Das Zeitalter der Effizienz - oder: was fehlt, ist Neugier
Wir leben in einer Zeit, in der die Quantität des "Wissens der Menschheit" geradezu unvorstellbare Ausmaße angenommen hat - und dieses Wissen im Großen und Ganzen dank moderner Kommunikationsmittel - unter denen das Internet das spektakulärste und leistungsfähigste ist - in einem früher unvorstellbaren Maße allgemein verfügbar ist.
Trotzdem scheint es an großen, zündenden Ideen zu mangeln. Sowohl in der Wissenschaft wie auch in der Kunst und erst recht in der Politik.
Mangelt es unserer Zeit an großen Geistern?
Die beste Antwort darauf, die ich kenne, gab ein Philosoph, der keiner sein wollte vor gut 30 Jahren in einem anonymen Interview für "Le Monde":
Ich würde es so formulieren: Das "Zeitalter der Wissbegierde" scheiterte bisher daran, dass der "Merkantilismus à la Colbert" so etwas wie eine heimliche Leitideologie der heutigen "westlichen Kultur" ist - mehr noch als die Marktgläubigkeit des fälschlicherweise "Neoliberalismus" genannten dogmatischen Kapitalismus, der seit etwa 1980 eine der wichtigsten Ideologien des "Westens" ist. Ironischerweise wandten sich jene, die sich in den 1930er Jahren "Neoliberale" nannten, genau gegen jene strenggenommen "neoklassische" Wirtschaftsideologie, die heute mit dem Begriff "neoliberal" verbunden wird.
Der Leitgedanke des Merkantilismus ist die Effizienz. Das mag angesichts der zur gleichen Zeit grassierenden Verschwendungssucht am Hofe Louis XIV. merkwürdig anmuten, aber Sinn und Zweck der merkantilen Wirtschaftsordnung war es, die nötigen Mittel vor allem für die fortgesetzten "Kabinettskriege" des damaligen Frankreich zu beschaffen. Colbert erreichte das, indem er die Finanz- und Wirtschaftspolitik Frankreichs nach kaufmännischen (merkantilen) Prinzipien ausrichtete, so handelte, als wäre Frankreich ein großes Unternehmen. (Heute würde man von einer Wirtschaftspolitik nach BWL-Prinzipien sprechen.)
Es entbehrt nicht einer gewissen historischen Ironie, dass der "Vater" der klassischen marktwirtschaftlichen Lehre, Adam Smith, ein entschiedener Gegner des Merkantilismus war - und das nicht wenige jener "Neoliberaler" (in der Lesart ihrer Kritiker - sie selbst nennen sich lieber "Marktwirtschaftler") de facto eine Wirtschaftspolitik nach merkantilistischen Prinzipien fordern. Ich nenne die Wirtschaftsordnung, die z. B. von der Initivative "Neue Soziale Marktwirtschaft" propagiert wird, deshalb merkantilistisch, weil sich in ihr die Interessen "der Wirtschaft" (gemeint: Großunternehmen) mit der "Staatsraison" eng verquicken. Merkantilistisch ist auch, dass der Bürger nicht als Souverän, sondern als "Werkzeug" gesehen wird. (Ich habe die INSM als Beispiel gewählt, obwohl ich diese Lobbybude der Metallindustrie für längst nicht so wichtig oder gefährlich halte, wie manche ihre Gegner glauben. Anderseits ist sie leider auch keine Institution, die sachlich und ehrlich über die Vorteile der Marktwirtschaft aufklären würde.)
Zurück zu Adam Smith. Er entwickelte sein System der liberalen Marktwirtschaft als Gegenentwurf zum absolutistischen Staatsverständnis eines Thomas Hobbes ("Leviathan") und den aus diesem Staatsverständnis heraus abgeleiteten merkantilistischen Wirtschaftssystem. (Das sich, vor allem wegen der protestantischen Arbeitsethik, in Vielem vom colbertschen System unterschied, aber das Prinzip ist ähnlich.) Hobbes sah den Egoismus als einzig bestimmende menschliche Triebkraft. Der Staat ist eine Einrichtung, um per Vertrag die auf egoistische Selbsterhaltung bedachten Einzelnen voreinander zu schützen. Das Staatsziel und die auf dieses Ziel gerichtete "Staatsraison" wird nicht von den Einzelinteressen der Untertanen her gesehen (dazu sind sie ja viel zu egoistisch), sondern wird in einem Akt des Gottesgnadentums dem Monarchen zuteil. Dass sich Kaufleute und Fabrikanten bereichern, gilt in diesem System als ihr gutes (göttliches) Recht - allerdings sind sie von der politischen Macht weiterhin ausgeschlossen. (In Frankreich war die Kluft zwischen wirtschaftlicher Bedeutung und politische Bedeutungslosigkeit des (Besitz-)Bürgertums eine der Ursachen der Revolution.) In England gelang es dem Bürgertum hingegen an der politischen Macht teilzuhaben - dennoch blieb die Wirtschaftspolitik merkantilistisch, von "freiem Handel" konnte im Großbritannien des 18. Jahrhunderts noch keine Rede sein. Es gab hohe Schutzzölle, Einfuhr- und Exportverbote, Restriktionen für den Kolonialhandel, und vor allem die aus der Zeit der Cromwell-Diktatur stammende "Navigation Acts", der es ausländischen Schiffen verbot, britische Waren zu transportieren. Noch bis Anfang des 19. Jahrhunderts war das britische Wirtschaftssystem darauf gerichtet, dass der "Wohlstand" (der staatstragenden Klassen, die sich mit "dem Staat" identisch sahen) eher durch den reglementierten Handel mit den Kolonien als durch Freihandel mit aller Welt gefördert wurde. Die Handelsstrategie war darauf gerichtet, die Kosten für Nahrungsmittel durch billige Importe, vor allem aus den Kolonien und aus dem politisch abhängigen Irland, niedrig zu halten - und damit auch die Kosten für Arbeitskraft in britischen Manufakturen und Fabriken gering zu halten. In den Anfängen der industriellen Revolution war das ein kaum zu überbietender "günstiger Standortfaktor" - jedenfalls solange es aufnahmefähige ausländische Märkte für britische Produkte gab. Auf die Dauer grub sich dieses merkantilistisch-kapitalistische System selbst das Wasser ab, was Smith schon früh erkannte. (In mancher Hinsicht hat der viel bewunderte "chinesische Weg" eines staatlich regulierten Kapitalismus Ähnlichkeit mit dem klassischen Merkantilismus. Ich erwarte, dass die "China-Blase" irgendwann ganz gewaltig platzt - es sei denn, dass Chinas Wirtschaft noch rechtzeitig einen ähnlichen Weg nimmt, wie die Südkoreas: Teilhabe der Massen am wirtschaftlichen Erfolg - und an der Macht.)
Adam Smith setzte dem merkantilistischen System nicht nur die liberale Marktwirtschaft entgegen (die berühmte "unsichtbare Hand"). Er glaubte nicht daran, dass der freie Wettbewerb selbstsüchtiger Interessen die Gesellschaft spalten würde - denn er sah die soziale Rücksichtnahme, die er "Benevolence" nannte, als eine natürliche balancierende Gegenkraft an. Er ging z. B. davon aus, dass Fairness nicht nur auf die Dauer für alle am Markt Beteiligten vorteilhaft ist, sondern dass es außerdem einen zutiefst menschlichen Drang zur "Fairness" gäbe. (Übrigens sprechen experimentalpsychologische Erkenntnisse für so einen "angeborenen Hang zur Fairness".) "Benevolence" geht sogar noch weiter: Smith glaubte, dass gewisse Prinzipien seiner Natur den Menschen dazu bestimmen, an den dem Schicksal anderer Anteil zu nehmen. Dieser Drang, das Glück auch des anderen zum eigenen Bedürfnis zu machen, ist zum Teil angeboren (gottgegeben, wie Smith es ausgedrückt hätte), zum Teil aber auch Sache der Erziehung und der öffentlichen Ethik und Moral.
Im späteren Kapitalismus war von der smithschen "Benevolence" wenig zu spüren - tatsächlich setzte sich Ideologien durch, die den ungehemmten Egoismus rechtfertigten. Schon zu Smith's Zeiten kamen Rechtfertigungen für Rücksichtslosigkeit aus der religiösen Sphäre (Prädestinationslehre, Gnade Gottes ist am Erfolg im Leben abzulesen, jeder ist an dem ihm gemäßen Platz gestellt usw.), gegen Ende des 19. Jahrhunderts kamen sozialdarwinistische Vorstellungen hinzu.
Unnötig eigentlich zu erwähnen, dass die "Benevolence" bei den den ökonomischen Neoklassikern, "Turbokapitalisten" und Marktideologen bestenfalls auf die Rolle des Almosengebens reduziert ist - und das nur, wenn es der Wettbewerbsfähigkeit nicht schadet. Eher findet man sie schon bei den ursprünglichen Neoliberalen, den Ordoliberalen ("soziale Marktwirtschaft") wieder - und natürlich bei Sozialisten (die es in der Regel aber nicht mit der Marktwirtschaft haben).
Ihrer besseren ökonomischen Effizienz verdankten die Staaten des kapitalistischen "Westens" (unter anderem) den Erfolg über die notorisch ineffizenten "realsozialistischen" Staaten.
Inzwischen ist die größtmögliche Effizenz aber zum "Wert an Sich" verkommen, was konkurrenzfähig ist, ist auch gut (im ethischen Sinne). (Ein weiterer zum ideologischen "Wert an Sich" verkommener Begriff ist die "Sicherheit". Das Kompositum aus beidem, die "effizente Sicherheit" ist nicht nur in Deutschland etwas das politische Entscheider gern den bürgerlichen Freiheitsrechten entgegen stellen.)
Damit sind wir wieder beim Foucault-Zitat. Effizienzdenken (und aus Angst gespeistes Sicherheitsdenken, dass ist hier aber nicht Thema) ist offensichtlich Gift für viele kulturelle Bestrebungen.
Wenn z. B. der Wert eines Kunstwerkes nur in seinem Marktwert gesehen wird, führt das auf die Dauer dazu, dass bestimmte Formen der Kunst nicht mehr "produziert" werden - eine Verarmung der kulturellen Landschaft droht.
Dem gegenüber steht ein Denken, dass den Künstler als jemanden sieht, der sich freiwillig aus dem produktiven Leben verabschiedet hat, um schöne Dinge zu produzieren. Folgt man dieser Annahme, dann ist es nur logisch, dass der Künstler mit dem zufrieden zu sein hat, dass er gerade zum Überleben braucht - Kunst als Selbstzweck. Diese Ideologie des sich freiwillig aufopfernden Künstlers ist nur die Kehrseite des Effizienzdenkens, rechtfertigt Ausbeutung - und sie lässt sich auch z. B. auf Menschen, die freiwillig im sozialen Bereich helfen, übertragen.
In einer extremen "Effizenzgesellschaft" würde man wohl die Kunst (abgesehen von reiner Gebrauchskunst) völlig über Bord werfen - was womöglich als Preis, der für die Stabilität der Gesellschaft bezahlt werden müsse, gerechtfertigt würde. Denn kreatives Denken, dass nicht "produktiv eingebunden" ist, ist potenziell destruktiv, Sand im Getriebe.
Auf den Fortschritt der Wissenschaft würde man auch verzichten müssen - soweit es nicht um effizenzsteigernde Innovationen geht. Denn Grundlagenforschung ist ökonomisch ineffizient. Wenn überhaupt geforscht wird, dann gezielt auf ein vermarktbares Produkt hin. Neben der Grundlagenforschung sind vor allem die Sozialwissenschaften - soweit sie nicht als Lieferanten von Sozialtechniken brauchbar sind - gefährdet. Denn zuviel Wissen über den Menschen und seine Bedürfnisse abseits des Ökonomischen ist gefährlich.
Es gäbe, neben der vernachlässigten und geradezu verfehmten ("Kuschelpädagogik", "Sozialromantik") Fähigkeit zur Empathie, zum Einfühlen und Eindenken in die Bedürfnisse Anderer, noch eine Gegenkraft zur lähmenden Ideologie der Effizenz: die Neugier. Womit nicht die aus Angst geborenen Datensammelwut funktionell verfolgungswahnsinniger Geheimdienste und Kriminalbeamter (denn es gehört zu ihrer Professionalität, auch dort Verdachtsmomente zu sehen, wo sie als Normalbürger unbesorgt wären) und vielleicht nicht nur funktionell verfolgungswahnsinniger, machtbeflissener Politiker gemeint ist. Auch nicht gemeint ist die Neugier auf Klatsch und "pikante Details" aus dem Privatleben anderer Leute.
Ich meine die Neugier, die aus einem Kind spricht, dass die Erwachsenen mit Fragen löchert - bis ihm dann womöglich in der Schule die selbstbestimmte Neugier zugunsten des Lernstoffes ausgetrieben wird. Es ist erstaunlich, wie oft "Bildung" mit "abfragbares Wissen aneignen" verwechselt wird. (Wie von jenem Physiklehrer, der seinen Schülern erst mal klar macht, dass der Physikunterricht nichts mit Weltraum und so zu tun hätte. Hier wird Stoff fürs Berufsleben gebüffelt, alles andere ist Luxus, Zeitverschwendung, Spassvergnügen - kurz: ineffizient.)
Künstler - abgesehen von bestimmten Bereichen der Gebrauchskunst - sind auf diese Weise neugierig. Wissenschaftler meistens auch. Aber diese - scheinbar zweckfreie - Neugier ist schwer zu vermitteln. Viel zu vielen Menschen wurde sie längst abtrainiert. Wie auch Empathie und Sympathie - "Mitleid" im ursprünglichen Wortsinn, "mit Leiden" nicht als aus schlechtem Gewissen oder Selbstüberhöhung geborenes herablassendes Verteilen von milden Gaben oder auch nur warmer Worte. Oder Solidarität - auch in der ursprünglichen Bedeutung, und nicht im Sinne von "Gemeinnutz geht vor Eigennutz" oder "Opfer bringen für die Solidargemeinschaft".
Trotzdem scheint es an großen, zündenden Ideen zu mangeln. Sowohl in der Wissenschaft wie auch in der Kunst und erst recht in der Politik.
Mangelt es unserer Zeit an großen Geistern?
Die beste Antwort darauf, die ich kenne, gab ein Philosoph, der keiner sein wollte vor gut 30 Jahren in einem anonymen Interview für "Le Monde":
Ich träume von einem neuen Zeitalter der Wißbegierde. Man hat die technischen Mittel dazu; das Begehren ist da; die zu wissenden Dinge sind unendlich; es gibt die Leute, die sich mit dieser Arbeit beschäftigen möchten. Woran leidet man? Am "Zuwenig“: ungenügende, quasi-monopolisierte, kurze, enge Kanäle. Es geht nicht darum, eine protektionistische Haltung anzunehmen, um zu verhindern, dass die "schlechte" Information durchkommt und die "gute“ erstickt. Man müßte eher die Hin- und Her-Wege und -Möglichkeiten vermehren . Kein Merkantilismus à la Colbert auf diesem Gebiet. Was nicht heißen soll, wie man es oft befürchtet, Uniformisierung und Nivellierung von unten aus. Sondern im Gegenteil, Differenzierung und Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Netze.Michel Foucault: "Der maskierte Philosoph - Gespräch mit Christian Delacampagne"; S. 18; in: "Von der Freundschaft - Michel Foucault im Gespräch"; Merve Verlag, Berlin
Ich würde es so formulieren: Das "Zeitalter der Wissbegierde" scheiterte bisher daran, dass der "Merkantilismus à la Colbert" so etwas wie eine heimliche Leitideologie der heutigen "westlichen Kultur" ist - mehr noch als die Marktgläubigkeit des fälschlicherweise "Neoliberalismus" genannten dogmatischen Kapitalismus, der seit etwa 1980 eine der wichtigsten Ideologien des "Westens" ist. Ironischerweise wandten sich jene, die sich in den 1930er Jahren "Neoliberale" nannten, genau gegen jene strenggenommen "neoklassische" Wirtschaftsideologie, die heute mit dem Begriff "neoliberal" verbunden wird.
Der Leitgedanke des Merkantilismus ist die Effizienz. Das mag angesichts der zur gleichen Zeit grassierenden Verschwendungssucht am Hofe Louis XIV. merkwürdig anmuten, aber Sinn und Zweck der merkantilen Wirtschaftsordnung war es, die nötigen Mittel vor allem für die fortgesetzten "Kabinettskriege" des damaligen Frankreich zu beschaffen. Colbert erreichte das, indem er die Finanz- und Wirtschaftspolitik Frankreichs nach kaufmännischen (merkantilen) Prinzipien ausrichtete, so handelte, als wäre Frankreich ein großes Unternehmen. (Heute würde man von einer Wirtschaftspolitik nach BWL-Prinzipien sprechen.)
Es entbehrt nicht einer gewissen historischen Ironie, dass der "Vater" der klassischen marktwirtschaftlichen Lehre, Adam Smith, ein entschiedener Gegner des Merkantilismus war - und das nicht wenige jener "Neoliberaler" (in der Lesart ihrer Kritiker - sie selbst nennen sich lieber "Marktwirtschaftler") de facto eine Wirtschaftspolitik nach merkantilistischen Prinzipien fordern. Ich nenne die Wirtschaftsordnung, die z. B. von der Initivative "Neue Soziale Marktwirtschaft" propagiert wird, deshalb merkantilistisch, weil sich in ihr die Interessen "der Wirtschaft" (gemeint: Großunternehmen) mit der "Staatsraison" eng verquicken. Merkantilistisch ist auch, dass der Bürger nicht als Souverän, sondern als "Werkzeug" gesehen wird. (Ich habe die INSM als Beispiel gewählt, obwohl ich diese Lobbybude der Metallindustrie für längst nicht so wichtig oder gefährlich halte, wie manche ihre Gegner glauben. Anderseits ist sie leider auch keine Institution, die sachlich und ehrlich über die Vorteile der Marktwirtschaft aufklären würde.)
Zurück zu Adam Smith. Er entwickelte sein System der liberalen Marktwirtschaft als Gegenentwurf zum absolutistischen Staatsverständnis eines Thomas Hobbes ("Leviathan") und den aus diesem Staatsverständnis heraus abgeleiteten merkantilistischen Wirtschaftssystem. (Das sich, vor allem wegen der protestantischen Arbeitsethik, in Vielem vom colbertschen System unterschied, aber das Prinzip ist ähnlich.) Hobbes sah den Egoismus als einzig bestimmende menschliche Triebkraft. Der Staat ist eine Einrichtung, um per Vertrag die auf egoistische Selbsterhaltung bedachten Einzelnen voreinander zu schützen. Das Staatsziel und die auf dieses Ziel gerichtete "Staatsraison" wird nicht von den Einzelinteressen der Untertanen her gesehen (dazu sind sie ja viel zu egoistisch), sondern wird in einem Akt des Gottesgnadentums dem Monarchen zuteil. Dass sich Kaufleute und Fabrikanten bereichern, gilt in diesem System als ihr gutes (göttliches) Recht - allerdings sind sie von der politischen Macht weiterhin ausgeschlossen. (In Frankreich war die Kluft zwischen wirtschaftlicher Bedeutung und politische Bedeutungslosigkeit des (Besitz-)Bürgertums eine der Ursachen der Revolution.) In England gelang es dem Bürgertum hingegen an der politischen Macht teilzuhaben - dennoch blieb die Wirtschaftspolitik merkantilistisch, von "freiem Handel" konnte im Großbritannien des 18. Jahrhunderts noch keine Rede sein. Es gab hohe Schutzzölle, Einfuhr- und Exportverbote, Restriktionen für den Kolonialhandel, und vor allem die aus der Zeit der Cromwell-Diktatur stammende "Navigation Acts", der es ausländischen Schiffen verbot, britische Waren zu transportieren. Noch bis Anfang des 19. Jahrhunderts war das britische Wirtschaftssystem darauf gerichtet, dass der "Wohlstand" (der staatstragenden Klassen, die sich mit "dem Staat" identisch sahen) eher durch den reglementierten Handel mit den Kolonien als durch Freihandel mit aller Welt gefördert wurde. Die Handelsstrategie war darauf gerichtet, die Kosten für Nahrungsmittel durch billige Importe, vor allem aus den Kolonien und aus dem politisch abhängigen Irland, niedrig zu halten - und damit auch die Kosten für Arbeitskraft in britischen Manufakturen und Fabriken gering zu halten. In den Anfängen der industriellen Revolution war das ein kaum zu überbietender "günstiger Standortfaktor" - jedenfalls solange es aufnahmefähige ausländische Märkte für britische Produkte gab. Auf die Dauer grub sich dieses merkantilistisch-kapitalistische System selbst das Wasser ab, was Smith schon früh erkannte. (In mancher Hinsicht hat der viel bewunderte "chinesische Weg" eines staatlich regulierten Kapitalismus Ähnlichkeit mit dem klassischen Merkantilismus. Ich erwarte, dass die "China-Blase" irgendwann ganz gewaltig platzt - es sei denn, dass Chinas Wirtschaft noch rechtzeitig einen ähnlichen Weg nimmt, wie die Südkoreas: Teilhabe der Massen am wirtschaftlichen Erfolg - und an der Macht.)
Adam Smith setzte dem merkantilistischen System nicht nur die liberale Marktwirtschaft entgegen (die berühmte "unsichtbare Hand"). Er glaubte nicht daran, dass der freie Wettbewerb selbstsüchtiger Interessen die Gesellschaft spalten würde - denn er sah die soziale Rücksichtnahme, die er "Benevolence" nannte, als eine natürliche balancierende Gegenkraft an. Er ging z. B. davon aus, dass Fairness nicht nur auf die Dauer für alle am Markt Beteiligten vorteilhaft ist, sondern dass es außerdem einen zutiefst menschlichen Drang zur "Fairness" gäbe. (Übrigens sprechen experimentalpsychologische Erkenntnisse für so einen "angeborenen Hang zur Fairness".) "Benevolence" geht sogar noch weiter: Smith glaubte, dass gewisse Prinzipien seiner Natur den Menschen dazu bestimmen, an den dem Schicksal anderer Anteil zu nehmen. Dieser Drang, das Glück auch des anderen zum eigenen Bedürfnis zu machen, ist zum Teil angeboren (gottgegeben, wie Smith es ausgedrückt hätte), zum Teil aber auch Sache der Erziehung und der öffentlichen Ethik und Moral.
Im späteren Kapitalismus war von der smithschen "Benevolence" wenig zu spüren - tatsächlich setzte sich Ideologien durch, die den ungehemmten Egoismus rechtfertigten. Schon zu Smith's Zeiten kamen Rechtfertigungen für Rücksichtslosigkeit aus der religiösen Sphäre (Prädestinationslehre, Gnade Gottes ist am Erfolg im Leben abzulesen, jeder ist an dem ihm gemäßen Platz gestellt usw.), gegen Ende des 19. Jahrhunderts kamen sozialdarwinistische Vorstellungen hinzu.
Unnötig eigentlich zu erwähnen, dass die "Benevolence" bei den den ökonomischen Neoklassikern, "Turbokapitalisten" und Marktideologen bestenfalls auf die Rolle des Almosengebens reduziert ist - und das nur, wenn es der Wettbewerbsfähigkeit nicht schadet. Eher findet man sie schon bei den ursprünglichen Neoliberalen, den Ordoliberalen ("soziale Marktwirtschaft") wieder - und natürlich bei Sozialisten (die es in der Regel aber nicht mit der Marktwirtschaft haben).
Ihrer besseren ökonomischen Effizienz verdankten die Staaten des kapitalistischen "Westens" (unter anderem) den Erfolg über die notorisch ineffizenten "realsozialistischen" Staaten.
Inzwischen ist die größtmögliche Effizenz aber zum "Wert an Sich" verkommen, was konkurrenzfähig ist, ist auch gut (im ethischen Sinne). (Ein weiterer zum ideologischen "Wert an Sich" verkommener Begriff ist die "Sicherheit". Das Kompositum aus beidem, die "effizente Sicherheit" ist nicht nur in Deutschland etwas das politische Entscheider gern den bürgerlichen Freiheitsrechten entgegen stellen.)
Damit sind wir wieder beim Foucault-Zitat. Effizienzdenken (und aus Angst gespeistes Sicherheitsdenken, dass ist hier aber nicht Thema) ist offensichtlich Gift für viele kulturelle Bestrebungen.
Wenn z. B. der Wert eines Kunstwerkes nur in seinem Marktwert gesehen wird, führt das auf die Dauer dazu, dass bestimmte Formen der Kunst nicht mehr "produziert" werden - eine Verarmung der kulturellen Landschaft droht.
Dem gegenüber steht ein Denken, dass den Künstler als jemanden sieht, der sich freiwillig aus dem produktiven Leben verabschiedet hat, um schöne Dinge zu produzieren. Folgt man dieser Annahme, dann ist es nur logisch, dass der Künstler mit dem zufrieden zu sein hat, dass er gerade zum Überleben braucht - Kunst als Selbstzweck. Diese Ideologie des sich freiwillig aufopfernden Künstlers ist nur die Kehrseite des Effizienzdenkens, rechtfertigt Ausbeutung - und sie lässt sich auch z. B. auf Menschen, die freiwillig im sozialen Bereich helfen, übertragen.
In einer extremen "Effizenzgesellschaft" würde man wohl die Kunst (abgesehen von reiner Gebrauchskunst) völlig über Bord werfen - was womöglich als Preis, der für die Stabilität der Gesellschaft bezahlt werden müsse, gerechtfertigt würde. Denn kreatives Denken, dass nicht "produktiv eingebunden" ist, ist potenziell destruktiv, Sand im Getriebe.
Auf den Fortschritt der Wissenschaft würde man auch verzichten müssen - soweit es nicht um effizenzsteigernde Innovationen geht. Denn Grundlagenforschung ist ökonomisch ineffizient. Wenn überhaupt geforscht wird, dann gezielt auf ein vermarktbares Produkt hin. Neben der Grundlagenforschung sind vor allem die Sozialwissenschaften - soweit sie nicht als Lieferanten von Sozialtechniken brauchbar sind - gefährdet. Denn zuviel Wissen über den Menschen und seine Bedürfnisse abseits des Ökonomischen ist gefährlich.
Es gäbe, neben der vernachlässigten und geradezu verfehmten ("Kuschelpädagogik", "Sozialromantik") Fähigkeit zur Empathie, zum Einfühlen und Eindenken in die Bedürfnisse Anderer, noch eine Gegenkraft zur lähmenden Ideologie der Effizenz: die Neugier. Womit nicht die aus Angst geborenen Datensammelwut funktionell verfolgungswahnsinniger Geheimdienste und Kriminalbeamter (denn es gehört zu ihrer Professionalität, auch dort Verdachtsmomente zu sehen, wo sie als Normalbürger unbesorgt wären) und vielleicht nicht nur funktionell verfolgungswahnsinniger, machtbeflissener Politiker gemeint ist. Auch nicht gemeint ist die Neugier auf Klatsch und "pikante Details" aus dem Privatleben anderer Leute.
Ich meine die Neugier, die aus einem Kind spricht, dass die Erwachsenen mit Fragen löchert - bis ihm dann womöglich in der Schule die selbstbestimmte Neugier zugunsten des Lernstoffes ausgetrieben wird. Es ist erstaunlich, wie oft "Bildung" mit "abfragbares Wissen aneignen" verwechselt wird. (Wie von jenem Physiklehrer, der seinen Schülern erst mal klar macht, dass der Physikunterricht nichts mit Weltraum und so zu tun hätte. Hier wird Stoff fürs Berufsleben gebüffelt, alles andere ist Luxus, Zeitverschwendung, Spassvergnügen - kurz: ineffizient.)
Künstler - abgesehen von bestimmten Bereichen der Gebrauchskunst - sind auf diese Weise neugierig. Wissenschaftler meistens auch. Aber diese - scheinbar zweckfreie - Neugier ist schwer zu vermitteln. Viel zu vielen Menschen wurde sie längst abtrainiert. Wie auch Empathie und Sympathie - "Mitleid" im ursprünglichen Wortsinn, "mit Leiden" nicht als aus schlechtem Gewissen oder Selbstüberhöhung geborenes herablassendes Verteilen von milden Gaben oder auch nur warmer Worte. Oder Solidarität - auch in der ursprünglichen Bedeutung, und nicht im Sinne von "Gemeinnutz geht vor Eigennutz" oder "Opfer bringen für die Solidargemeinschaft".
MMarheinecke - Sonntag, 13. Januar 2008
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