiteres als Zeitalter der Angst charakterisieren. Aber erst in den letzten Jahrzehnten, in dem eine große Anzahl konkreter und eine noch größere Zahl abstrakter Ängste kultiviert worden sind, durchdringt die "Kultur der Angst" fast alle Lebensbereiche.

Ob das Ausmaß der Angst tatsächlich zugenommen hat, kann ich nicht sagen. Ich nehme an, dass es sich selbst mit Methoden der Demoskopie nicht erfassen ließe, von einem historischen Vergleich etwa mit der Situation des Jahres 1958 oder 1908 gar nicht zu reden. Schon Begriffe "Angst", "Furcht" oder "Gefahr" unterliegen einem Bedeutungswandel, der historische Vergleiche erschwert. "Furcht" bedeutete z. B. ursprünglich "Respekt", was in Begriffen wie "Ehrfurcht" oder "Gottesfurcht" anklingt. Ein Begriff, der sich in der Umgangssprache in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt hat, ist das "Risiko" - Begriffe wie "lohnenswertes Risiko" tauchen heute so gut wie nicht mehr auf. "Risiko" wird zunehmend als Synonym für "Gefahr" oder "Bedrohung" gebraucht.
Man kann aber indirekt, aus dem Verhalten der Menschen, schließen, wovor und wie stark sie Angst empfinden. Wenn man sich vor Augen hält, wie stark etwa die Nachfrage nach Alarmanlagen oder komplizierter Schließsysteme, oder die Überwachung des öffentlichen Raums in den letzten 20 Jahren zugenommen hat, dann lässt das darauf schließen, dass offensichtlich auch die Angst vor Kriminalität zugenommen hat (bei real stagnierender oder sogar sinkender Kriminalitätsrate). Hingegen bleibt offen, ob etwa die Kriegsangst heute größer oder geringer als 1988, 1968 oder 1948 ist.

Neben den "großen", medial aufbereiteten Katastrophenängsten (Terrorismus, Klimawandel oder Energieverknappung - aber auch "Ängste der Saison" wie z. B. die vor einer Vogelgrippepandemie) äußert sich die Angstkultur auch in Form zahlreicher "kleiner" Alltagsängsten.
Es gibt begründete Alltagsängste, wie die Furcht vor Arbeitslosigkeit, Ängste mit einem realen Grund, der aber weit überschätzt wird, wie die schon erwähnte Angst vor der (angeblich) zunehmenden Kriminalität, und völlig irrationale Ängste, wie die Angst vor dem "Anderen", dem "Fremden", dem "Ungewohnten".
Die Angst vor dem "Fremden" äußert sich nicht nur in Rassismus, "Ausländerfeindlichkeit" oder Anti-Islamismus, sondern auch in der Angst vor unverstandener, und deshalb "unheimlicher", Technik. Ein Musterbeispiel ist "das Internet" - je weniger Ahnung jemand davon hat, desto größer sind in der Regel die Ängste, die sich mit diesem Medium verbinden. Wobei die größte Angst davon ausgeht, dass das Internet kein "top down" kontolliertes Medium ist - jeden kann "ungefragt seine Meinung im Internet absondern". Wie überhaupt Angst vor Kontrollverlust die politisch bedeutsamste Form von Angst sein dürfte. (Wie Angst Menschen zu "Kontrollfuzzis" macht, weiter unten.)
Dabei warne ich vor einem Missverständnis: wer z. B. über die Funktionsweise eines Kernreaktors und die Problematik nukleare Abfälle bescheid weiß, der hat zwar in der Regel auch weniger Angst vor der "Atomkraft", was aber nicht heißen muss, dass derjenige damit automatisch zum Kernenenergie-Befürworter werden würde - tatsächlich ist eher das Gegenteil der Fall.
Risikobewusstsein, und damit einhergehend das Bewusstsein für Gefahren, und Angst sind nicht dasselbe. Ein guter Autofahrer ist sich der Gefahren des Straßenverkehrs bewusst, und fährt entsprechend vorsichtig, hat aber keine Angst vor dem Straßenverkehr. Angst ist etwas Absolutes, erlaubt kein Abwägung von Risiken mehr - habe ich Angst vor Hunden, dann jagt mir auch der freundlichste Zwergpudel Schrecken ein.

Norbert Elias schrieb in "Über den Prozess der Zivilisation", dass Angst einer der wichtigsten Mechanismen sei, durch den "die Strukturen der Gesellschaft in psychologische Funktionen des Individuums übertragen werden", und folgerte, der zivilisierte Charakter werde zum Teil durch diesen Prozess der Internalisierung von Angst konstruiert. Internalisierung meint, dass es für die Angst keinen konkreten Anlass geben muss, und auch niemanden, der uns Angst macht - die Angst ist sozusagen in unsere Persönlichkeit "eingebaut". Etwa die Angst vor Prestigeverlust oder die Angst davor, schuldig zu werden.
Lange vor Elias betrachtete der englische Philosoph Thomas Hobbes die Angst als entscheidend für die Entwicklung des Individuums und einer zivilisierten Gesellschaft. Weil Hobbes glaubte, der "Naturzustand" sei ein brutaler Kampf jeder gegen jeden, und der Staat sei eine Einrichtung, die den Einzelnen zu seinem eigenen Besten diszipliniert, hielt Hobbes Angst für etwas Positives.

Gefahren lösen nicht direkt Angst aus, sondern unsere Reaktionen werden durch kulturelle Normen vermittelt, die uns sagen, was von uns erwartet wird, wenn wir in Gefahr sind, ob etwa eine Gefahr mit Angst besetzt ist, wie diese Angst erlebt wird und wie sie "angemessen" ausgedrückt wird.
Typisch für Angst ist, dass das Ausmaß der Angst nicht direkt dem Ausmaß des Risikos entspricht - klassisches Beispiel ist die Angst vor sexuell motivierten Verbrechen an Kindern: die meisten Menschen überschätzen das Ausmaß der Gefahr (etwa 20 Fällen pro 100.000 Einwohnern, Spanner und Exhibitionisten eingerechnet) und schätzen die Richtung, aus der sie kommt, falsch ein (die meisten dieser Verbrechen werden von Angehörigen oder engen Bekannten verübt).
Da Angst (auch) sozial konstruiert ist, kann sie auch von denen manipuliert werden, die sich davon Vorteile versprechen.
Im Fall der Sexualverbrechen an Kindern gilt, dass ohne Multiplikatoren, die einfach Behauptungen wie "jedes Jahr werden etwa 20.000 Kinder zu Opfern sexueller Gewalt" in den Raum stellen oder (wahrheitswidrig) behaupten, es gäbe "immer mehr" Sexualverbrechen an Kindern, die Angst sehr viel geringer wäre. Dabei handelt jemand, der Angst manipuliert, nicht unbedingt aus kalter Überlegung heraus - es dürfte der Normalfall sein, dass Manipulatoren die Ängste, die sie vermitteln, auch selbst empfinden. Innenminister Schäuble hat z. B. wirklich Angst vor Terroristen (und wahrscheinlich noch mehr Angst davor, man könne ihm nach einem Anschlag den Vorwurf machen, er hätte nicht alles Menschenmögliche getan, um diesen Anschlag zu verhindern).

Was die Dinge angeht, die uns ängstigen, fällt auf, dass die meisten dieser Ängste durch die Medien kultiviert wurden und nur wenige Resultat direkter Erfahrungen sind.
Trotzdem halte ich es für falsch, Angst in erster Linie der Macht der Medien, oder den Machenschaften sich der Medien bedienender Manipulatoren, zuzuschreiben. Angst hat auch sehr viel mit "Vereinzelung" und Machbarkeitsdenken zu tun: wenn ich glaube, ich sei "selbst meines Glückes Schmied" (und in jedem Fall), dann glaube ich auch, dass meine Probleme, Sorgen und Krisen von mir selbst erzeugt wurden - ich bin "selber schuld" wenn es mir schlecht ergeht. Infolge dessen werde ich jede meiner Handlung auf mögliche Gefahrenquellen untersuchen und stets sorgsam darauf achten, alles richtig zu machen - und wenn es doch schief geht, vermuten, ich hätte trotz Sorgfalt einen "Fehler begangen". Am Ende ist alles, was ich tue oder lasse, mit der Angst, etwas falsch zu machen, besetzt.

Egal, ob sich die Menschen heute mehr oder weniger ängstigen, als vor 50 Jahre: sie ängstigen sich anscheinend heute anders. Die (öffentlich geäußerten) Ängste des Jahres 1958, egal ob Angst vor dem "heißen" Krieg, vor Krankheit, vor Hunger und Mangel usw. konnten in der Regel einer konkreten Bedrohung zugeschrieben werden (selbst wenn diese Bedrohungen real nicht bestanden). Heutige Ängste richten sich weitaus mehr als damals auf abstrakte Gefahren, also etwa "die Kriminalität macht mir Angst" und nicht etwa die konkrete Gefahr, dass mir ein Taschendieb das Portemonnaie klauen könnte. Gegen Taschendiebe kann ich mich unter Umständen wirksam schützen, ich kann aus Erfahrung das Ausmaß der Gefahr abschätzen, ich weiß, in welchen Situationen diese Gefahr droht - bei "der Kriminalität" geht das nicht. "Das Böse ist immer und überall", abstrakte Ängste, denen keine konkreten Bedrohung mehr zugeordnet werden können, sind allgegenwärtig, unvorhersehbar und maßlos. Die Gefahr, dass zur abstrakten Angst eine "passende" (maßlose) konkrete Bedrohung gesucht und gefunden wird, und dass diese Bedrohung dann personalisiert wird, ist real - und eine ständig sprudelnde Quelle sowohl für Verschwörungstheorien wie auch z. B. für Rassismus. Diffuse Ängste gebären Hexenjagden - was übrigens wörtlich genommen werden kann.

Wenn Ängste zunehmen, dann liegt das auch daran, dass abstrakte Ängste konkrete Ängste verstärken. Seit dem 11. September 2001 hat sich die abstrakte Angst vor dem Terror weit verbreitet und Einzug in fast alle Lebensbereiche gehalten. In den Jahren seit dem "11. September" sind früher als "normal" betrachteten Gefahren, etwa die der Passfälschung, wenn sie mit dem Terrorismus verknüpft werden, zu enormen Bedrohungen aufgewertet worden, womit dann jede noch so drastische Maßnahme zu Abwehr dieser enormen Bedrohungen legitim erscheint. Die Frage nach der Effizienz der Mittel zur Terrorismusbekämpfung wird nicht mehr gestellt, es reicht aus, wenn das Mittel effektiv zu sein verspricht.
(Ein Vorschlaghammer ist ein effektives Mittel gegen eine in der Wohnung umherschwirrende Mücke, ist für diesen Zweck aber höchst ineffizient.)
Wer ständig in Angst lebt, zumal in "abstrakter" Angst, gegen die man wenig tun kann, wird verunsichert. Verunsicherung fördert ihrerseits eine Angst, nämlich die Angst vor dem Wandel. Diese aus Verunsicherung geborene Angst vor dem Wandel führt nicht etwa zu einer gewissen Skepsis gegenüber Neuerungen, also einem gesunden Pessimismus, sondern zur zwanghaften Neigung, stets von jeder Veränderung das Schlimmste zu befürchten.
Menschen, die von Berufs wegen ständig Entscheidungen treffen müssen, haben nicht die Möglichkeit, sich passiv zu verhalten. Da auch ihnen letzten Endes jedes menschliche Handeln als "Risiko" erscheint sind z. B. von Angst geprägte Politiker meiner Ansicht nach beinahe zwangsläufig "Kontrollfreaks", darauf bedacht, wie sie sagen, "Risiken zu managen". "Risikomanagement" heißt aus dem Munde dieser Politiker: "Alles, was ich nicht jederzeit im Auge und im Griff habe, ist gefährlich!"

Ich merke, dass ich in gewisser Weise auch von der Angst vor Kontollverlust geprägt bin. Beispielsweise empfand ich letzte Woche, nachdem ich etwas Alkohol getrunken hatte, plötzlich tiefe Angst. Ich war keineswegs betrunken oder auch nur angetrunken, ich merkte nur, dass meine die Zunge gelöst war, und ich redete ohne vorher nachgedacht zu haben. Ich fürchtete, da ich meine Worte nicht mehr "unter Kontrolle" hatte, meinen Freunden dadurch, dass ich "Blech redete", auf die Nerven zu gehen. Letzten Endes schwang sicherlich auch meine längst verinnerlichte Angst, folgenschwere Fehler zu begehen, mit - obwohl ich rational, vom Verstand her, längst begriffen habe, dass ich keineswegs immer "meines Schicksals Schmied" bin, und dass ich unter Freunden war, von denen ich nichts zu befürchten habe. Die mir deutlich sagen würden, wenn ich ihnen wirklich auf den Keks gehe - und die nicht etwa stillschweigend mein "Fehlverhalten" als Ansatzpunkt für Intrigen notieren würden.

Freitag, 25. Juli 2008

Erinnerungen für die Zukunft - vor 75 Jahren ...

... wurde das am 14. Juli 1933 beschlossene Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses im Reichsgesetzblatt verkündet.
Im Namen der "Volksgesundheit" wurden bis zu. 400.000 Menschen sterilisiert, fast alle gegen ihren Willen. Davon die wenigsten tatsächlich "erbkrank", also Träger einer genetisch bedingter schweren Krankheit. (Und selbst in solchen Fälle ist eine zwangsweise Sterilisation ein nicht hinnehmbarer Angriff auf das Selbstbestimmungsrecht und die Menschenwürde des "Erbkranken!) Als "Erbkrankheiten" galten auch Schizophrenie und manisch-depressive Erkrankungen. Auch schwerer Alkoholismus war eine "Indikation" für Sterilisation!
Die meisten Opfer der Zwangssterilisation waren denn auch "Asoziale" - tatsächlich hing es sehr vom sozialen Status und der Volksgruppenzugehörigkeit ab, ob jemand zwangsweise sterilisiert wurde oder nicht.

Ein typisches "Nazigesetz" also? Ein Relikt aus der Vergangenheit, vor dem man gefahrlos Abscheu äußern kann, um so nach 75 Jahren die Nazis von gestern zu "bekämpfen"?

Leider nein! Zuerst fällt bei diesem Gesetz auf, das es auf den ersten Blick wie eine freiwillige "Kann"-Regelung wirkt. Auf den zweiten Blick kann von "Freiwilligkeit" kaum noch die Regel sein, denn den "Antrag auf Unfruchtbarmachung" konnten auch die gesetzliche Vormünder entmündigter oder minderjähriger Menschen stellen, oder
§ 3
Die Unfruchtbarmachung können auch beantragen
der beamtete Arzt,
für die Insassen einer Kranken-, Heil- oder Pflegeanstalt oder einer Strafanstalt der Anstaltsleiter.
Die meisten Sterilisierungen wurden aufgrund dieses § 3 vorgenommen. Wäre es wirklich nur um freiwillige Sterilisierungen gegangen, wäre das Gesetz überflüssig gewesen. Solche auf den ersten Blick akzeptabel klingende Gesetze, deren wahrer Sinn im "Kleingedruckten" steckt, sind wirklich keine Nazi-Spezialität.

Ähnliche Gesetze gab es auch in Ländern, die keine Diktaturen und schon gar keine Rassistenregimes waren, z. B. in den skandinavischen Ländern: in Dänemark bestand die Zwangsterilisation bis 1967, in Schweden bis 1975, in Finnland sogar bis 1979.
In meinem Artikel Auch Eugenik war mal Konsens gehe ich näher auf die gesellschaftlichen Gründe für Zwangsterilisationsgesetze ein - nur soviel an dieser Stelle: Man kann verallgemeinert sagen, dass eugenische Gesellschaftsutopien und auf sie gerichtet Programme dort gedeihen, wo der einzelne Mensch in erster Linie als
"Menschenmaterial", als Mittel zu einem höheren Zweck gesehen wird, was nicht auf totalitäre Staaten beschränkt ist.
Eugenik-Programme entstanden und entstehen nicht etwa aus der Motivation heraus, "Übermenschen" zu züchten (noch nicht einmal bei den Nazi spielte das eine große Rolle), die Motivation liegt darin, die "Volksgesundheit" zu verbessern - auch indem man die Kranken schlachtet. Weshalb ich bei Gesundheitsdiskursen, bei denen nicht die Gesundheit des Einzelnen, sondern die der "Bevölkerung" im Mittelpunkt steht, misstrauisch bin.
"Eugenik" bedeutet nach international übereinstimmendem Verständnis das dirigistische Bestreben nach einer - wie auch immer definierten - "Verbesserung" des kollektiven Erbgutbestandes einer Population, etwa eines "Staatsvolkes". (Was z. B. bei der Debatte etwa um die Präimplantationsdiagostik gern "vergessen" wird.)

Immerhin haben die Humangenetiker, nachdem sie jahrzehntelang nicht "nur" "NS-Belastete", sondern sogar ausgesprochene Rassisten in ihren Reihen duldeten, ihre "Hausaufgaben" gemacht: Die "Deutsche Gesellschaft für Humangenetik" hat anlässlich des 75 Jahrestages des "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" endlich öffentlich die Verantwortung deutscher Wissenschaftler für den Massenmord an behinderten Menschen im Nationalsozialismus eingeräumt. Deutsche Genetiker trifft "schwere Schuld". (Wobei mir der Begriff "Verantwortung" deutlich besser gefällt als der der "Schuld".) Besonders wichtig erscheint mir folgende Aussage der Gesellschaft für Humangenetik:
"Das Verhalten der Humangenetiker ist umso unverständlicher, als auch beim damaligen Kenntnisstand der Genetik die biologische Unsinnigkeit der Eugenik offenkundig war."
Dass selbst bei behinderten Frauen zu 90 % kein Risiko einer Weitergabe der Behinderung besteht, war schon um 1930 bekannt. Es war auch bekannt, dass rezessive Krankheitsanlagen, die nicht zum Ausbruch einer Erkrankung führen müssen, viel zu weit verbreitet sind, als dass sie durch Sterilisierung "Erbkranker" ausgeschaltet werden könnten.

Die Eugenische Argumentation im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Inzestverbot, die übrigens sachlich falsch ist, ist nur ein markantes Beispiel für das Weiterwirken "eugenischen" Denkens.

Noch eine Randbemerkung zur Reaktion der katholische Kirche: es stimmt zwar, dass die deutschen Bischöfe Protest gegen die Maßnahmen der Nationalsozialisten einlegten. Doch die Sterilisationen stießen bei ihnen deshalb auf Widerstand, weil sich den Behinderten nun die Möglichkeit zum unbeschwerten Sex, ganz ohne die Sorge um unerwünschten Nachwuchs, eröffnete. In den Augen der katholischen Kirche war das eine schwere Sünde.
„Die Vertreter des Episkopats machten [...] darauf aufmerksam, daß mit der Durchführung des Gesetzes für die private und öffentliche Sittlichkeit große Gefahren sich ergeben; denn die sterilisierten Männer und Frauen können sich nun ihrem Geschlechtsleben hemmungslos überlassen, da ja aus dem Verkehr keine Nachkommen entstehen. Von Seiten der Regierung wurden hier Schutzmaßnahmen zugesagt."
(Zitiert nach hpd.de: Vor 75 Jahren...)
Zur damaligen Haltung der evangelischen Kirche, hpd-de: Ein evangelisches Wort...

Mittwoch, 9. Juli 2008

"Hamburger Ebb' und Fluth"

Das ist der genaue Titel der gemeinhin als "Wassermusik Georg Philipp Telemanns" bekannten Orchestersuite, nicht zu verwechseln mit der noch berühmteren Wassermusik Georg Friedrich Händels.

Es gibt die Legende vom weltoffenen, toleranten Hamburg. Das ist, für den Kenner der hamburgischen Verhältnisse, doch recht erstaunlich, denn an staatlicher Pression und Repression mangelt es hier nun wirklich nicht. (Aktuelles Beispiel aus der regionalen taz: Operation Rote Flora - Die Razzia im Hamburger Schanzenviertel setzte eine interne Anweisung um, die auch im polizeilichen Dienstunterricht behandelt wird. Das autonome Zentrum klagt auf Schadensersatz.) In beinahe jeder Hinsicht ist Hamburg eine typisch deutsche Großstadt.

Aber irgend etwas ist in Hamburg anders als in Berlin, Köln, Düsseldorf, Frankfurt/Main, Leipzig, München. Ich nenne es mal: Das maritime Flair.
"Was heißt hier maritim"? fragte mich vor einiger Zeit ein aus Mainfranken stammender Bekannter. "Hamburg liegt gut 70 - 80 Kilometer vom Meer entfernt." Bei Küstenstädten wie Bremerhaven, Kiel, vielleicht auch noch Lübeck oder Rostock, da sähe er es ein, aber Hamburg? Trotz Hafen sei doch vom Einfluss des Meeres wenig zu spüren!

Es ist aber zu spüren. Telemann brachte es auf den Punkt, als er 1723 aus Anlass der Feierlichkeiten zum 100-jährigen Bestehen der Hamburger Admiralität seine "Wassermusik" schrieb: "Hamburger Ebb und Fluth".
Zur Illustration zwei Fotos, die ich neulich am St. Annen-Fleet in der "Speicherstadt" aufnahm.

Reparaturarbeiten an der Kaimauer (bei Ebbe):
Kaimauer01

Das St. Annen-Fleet, bei Flut:
Kaimauer02

Der mittlere Tidenhub (Unterschied zwischen Hoch- und Niedrigwasser) in Hamburg ist 2,52 Meter.

Poetisch gesprochen, ist es der Pulsschlag des Meeres. Ich erinnere mich (ungern!) an einen öden Bürojob, es ist schon einige Jahre her. Wie es der Zufall - oder sonstwer, der unter dem Pseudonym "Zufall" auftritt - so wollte, lag das Bürohaus an einem der unzähligen Kanäle, die weite Teile Hamburg durchziehen. ("Das Haus liegt direkt an einer Brücke über einen Kanal oder Fluss" - das mag in anderen Städten eine sinnvolle Orientierungshilfe sein. In Hamburg nicht: Insgesamt rund 2400 Bauwerke führen in der Hansestadt über Wasser, über Elbarme, Flüsse, Fleete, Kanäle und Hafenbecken.) Über die Bille stand dieser Kanal mit der Norderelbe in Verbindung, und obwohl an der Mündung der Bille ein Sperrwerk installiert ist, hob- und senkte sich der Wasserspiegel des Kanals im Takt der Gezeiten. Nicht so stark wie direkt wie an der Elbe, aber unübersehbar.
Ich ertappte mich oft bei dem Gedanken: Mit einem tüchtigen Segelboot könnste Du direkt von dieser elenden geistige Legebatterie ablegen und in See stechen. Einfach ablegen - und erst in Südengland, in der Bretagne, in Irland - oder auch erst in Amerika - wieder an Land gehen. "Ich träume oft davon, mir ein Segelboot zu klau'n / und einfach abzuhauen" (alter Song von Udo Lindenberg, aus der Zeit, als er noch Haar hatte).

Sicher, es kommen noch andere, historische, politische, ökonomische Umstände hinzu, die entscheiden, ob eine Hafenstadt auch "weltoffen" oder gar "kosmopolitisch" ist. Hamburg ist es ja auch nur begrenzt weltoffen und gewiss keine Weltstadt - aber wie begrenzt ist mitunter auch die Weltoffenheit z. B. der anerkannten Weltstadt London? Die Historie erinnert z. B. daran, dass Hamburg eine alte Stadtrepublik ist - und mehr noch daran, dass "allzu nah" vor den Toren Hamburg Altona lag - vor der Französischen Revolution 1789 der freiheitlichste Flecken Europas - und vermutlich auch noch einige Jahre darüber hinaus ...

Was unterscheidet Hamburg vom "Rest" Deutschlands? Vermutlich, dass Hamburg (manchmal) angenehm "undeutsch" ist ... (interessanterweise trifft das auch auf Teile Berlins zu).

Womit ich bei einer anderen Frage wäre: was unterscheidet Deutsche und Österreicher? Angeblich ja, dass ein Österreicher jemand sei, der Beethoven für einen Österreicher und Hitler für einen Deutschen hält. Aber dieser kleine Irrtum ist wahrlich kein Privileg der Österreicher. Wobei ich übrigens strikt zwischen Österreichern und Wienern unterscheide. Das sind zwei sehr verschiedene Spezies Mensch.

Besser lässt sich der Mentalitätsunterschied zwischen Deutschen und Österreichern so beschreiben: die Deutschen sehen mit Pessimismus in die Zukunft, die Österreicher aber voller Optimismus in die Vergangenheit.

Womit ich diese Folge locker aus meinem Hirn quellender Gedankensplitter abschließe.

Montag, 30. Juni 2008

Gedankenexperimente ( 1 )

Man kann sich heute nur noch schwer vorstellen, wie die Evolutionstheorie auf die Zeitgenossen von Alfred Russel Wallace und Charles Darwin gewirkt haben mag. Am ehesten geht es noch, wenn man an christliche Fundamentalisten denkt, die mit allen Mitteln versuchen, ihre Kinder davon zu bewahren, in der Schule Darwins "gottloser" Lehre ausgesetzt zu werden.

Christopher Schrader fragt sich in seinem SZ-Artikel Weltbild in Trümmern, welche Theorien (ohne Rücksicht auf reale Erkenntnisse der Wissenschaft) heute einen ähnlichen Umsturz auslösen würden, wie Darwin und Wallace von 150 Jahren.
Dabei griff er auf Ideen zurück, die bereits ohne viel Widerhall diskutiert oder in der Science-Fiction behandelt werden.
Astrophysik: Die Menschheit entdeckt im Weltraum ein intelligentes Volk, das unsere Probleme wie Klimawandel, Überbevölkerung und menschlichen Egoismus seit langem gelöst hat. Aber es weigert sich, auf unsere Signale zu antworten, ignoriert uns wie eine lästige Fliege.

Medizin: Krankheiten entstehen nur, wenn das Gehirn es zulässt. Viren, Bakterien, gebrochene Beine und Blutfette in den Adern sind keine Auslöser von Leiden, sondern Symptome.

Hirnforschung: Freier Wille und Bewusstsein sind Illusionen. Tatsächlich reagiert der Körper autonom auf physiologische Reize. Und wenn wir glauben, wir erlebten etwas gemeinsam mit jemand anderem, was uns unser Bewusstsein zu bestätigen scheint, bilden wir uns auch die Reaktion des Anderen nur ein.

Biologie: Dass Menschen bei Tieren und sich selbst zwei Geschlechter erkennen, beruht auf einer durch Hormone verursachten Wahrnehmungsstörung. Homo- und Transsexuelle sehen etwas klarer. Manche Naturvölker kennen Drogen, mit denen der Konsument das wahre Einheitsgeschlecht erkennt oder sogar dauerhaft die Illusion wechseln kann, die ihn umgibt.
Ich bin, angesichts dieser Hypothesen, eher enttäuscht. Sie werden als Hypothesen z. T. schon seit Jahrzehnten diskutiert, und zwar nicht nur in der Science Fiction. Wenn sie sich erhärten und zu tragfähigen Theorien ausbauen ließen, würden sie wohl tatsächlich heftige Kontroversen hervorrufen - ob sie in der Größenordnung der Evolutionstheorie lägen, oder doch "nur" das Ausmaß der Kontroverse um Einsteins Relativitätstheorie hätten, hängt meines Erachtens sehr von den sozialen und medialen Rahmenbedingungen ab.

Mein Weltbild würden sie übrigens - bis auf eine! - nicht erschüttern.

Der Reihen nach: Dass uns hochentwickelte außerirdische Intelligenzen einfach ignorieren würden, halte ich für das weitaus plausibelste Szenario im Falle eines Kontaktes mit Extraterrestriern. Ich kann keine Gedanken lesen, und erst recht nicht die von Ausserirdischen - aber Szenarien wie einer "ersten Direktive", die die Beeinflussung primitiver Kulturen (wie uns) verbieten, die Möglichkeit, dass wir für "sie" nur eine Art Ameisen sind, oder die, dass "sie" von uns so verschieden sind, dass ein tiefer gehender Kontakt einfach unmöglich ist, erscheinen mir sehr viel plausibler als "brüderliche Hilfe vom anderen Stern" oder gar eine kolonialistische "Invasion aus dem Weltall" (die dann auch interstellare Raumfahrt voraussetzen würde - alles andere ginge auch ohne direkte Begegnung per Funk, Laser, gepulsten Gravitationswellen, Quantenkommunikator usw.).

Dass Krankheiten nur dann entstünden, wenn das Gehirn es zulässt und Viren, Bakterien, gebrochene Beine und Blutfette in den Adern keine Auslöser von Leiden, sondern Symptome seien, halte ich in dieser übergeneralisierten Form für extrem unwahrscheinlich - vor allem im Fall der gebrochenen Beine. Ich nehme aber in der Tat an, dass "psychische" Faktoren bei der Heilung eines gebrochenen Beines eine wichtige Rolle spielen. Ich nehme zwar nicht an, dass Viren und Bakterien "nur" Symptome, nicht Ursache, von Krankheiten sind, allerdings hängt es nicht allein von der Anwesenheit bestimmter Krankheitserreger ab, ob jemand erkrankt oder nicht. Sonderlich erschüttert wäre ich von dieser Theorie jedenfalls nicht.

Freier Wille und Bewusstsein sind Illusionen. In gewisser Hinsicht halte ich das, aufgrund des derzeitigen Forschungsstandes der Neurobiologie, für recht wahrscheinlich. Was aber nicht bedeutet, dass unser Verhalten neurobiologisch determiniert ist.
Selbst wenn der "freie Wille" ein reines Artefakt des Gehirns ist, und die Vorstellung "nun treffe ich eine bewusste Entscheidung" reine Illusion, wären wir keine "fest programmierte” Wesen mit rein reflexartigen Handlungen. Wenn ich bei meinem Gegenüber das selbe Gefühl beobachte, wie ich es mir vorstellte und ich es erwartet habe, dann ist das eine durch Erfahrungen gedeckte Vorhersage - unabhängig davon, ob es mir bewusst ist oder nicht. (Gerade Gefühle anderer Menschen erkennen wir oft eher auf der nicht-bewussten als auf der bewussten Ebene. Wir erkennen z. B., dass ein Lächeln nur gespielt ist, können aber in der Regel nicht sagen, warum. Das Bewusstsein ist nur ein Teil unseres Selbst.) Eine gut untermauerte Theorie, dass wir lediglich nach "Programm" funktionierende Bio-Roboter wären, würde allerdings in der Tat mein Weltbild erschüttern.

Zur Theorie, dass Menschen bei Tieren und sich selbst zwei Geschlechter erkennen, nur einer durch Hormone verursachten Wahrnehmungsstörung beruht, würde ich sagen: das stimmt. Es liegt allerdings wohl nicht in erster Linie an den Hormonen.
Leider gibt es im Deutschen keine Unterscheidung zwischen "sex" (biologisches Geschlecht) und "gender" (soziales Geschlecht).
Sogar beim biologischen Geschlecht ist die Sache nicht so klar, wie es in unser Kultur gewöhnlich geglaubt wird, es gibt z. B. das genetische Geschlecht, dass nicht identisch sein muss mit dem gonadales Geschlecht (der hormonelle Ausstattung), die beide vom genitalen Geschlecht, der Ausstattung mit primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen, abweichen kann.
"Gender", das soziale Geschlecht, ist im hohem Maße sozial konstruiert - und auf nichts anderes läuft die vorgestellte Theorie hinaus. Klassifikationen wie "heterosexuell", "homosexuell", "bisexuell" oder "transsexuell" sind rein kulturell bedingte Kategorien, kulturelle "Schubladen"; schon innerhalb der "westlichen" / "abendländischen" Kultur gibt es in dieser Hinsicht gewaltige Unterschiede - und z. B. ein "alter Grieche" würde diese Kategorien entweder nicht verstehen oder für totalen Blödsinn halten.
Ich wäre im Gegenteil sehr verstört, wenn nachgewiesen würde, dass es nur genau zwei "Gender" gäbe, und wenig erstaunt, wenn es auch ein biologisches "drittes Geschlecht" gäbe (womit ich keine Zwitter meine).

Dienstag, 3. Juni 2008

5:47 Uhr ab München Hauptbahnhof - Gedanken zur ICE-Katastrophe vor 10 Jahren

Am 3. Juni 1998, 5:47 Uhr verließ der ICE 844 "Wilhelm Conrad Röntgen" den Münchner Hauptbahnhof. Sein Ziel: Hamburg-Altona. Er sollte dort nie eintreffen, denn um 10:59 Uhr prallt der entgleiste 3. Wagen gegen einen Brückenpfeiler, bei Eschede in der südlichen Lüneburger Heide. 111 Menschen starben, 88 wurden schwer verletzt beim bisher schwersten Eisenbahnunfall Deutschlands. Chronologie: Ein Radreifen führt zur Katastrophe (NDR).

Ich erfuhr vom Unglück aus dem Radio, bei der Arbeit. Es muss um 11 Uhr 30 gewesen sein, als NDR 2 sein Programm unterbrach. Zunächst war es für mich "irgend eine" Katastrophenmeldung, auf die ich reagierte, in dem ich das Radio ausstellte - lenkt nur von der Arbeit ab. (Im Nachhinein muss ich sagen: ich lenkte mich mit Arbeit ab.) Zuhause, am Nachmittag, schaltete ich den Fernseher ein, und in dem Moment hörte der Unfall von Eschede auf, "irgend eine" Katastrophe zu sein.
Ich fuhr damals relativ oft von Hamburg nach Hannover und zurück - zwar nur selten im ICE, aber die "Stelle" war mir vertraut - denn auf Höhe des Bahnhofs Eschede begegnen sich fahrplanmäßig die ICEs, und ich habe oft genug im Nahverkehrszug auf dem Nebengleis auf verspätete ICEs gewartet. Es hätte also leicht noch viel schlimmer kommen können - aber der Gegenzug war zwei Minuten vor dem Fahrplan, der ICE 844 hatte eine Minute Verspätung - deshalb begegneten sich die Züge nicht in Eschede, und es stand auch kein wartender Zug auf dem Nebengleis.
Wie am Morgen versuchte ich mich durch "Arbeit" abzulenken und zugleich die "Angelegenheit" auf eine "sachliche Ebene" zu bringen: Es wirkt vielleicht bizarr, aber ich holte meinen Taschenrechner und meine Physik-Formelsammlung und berechnete. Ich berechnete, wie viel kinetische Energie der Zug bei 200 km/h hatte (den Zahlenwert habe ich mir nicht gemerkt, war aber überrascht, wie groß er war), die beim ungebremsten Aufprall auf den Brückenpfeiler in "Verformungsarbeit" umgewandelt wurde. Ich berechnete auch die Verzögerungskräfte, der die Insassen im dritten Wagon ausgesetzt waren. In diesem Moment versagte meine "Ablenkungstaktik" - weil mir klar wurde, dass der Aufprall einem Sturz aus 160 Meter Höhe entsprach. Ich war Jahre zuvor Augenzeuge eines Suizides gewesen, ein junger Mann sprang vom Hochhaus - aus etwa 40 Meter Höhe, auf Beton. Selbst von der gegenüberliegenden Straßenseite aus, wo ich stand, bot der Leichnam einen einen Brechreiz erregenden Anblick. Ich musste auch an einen Motorradfahrer denken, der beim Überholen einer Kolonne ungebremst in eine sich plötzlich öffnende Fahrertür raste - ich fuhr auf der Gegenfahrbahn. Obwohl ich mitbekam, wie der Motorradfahrer starb (denn der Körper wurde so stark deformiert, dass er den Aufprall unmöglich hätte überleben können), meldete ich mich aus Feigheit nicht als Zeuge. Der Eckel vom Selbstmord und die Selbstvorwürfe, die ich mir wegen meiner "Zeugenflucht" machte, kamen wieder hoch. Denn die arme Menschen im 3. Wagon hatte es viel schlimmer erwischt als den Selbstmörder oder den Motorradfahrer: sie wurden bei lebendigem Leib in Fetzen gerissen!
Bis zum Wochenende konnten erst 19 von 98 bis dahin geborgene Todesopfer identifiziert werden, obwohl vier Teams fast rund um die Uhr an der Zuordnung der Leichenteile arbeiteten. Viele Todesopfer waren grauenvoll verstümmelt, viele Körperteile wurden einzeln geborgen. Hans Dieter Tröger, Leiter des Rechtsmedizinischen Instituts der Medizinischen Hochschule Hannover und Pathologe sagte, nur in 15 Prozent der Fälle hätten er und sein Team „halbwegs vorzeigbare Fotos“ machen können.
Aus der Wikipedia: ICE-Unglück von Eschede. Wer einmal mitbekommen hat, was alles ein Gerichtsmediziner für ein "vorzeigbares Foto" hält, weiß, was diese nüchterne Worte wirklich bedeuten!
Vor diesem Hintergrund wird auch das sehr streng gehandhabte Fotografierverbot am Unfallort und die zeitweilige Nachrichtensperre bzw. das Interviewverbot verständlich. Aber wie so oft wurde deshalb die "Medienwirklichkeit" dem tatsächlichen Schrecken des Ereignisses nicht annähernd gerecht.

Es versagte aber nicht nur meine persönliche Methode der Krisenbewältigung - so wie die jeweils bevorzugte Methode bei vielen Menschen versagt haben wird. Viel schlimmer ist, dass die juristische Krisenbewältigung jämmerlich versagte.

Im August 2002 erhob die Staatsanwaltschaft wegen fahrlässiger Tötung Anklage gegen zwei Mitarbeiter der Deutschen Bahn und einen Ingenieur des Herstellers. Im Falle eines Schuldspruchs hätte die Männer mit einer Gefängnisstrafe von bis zu fünf Jahren rechnen müssen. Streng genommen waren das "kleine Fische", "Bauernopfer" oder die sprichwörtlichen "Letzten, die die Hunde beißen", weshalb ich nicht überrascht war, dass das Verfahren nach 53 Verhandlungstagen im April 2003 gegen Zahlung einer Geldbuße von jeweils 10.000 € eingestellt wurde. Ein unbefriedigendes Ergebnis - denn weil sich sich der Prozess, wie in unserer Kultur üblich, auf die Schuld konzentrierte, fiel der Aspekt der Verantwortung weitgehend unter den Tisch. Als Angehöriger eines Opfers wäre mir die verhängte Geldbuße zu "billig" gewesen, zumal sich die Anklagten im Prozess nicht gerade kooperativ gezeigt hatten.

Aber das ist nur ein Randaspekt des juristischen Trauerspiels. Weil in Deutschland nur natürliche Personen strafrechtlich belangt werden können, und keine Unternehmen wie die DB, bleiben die eigentlichen Verantwortlichen für die Katastrophe strafrechtlich unbelangt. Jene, denen ein gutes Image des "Produktes ICE" wichtiger war als die Sicherheit der Fahrgäste. Jene, die am falschen Ende, nämlich an der Sicherheit, sparten. Jene, die außer der Verantwortung, die sie trugen und nicht tragen wollten, auch Mitschuld am Tod von 111 Menschen traf, denn es gibt eindeutige Hinweise, dass das Management der Bahn Druck auf die Hersteller und die eigenen Ingenieure ausgeübt hatte, als die neuen Radreifen, deren Mängel zu Katastrophe führten, entwickelt wurden. Wie die Hinterbliebenen hätte ich mir den Bahnvorstand auf der Anklagebank gewünscht.

Auch die Schadenersatzregelung halte ich für unbefriedigend. Das Schmerzensgeld je Familie lag pro Getötetem bei 30.000 D-Mark. Das ist angesichts der Ausmaßes an Fahrlässigkeit und Vertuschung, ja der mutmaßlichen bewussten Inkaufnahme eines tödliches Risikos durch die Bahn eher lächerlich.

Anders als bei anderen Unfällen erwies sich der Staat und die Justiz im Umgang mit den Opfern eines schweren Unfalls als unfähig - oder unwillig - zu einer angemessenen Regelung. Ich bin, wie der Anwalt der Hinterbliebenen, der Ansicht, dass den Opfern des Eschede-Unglücks ein zweites Unrecht zugefügt worden ist. Das Bundesverfassungsgericht wies die Beschwerde der Hinterbliebenen mit der Begründung ab, keinerlei Verstöße gegen Grundrechte erkannt zu haben.
Der Eindruck, dass die Hinterbliebenen sich der Deutschen Bahn AG gegenüber hilflos sahen, weil genügend politische "Hausmacht" und die (finanziellen) Interessen eines staatseigenen Unternehmens im Spiel waren, bleibt. (Mehr zum Prozess: Hintergrund: Ein Prozess ohne Urteil (NDR))

Samstag, 17. Mai 2008

Was ist Ehre? Ist das Ehre?

Die Ehre ist, objektiv, die Meinung anderer von unserem Wert und subjektiv, unsere Furcht vor dieser Meinung.
Arthur Schopenhauer

Es gibt Bluttaten, bei denen ich mich innerlich weigere, zur "Tagesordnung" überzugehen. (Bei anderen Verbrechen widert es mich eher an, dass sie bis zum letzten Detail ausgewalzt und bis ins Intimste ausdiskutiert werden.)

Das Opfer, das ich hier wie die Presse Morsal O. nenne, obwohl ich ihren Familiennamen kenne, war eine 16-jährige Hamburger Schülerin, eine Deutsche afghanischer Herkunft. Sie war in Hamburg beinahe so etwas wie eine "kleine Berühmtheit", jedenfalls bei Menschen, die sich für das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Kulturen interessieren. Vor eineinhalb Jahren erhielt Morsal O. einen Preis der Alfred-Toepfer-Stiftung für ein Projekt, das respektvolles und freundliches Miteinander an ihrer Schule fördern sollte.

Der Tatort war ein Parkplatz am Lübeckertordamm im Stadtteil St. Georg, gleich beim Campus der Hochschule für angewandte Wissenschaften und ganz in der Nähe vom Allgemeinen Krankenhaus St. Georg, an einer viel befahrenen Straße und bei einer U-Bahn Station. Ich erwähne das auch, damit nicht wieder die Klischees vom "Ghetto" und vom "verschwiegenen Hinterhof" zuschlagen. Aber in erster Linie deshalb, weil der Täter offensichtlich zu seiner Tat stand - alle sollten es sehen.

Die Täter war ihr eigener Bruder. Ahmad O. (23) rief am Donnerstagabend seine Schwester an und bestellte sie zum Parkplatz. Der 23-Jährige kam in Begleitung eines Freundes. Als Morsal O. auf dem Parkplatz erschien, zog er sofort sein Messer.
Die Ärzte zählten später mindestens 20 Wunden.

Anwohner und Passanten hörten die verzweifelten Schreie des Mädchens und riefen die Polizei. Als der Notarzt den Tatort erreichte (es kann sich nur um wenige Minuten gehandelt haben, sowohl ein großes Krankenhaus wie die Hauptfeuerwache befinden nur wenige hundert Meter entfernt) waren Ahmad O. und sein Freund bereits geflüchtet. Gut eine Stunde versuchten die Helfer, die 16-Jährige zu reanimieren - vergeblich. Kurz nach dem Mord stellte sich der Begleiter des Täters auf einer Polizeiwache. Er war offenbar nicht in das Vorhaben seines Freundes eingeweiht. Schockiert erzählte er den Beamten, wer der Täter war. Als Ahmad O. festgenommen wurde, leistete er keinen Widerstand und gestand die Tat. Aus dem Motiv machte er keinen Hehl, er gestand seine Schwester getötet zu haben, weil sie sich "von der Familie abgewandt" habe.
Hamburger Abendblatt: Sie wollte Freiheit - und musste dafür sterben

Das Motiv: "Ehrenmord". Was bei "Islamophoben" und selbsternannten Hütern des christlichen Abendlandes erwartungsgemäß die entsprechenden "Beissreflexe" auslöst. Andere verweisen auf die "archaischen Stammesgesetze" des wilden Afghanistans.
Sie vergessen: Verbrechen im Namen der "Ehre" geschehen in nahezu allen Teilen der Welt und in allen soziokulturellen Milieus. Sie sind laut der Menschenrechtsorganisation "Amnesty International" kein religiöses Phänomen, obwohl sie häufig in islamischen Ländern begangen werden. Auch in vielen anderen Ländern kommen solche Verbrechen vor, etwa in Brasilien, Ecuador oder sogar in Italien. Auf den Koran können sich "Ehrenmörder" nicht berufen, ebenso wenig wie auf die Bibel.
Entgegen einem anderen Klischee hat Ahmad O. wahrscheinlich nicht mit Wissen der Familie gehandelt, sozusagen als "Vollstrecker des Familienwillens".

Der Bluttat ging ein langer Streit mit der Familie voraus. Morsal O. hatte sie auf eigenen Wunsch verlassen. Sie fühlte sich als Deutsche - die sie seit fünf Jahren je auch war.
Sie kam auf die strengen, patriarchalischen Sitten ihrer Familie nicht mehr klar - und ihr großer Bruder kam, so sieht es aus, auf die Emanzipation seiner Schwester von dieser Familientradition nicht klar.
Das Mädchen suchte Hilfe bei mehreren Sozialeinrichtungen. Doch die völlige Abkehr von der Familie, die vor 13 Jahren aus Afghanistan nach Deutschland kam, gelang ihr nicht. Zuletzt lebte sie im offenen Jugendhaus Feuerbergstraße.

Offenbar sah ihr Bruder Ahmad O. deshalb die Ehre der Familie verletzt. Noch vor Kurzem hatte das Mädchen ihn angezeigt, weil er es zusammengeschlagen hatte. Bei der Verhandlung verweigerte sie allerdings die Aussage. Der gewalttätige Bruder konnte deshalb nicht zu einer Haftstrafe verurteilt werden.
Es war nicht das erste Mal, dass gegen ihn ermittelt wurde. Ahmad O. ist als "Intensivtäter" polizeibekannt, mehrmals ermittelte die Kripo wegen Körperverletzung gegen ihn, auch Urteile gab es.

Was ist Ehre? Einfach gesagt: die Konsequenz aus dem Zusammengehörigkeitsgefühl. ("Alle für einen, einer für alle!")
Wird seine Gemeinschaft (Familie, Fanclub, militärische Einheit, Heimatdorf, Religionsgemeinschaft usw. usw.) missachtet, wird der Einzelne getroffen, durch Missachtung des Einzelnen wird seine Gemeinschaft getroffen. (Wenn ich hier die männliche Sprachform benutze, dann heißt das für mich nicht, dass "Ehre" ein in erster Linie "männliches Prinzip" oder gar ein "patriarchalisches Konstrukt" sei.)
Die "persönliche Ehre" beruht, da stimme ich Schopenhauer zu, auf dem Ansehen des Einzelnen in den Gemeinschaften, denen er angehört, und der Gesellschaft, in der er sich bewegt. Sie überschneidet sich mit dem "guten Ruf".

Der "Verlust der Ehre", der "Gesichtsverlust", ist der Verlust von Ansehen innerhalb der Gemeinschaft oder der Gesellschaft.

Es heißt manchmal, dass "verletzte Ehre" in Kulturkreisen, in denen das Ansehen eines familiären, ethnischen oder religiösen Kollektivs über den Wert des Einzelnen gestellt würde, unter offener Missachtung rechtsstaatlicher Prinzipien auf gewaltsame Weise "wiederhergestellt" würde - als Rache, Selbstjustiz oder Ehrenmord. Der Begriff etwa der "Familenehre" stünde dem staatlichen Gewaltmonopol entgegen. Daraus könnte man schließen, dass ein ausgeprägter "Ehrenbegriff" unweigerlich zu zahlreichen, rasch eskalierenden Konflikten führt.

Schon ein Blick in unsere eigene ("abendländische") Kultur zeigt, dass das nicht der Fall ist. Ein intakter "Ehrbegriff" - in Verbindung mit einem Gefühl für persönliche "Würde" - kann sogar Konflikte verhindern. Kommt noch ein intaktes Selbstbewusstsein hinzu, verhindert das Bewusstsein für Ehre und Würde das Gefühl "dauernden Beleidigtseins", das so anfällig für Provokationen macht. Angriffe aus Zorn, Neid oder Unwissenheit werden ignoriert, "tuen wir so, als hätte wir es nicht bemerkt" - oder: "was kümmert es die Eiche, wenn eine Sau sich an ihr kratzt" und bestimmte Menschen ("niederer Gesellschaftsschicht" oder Fremde) gelten den Ehrenregeln ohnehin nicht unterworfen, als "nicht satisfaktionsfähig", wie es früher im Adel hieß. Ist aber das Selbstbewusstsein schwach und der "Ehrbegriff" unklar, dann ist die "Ehre" oft nur noch Vorwand, jede Verletzung, Beleidigung oder Missachtung maximal zu "vergelten".

Die Ehre kann auch dazu beitragen, Konflikte zwischen Personen, Gemeinschaften oder Institutionen ohne Gewaltanwendung auszutragen. Gerade in den Stammeskulturen, auf die viele "Abendländer" so hochnäsig herabblicken, wird bei Streitfällen sorgfältig darauf geachtet, offenen Streit möglichst zu vermeiden oder zu verschleiern, da ein offener Streit einen Ehrverlust des Gegners zur Folge haben könnte.
In Stammeskulturen ist man sich des Eskalationspotenzials von "Ehrenhändel" durchaus bewusst. Ein buchstäblich lebensgefährliche Potenzial birgt die Blutrache, weshalb zu den frühesten und heiligsten Gesetze (geschrieben und ungeschrieben) Vorschriften gehören, die verhindern, dass gegenseitige Rache eskaliert. Das oft missverstandene biblische "Auge um Auge, Zahn um Zahn" ist eine Vorschrift gegen die Eskalation - Entschädigung oder Rache müssen dem Anlass angemessen sein, dass heißt, es darf ein ausgeschlagener Zahn nur mit dem Gegenwert eines Zahnes vergolten werden, nicht etwa mit dem Leben.
Noch älter und in vielen Stammeskulturen noch heute zu finden ist das "Wergeld" (von althochdeutsch "wer" = "Mann"). Es ist eine Entschädigung, die an jene ausgezahlt wird, die sonst die Blutrache an einem Totschläger hätten ausüben müssen, in der Regel an nächsten Verwandten. Diese Regelung auf Schadenersatz kann auch auf andere Vergehen angewandt werden. Besonders das germanische Volksrecht unterschied dabei sorgfältig zwischen "Totschlägern" (ohne Heimtücke - also auch Tötung im Kampf oder im Duell) und "heimtückischen Mördern", die als "feig", also ehrlos, galten.

Weil man sich in Stammeskulturen darüber im Klaren ist, wie leicht Streit in Ehrensachen eskalieren kann, wird darauf geachtet, dass der Konflikt so ausgetragen wird, dass beide Seiten "das Gesicht wahren" können. Eine dieser Möglichkeiten ist das Duell, dass man nicht in jedem Fall als "Überbleibsel aus Zeiten vor dem staatlichen Gewaltmonopol" abtun sollte. Die Sitte, dass bei einem Streit um die Ehre in der Öffentlichkeit die Kontrahenten "vor die Tür" gehen, und die Sache "unter sich" austragen, verdeutlicht das: der Konflikt bleibt auf die Kontrahenten begrenzt, ihre jeweilige Gemeinschaft und deren Ehre ist nicht betroffen, und die Kontrahenten unterwerfen sich Regeln, die eine Eskalation, etwa zum bewaffneten Kampf oder zur Massenschlägerei, ausschließen.

Zurück zum Fall des "Ehrenmordes". Meiner Ansicht nach ging es bei dieser Bluttat weniger um die "Familienehre", als um verletzten Stolz und das Gefühl des "großen Bruders", ihm würden "traditionelle Vorrechte" verweigert werden. Außerdem scheint er zu jenen Menschen zu gehören, die Konflikte gerne mit offener Gewalt austragen - aus Gründen, die wahrscheinlich nicht in der traditionellen afghanischen Familie begründet liegen. Wie ich weiter oben schrieb, ist bei schwachem Selbstbewusstsein und unklarem Ehrbegriff die "Ehre" oft nur noch Vorwand, jede Verletzung, Beleidigung oder Missachtung zu "rächen".
(Wobei ich hier nicht aus "Multikulti"-Romantik der aus Afghanistan stammende Familie einen "Opferstatus" oder gar aus ihre Situation bedingte "Sonderrechte" zubilligen will. Sie muss akzeptieren, dass Selbstjustiz hierzulande nicht als ehrenwert gilt, und dass es zur persönlichen Ehre einer Frau gehört, sich für ihre Rechte einzusetzen.)
Wer die Familienehre dagegen hoch hielt, dass ist das Opfer, Morsal O. . Sie blieb ihrer Familie gegenüber loyal, als sie die Möglichkeit hatte, durch ihre Aussage ihren Bruder hinter Gitter zu bringen. Sie versuchte offensichtlich, einen klaren Schnitt zwischen sich und ihrer Familien und ihren streng patriarchalische "Gesetzen" zu machen - und damit, beabsichtigt oder nicht, ihrer Familie die "Schande" einer rebellischen Tochter zu ersparen.

Update, 19. 05:
Einen Einblick in den Hintergrund des "Ehrenmordes" gibt dieser Artikel, der heute im "Hamburger Abendblatt" erschien: Er nahm sich alle Freiheiten - Sie musste für ihre sterben.
Es sieht so als, als ob die Haltung der Familie entgegen meiner Annahme für die Bluttat entscheidend war - zwar nicht im Sinne einer Mittäterschaft, aber doch in dem Sinne, dass Ahmad O. das Gefühl haben konnte, völlig im Sinne der Familie zu handeln.
Nebenbei sieht es so aus, als ob religöse Motive oder ein "stammesgesellschaftlicher" Begriff von Familienehre keine Rolle spielten, extrem patriarchalisches Denken, sprich massiver Männlichkeitswahn, eine große:
Die Nachbarn von Ahmad O. an der Hammerbrookstraße haben von dessen Leben mehr mitbekommen. Denn er genoss in vollen Zügen die Freiheiten, die er seiner Schwester verbieten wollte. Er trieb sich in Bordellen herum, feierte wild, trank exzessiv. "Seine Fahne konnte ich riechen", sagt eine Nachbarin. Sie wollte sich bei Ahmad O. wegen des ständigen Lärms beschweren. Seine Reaktion: "Halt die Klappe. Mit Frauen rede ich nicht."
Nicht gerade der Lebenswandel eines frommen Moslems ... und auch nicht gerade typisch für einen "Mann von Ehre".

Montag, 12. Mai 2008

Warum gab es in der Weimarer Zeit so viele jüdische Intellektuelle?

Vor Kurzem las ich einen interessanten Artikel auf "hagalil":
Das Jahr 1933: Vertreibung und Emigration in der Physik.
Dabei wurde mir wieder einmal bewusst, wie viele der hervorragenden Physiker in Deutschland um 1933 Juden oder jüdischer Abstammung waren. Albert Einstein, James Franck, Hans Bethe, Otto Stern, Lise Meitner, Max Born, Peter Paul Ewald, um nur ein paar "große" Namen zu nennen.

Die Physik ist, denke ich, ein hervorragendes Beispiel dafür, dass "jüdische Intellektuelle" außerhalb der traditionell als "typisch jüdisch" wahrgenommenen Gebiete brillierten. Bei berühmten Ärzten z. B. könnte ich die jüdischen Arztfamilien, also eine Tradition, heranziehen. Bei berühmten Journalisten und Schriftstellern liegt hingegen das "Außenseiterphänomen" nahe - der Blick eines ewig Ausgegrenzten und Diskriminierten auf Gesellschaft und Politik wird wahrscheinlich schärfer und treffsicherer sein, als der eines Menschen, der Vorurteile und unsichtbare Barrieren nicht aus eigener Erfahrung kennt.

Eine neuerdings wieder populär gewordene Hypothese geht davon aus, dass die Beschäftigung mit der hebräischen Sprache das abstrakte Denkvermögen fördert. Hinzu käme noch die intensive Auseinandersetzung mit einer "Gesetzesreligion" mit "hochabstraktem Gottesbegriff". Mag sein - aber von den oben genannten Physikern, wie auch von zahlreichen von den Nazis als "jüdisch" verfolgten Wissenschaftlern anderer Gebiete kam meines Wissen kaum einer aus einer "frommen" jüdischen Familie. Die "Glaubensjuden" unter ihnen waren gut assimiliert, sehr viele waren nur dann "Juden" oder "jüdischer Abstammung", wenn man die Maßstäbe der Nazis anlegt.
Der Kreis der "Nichtarier" umfasste nämlich auch Personen, die weder von ihrer Konfession noch von ihrem Selbstverständnis her eine Verbindung zum Judentum hatten, und deshalb auch von ihrer Umwelt bis dahin gar nicht mit "Judentum" in Verbindung gebracht wurden.

Liegt die Erklärung möglicherweise doch im "Erbgut"?
Es gibt da eine ziemlich windigen “Studie” aus den USA, aus der laut ihrer Autoren hervorginge, dass amerikanische Juden im Schnitt einen um 20 % höheren IQ als der Durchschnitt der US-Bürger hätten.
Von welchem Kaliber diese "Studie" allerdings ist, wird spätestens dann klar, wenn dort behauptet wird, die Schwarzen lägen im Schnitt 20 % unter dem US-Intelligenzdurchschnitt.
Diese “Studie” stammt aus dem “neurechten” Dunstkreis, und wurde erst neulich, am Rande der Nazikundgebung am 1. Mai in Hamburg Barmbek, vom Neonazi, selbsternannten Eugeniker und Hamburger NPD-Chef Jürgen Rieger zustimmend zitiert: Der Jürgen von der NPD (Die Zeit online).

Ich sehe die Ursache dafür, dass es augenscheinlich so viele brillante jüdische Intellektuelle in Deutschland gab, weniger bei den Juden als in der deutschen Gesellschaft, vor allem der deutschen Gesellschaft im Kaiserreich.

Im Großen und Ganzen galten die "aufgeklärten" Juden Deutschland als "Intellektuellenfreundlich" - Kinder dieser jüdischen Familien, die viel lernten, viel wussten und gern mit dem Kopf arbeiteten, konnte mit den Wohlwollen der Eltern rechnen. Das war in manchen deutschen Milieus anders. (Ich schreibe hier ausdrücklich nicht über Proletarier, die kaum einen Zugang zur höheren Bildung hatten, sondern über mindestens kleinbürgerliche Kreise.) Eine milde Form der "deutschen Intellektuellenfeindlichkeit" war (und ist) der Spruch: "Lerne lieber einen anständigen Beruf" - womit offensichtlich Berufe wie Journalist, Schriftsteller, bildender Künstler, Musiker, aber auch die "abstrakten" Wissenschaften und sogar der Bankiersberuf als "unanständige" Berufe zu gelten hätten. Ungeschriebenes Motto: "Handwerk hat goldenen Boden - und wer handwerklich ungeschickt ist, wird im Idealfall Beamter". Wenn schon ein akademischer Beruf, dann "etwas solides": Arzt, Ingenieur, Pfarrer.

Nun war es so, dass ausgerechnet eine soziale Klasse, die zu "Kaisers Zeiten" zur Herrschaftselite gehörte, in einem kaum glaublichen Maßen anti-intellektuell war: der "Millitär-Adel", die "Offiziersfamilien". Der Wissenschaftsjournalist Hoimar von Ditfurth schrieb in seinem autobiographischen Buch "Innenansichten eines Artgenossen":
(...) Mein Vater war, mit anderen Worten, Sproß einer "Offiziersfamilie" worauf man sich selbst noch in der Weimarer Zeit nicht wenig zugute hielt und wie es für die meisten Adelsfamilien (zumindest in Norddeutschland) galt. Eine andere Berufswahl kam vor dem Hintergrund einer solchen Tradition gar nicht in Betracht. Genauer: Eine Wahl gab es in Wirklichkeit gar nicht. (...)
Wer aus einer "Offiziersfamilie" stammte, der hatte keine Chance, seine Talente und geistigen Anlagen zu entwickeln, weil er von frühester Jugend an einem Umfeld ausgesetzt war, das intellektuellen Neigungen keine Spielräume ließ.
Damit herrschten bei einer der "staatstragenden Eliten" des Kaisereichs ähnliche Zustände wie im "bildungsfernen" Proletariat - Begabungen unterhalb der Genialitätsschwelle hatten keine Chance. Keine Erfindung böswilliger Satiriker war die geradezu groteske Intellektuellenfeindlichkeit in diesen Kreisen:
Wer von seinen Offizierkameraden beim Kauf oder gar der Lektüre anspruchsvoller Literatur oder bei anderen Regungen geistiger Interessen ertappt wurde, setzte sich unweigerlich dem allgemeinen Spott aus. Die Reaktion erfolgte so unfehlbar, daß der Verdacht naheliegt, hier habe man durch ironische Abwehr instinktiv der Wahrnehmung eines Verzichts vorbeugen wollen, die eine schmerzliche Stelle getroffen hätte. Böse gesagt und in aller Deutlichkeit: Bordellbesuche oder Spielschulden, selbst Alkoholismus (in der kaiserlichen Armee wenig verbreitet) oder notorische "Weibergeschichten" (einzige Einschränkung: "Bitte nicht mit den Damen von eigenen Regiment!") wurden in diesem Milieu eher toleriert als Ansätze zu geistigen Interessen. Mein Vater hat mir später, sehr viel später, aus eigener Erfahrung bestätigt, daß dieses Bild nicht überzeichnet ist.(...)"
Besonders verheerend wirkte die geistige Armut des preussisch-deutschen Militäradels, weil nicht nur die hohen Offiziere des im Kaiserreich so "wichtigen" Militärs, sondern praktisch das gesamte diplomatische Corps und viele hochrangige Beamte aus diesem sehr "vonnigen" Milieu stammten. Wer als Adeliger z. B. für das auswärtige Amt arbeitete hatte sicher den "aktiven" Berufsoffizieren seines Standes Fremdsprachenkenntnisse und wahrscheinlich auch Gewandheit im gesellschaftlichem Auftritt voraus - war, wie eine Reihe abenteuerlich anmutender diplomatischer Pannen und aus purer Ignoranz geborener "Zwischenfälle" aus der Kaiserzeit belegen, nicht unbedingt gebildeter oder besser darin geschult, den eigenen Standpunkt kritisch zu hinterfragen. Das Klischee vom ebenso arroganten wie engstirnigen "Kraut", "Boche" oder "Moff" wurde schon zu dieser Zeit, und nicht etwa erst durch die Kriegspropaganda des 1. Weltkriegs, geprägt.

Zurück zum Thema: Ein großer Teil der "gesellschaftlichen Elite" Deutschland im 1. Drittel des 20. Jahrhunderts - und noch mehr, die sich an dieser "Elite" orientierten - schied damit "freiwillig" aus dem Wettbewerb um "intellektuelle Brillanz" aus. Eine mindestens ebenso wichtige - und zunehmend wichtiger werdende "Elite" war das Besitzbürgertum. Nur bestand dieses Besitzbürgertum im kaiserlichen Deutschland zum überwiegenden Teil aus "Neureichen", bei denen "brotlose Kunst" als Beruf nachweislich auch nicht sonderlich angesehen war. Das Bildungsbürgertum Deutschlands war hingegen ungewöhnlich konservativ - nicht nur hinsichtlich der politischen Ausrichtung, sondern auch hinsichtlich der akzeptierten Lehrmeinungen - man orientierte sich als "deutscher Gelehrter" lieber nach "anerkannten Autoritäten", als zu neuen Ufern aufzubrechen - jedenfalls dann, wenn man Wert auf eine akademische Karriere legte. Mit den revolutionären Neuerungen - egal, ob in der Quantenphysik, in der modernen Kunst, in der Psychoanalyse - gaben sich vorwiegend "Aussenseiter" und "Quereinsteiger" ab. Nach Lage der Dinge waren darunter überdurchschnittlich viele Juden oder Menschen jüdischer Abstammung.

Überspitzt kann man sagen: es gab in der Weimarer Republik deshalb so viele jüdische Intellektuelle, weil es so wenige "arische" Intellektuelle gab. Was im Endeffekt bedeutete, dass, nachdem die deutschen Juden vertrieben oder ermordet waren, Deutschland unter akutem Mangel an "beweglichem Geist" litt. (Abgesehen davon, dass im "Dritten Reich" sozusagen auf selbständiges Denken die Todesstrafe stand. Ein Klima, unter dem intellektueller Nachwuchs, auch der mit "Ariernachweis", einfach nicht gedeiht.) Das "dumpfe" gesellschaftliche Klima, das Nachkriegsdeutschland bis in die 60er Jahre prägte (und zwar in beiden Teilen Deutschlands), hängt meines Erachtens auch mit diesem akuten Mangel an brillanten Intellektuellen zusammen.

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