Aufbruch in eine "schöne neue Welt" oder das enthumanisierte Menschenbild

Im Zusammenhang mit staatlichen Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen, aber auch mit privatwirtschaftlichem Datenhunger wird gerne George Orwells berühmte Dystopie "1984" angeführt. Wenn man sich vorstellt, dass die Bundesrepublik Deutschland oder andere hochindustrialisierte parlamentarisch-demokratische Staaten in eine "klassische" totalitäre Diktatur abgleiten würden, könnte an dieser Vision einiges dran sein.

Ich bin allerdings eher der Ansicht, dass wir uns eher auf ein System zubewegen, das im großen und ganzen Ähnlichkeit mit einer anderen klassischen Dystopie hat: mit Brave New Word von Orwells ehemaligem Literaturprofessor in Eton, Aldous Huxley.
Auf eine Inhaltsangabe des Romans, der - anders als der eher gegenwartsbezogene Roman "1984", der die Verhältnisse von 1948 extrapolierte und auf die totalitäre Spitze trieb - auch als Science Fiction-Literatur bahnbrechend war, verzichte ich und verweise auf die gute Zusammenfassung in der "Wikipedia": Schöne Neue Welt.

Die entscheidenden Punkte der "Schönen neuen Welt" sind:
  • staatlich gesteuerte genetische Vorherbestimmung aller Bürger
  • Konditionierung als Erziehungsmethode, quasi "Dressur" der Kinder, die als Erwachsene gar nicht anders können als systemkonform zu denken.
  • Kastensystem nach "Intelligenzklassen" - von Alpha-Supergenies bis Epsilon-Halbidioten
  • "sanfter Totalitarismus" - Überwachung und Kontrolle sind weitgehend in die Köpfe der Bürger verlegt, Gewaltausübung als Herrschaftsmittel ist mininiert.
  • Gruppenzwang, Gemeinschaftszwang - ein gewisser Individualismus wird allenfalls bei "Alphas" als Preis für deren kreative Fähigkeiten toleriert. Wer für sich sein will, gilt als asozial.
  • eine überall verfügbare nebenwirkungslose "Glücksdroge" ("Soma"), zugleich Beruhigungsmittel, Stimmungsaufheller und Partydroge
  • Beschränkung der Bildung auf unmittelbar "nützliches" Wissen, eine humanistische Bildung gibt es nicht, historisches Wissen wird unterdrückt - Sinn: kein Bürger kann Interessen außerhalb seines Aufgabenbereichs entwickeln, geschweige denn auf nonkonformistische Idee kommen. Ausnahme: Mitglieder der Weltregierung - alles Alpha-Plus mit gesicherter Systemloyalität.
  • Hedonismus und inhaltlich sinnfreie Riten als Religionsersatz.
  • Völlige Trennung von Fortpflanzung und Sexualität, letztere ist nur noch reines "Genussmittel" bzw. "Bettgymnastik" ohne tiefere Gefühle.
  • (gewaltloser) Konsumzwang, verbunden mit Arbeitszwang und Vernügungszwang
  • Massenproduktion (orientiert am Fordismus, Henry Ford ist Grundlage der Zeitrechnung und Quasi-"Gottheit" im Roman). Um Arbeitslosigkeit und daraus resultierende Unruhen zu vermeiden, gibt es absichtlich keine Vollautomatisierung bzw. Robotisierung (allerdings sind "Deltas" und "Epsilons" wenig mehr als "menschliche Roboter").
Das Motto des Weltstaates ist "Gemeinschaft, Gleichheit, Stabilität", seine inoffizielle Maxime "Glück - im Sinne von ständiger Zufriedenheit - durch Verzicht auf Freiheit".

Wie ähnlich unsere Welt der "schönen neuen Welt" ist oder einmal sein könnte, wurde 1999 in der "Zeit" diskutiert. Die Diskussion basierte auf einem Vortrag des Philosophen Peter Sloterdijk mit dem Titel "Regeln für den Menschenpark" (Wikipedia-Artikel: Regeln für den Menschenpark - der Vortrag im Wortlaut.) Sloterdijk hat in seinem mit Anspielungen und Seitenhieben auf die "Kritische Theorie" Adornos und Horkheimers gespickten Vortrag Dinge angesprochen, die leicht als reaktionäre politische Thesen verstanden werden können - und promt wurden. Da er sich an der Radikalität seiner Thesen selbst berauschte, verstanden einige den Vortrag ob seiner Leidenschaftlichkeit als Plädoyer für (positive) Eugenik, sprich Menschenzucht. Der Schwerpunkt der folgenden intensiven öffentlichen Diskussion lag, wenn ich mich richtig erinnere, auf der Frage nach der Anwendung von Gentechnologie auf den Menschen, die zumindest in Deutschland beinahe durchgehend abgelehnt wurde. Eine weitere wichtige Parallele zu "Brave New World" ist, dass Sloterdijk die humanistische Bildung zur Diskussion stellt.
Zwei Dinge sind mir noch in unangenehmer Erinnerung: Sloterdijk denunzierte Kritik an seinem wuchtig kulturpessimistischen Vortrag als hysterische Anfälle eines Antifa-Alarmismus, dessen Denken sich in Reflexen erschöpfe. Das andere waren die selbsternannten "Experten" in Presse, Funk und Fernsehen, die sich vor allem durch mangelndes biologisches und philosophisches Grundwissen auszeichneten - unfreiwilliger Beleg für Sloterdijks pessimistische Aussage, dass das humanistische Bildungsideal längst am Ende sei. (Die Debatte in der Presse ist hier dokumentiert: Der Sloterdijk-Streit in der Presse.)

Ein zweite "Schöne neue Welt"-Debatte, dieses Mal im Feuilleton, löste Michel Houellebecq mit seinem (meiner Ansicht nach überschätzten) Roman "Elementarteilchen" aus. Unter vielen anderen Themen dieses mit Themen und Thesen geradezu überladenen Buches beschäftigt sich Houellebecq intensiv mit Aldous Huxley und dessen Bruder, dem Biologen Julian Huxley. Houellebec provozierte mit der These, es sei Heuchelei, in dem Buch einen totalitären Albtraum zu sehen. "Schöne Neue Welt" sei vielmehr eine positive Utopie. Hinsichtlich der ungehemmten sexuellen Freiheit, dem gelungenen Kampf gegen das Altern und der Freizeitkultur wäre sie ein Paradies. Aldous Huxley habe erst 30 Jahre später in "Brave New World Revisited" versucht, seinen Roman als Anklage und Satire hinzustellen. Weitgehend außer Acht gelassen wurde die offene Frage, inwieweit Houellebec die Ansichten seiner detailliert gezeichneten, aber "blutleer" wirkenden Charaktere seines Semi-Science-Fiction-Romans tatsächlich teilt.

Immerhin: er zeigte, dass es möglich ist, die Gesellschaft der "Brave New World" als anzustrebendes Ideal zu sehen. Sie hat ja, im Gegensatz zu "1984", ihre Attraktionen.

Huxleys Konsumgesellschaft könnte eine extreme, aber logische Entwicklung der ökonomischen Werte darstellen, in denen persönliches Glück als durch Konsumgüter erworbene Zufriedenheit und Erfolg auf materiellen Wohlstand reduziert wird. Wichtig für die Entstehung seines "Weltstaates" (nach einem verheerenden, mit biologischen Waffen geführten Krieg) ist das enge Bündnis zwischen "Big Business" (eines Konzern-Kapitalismus, der die klassischen "Gesetze der Marktes" längst ausgehebelt hat) und "Big Gouverment" - eines bevormundenden, alles kontrollierenden Staates, der z. B. Sozialleistungen nur gegen bedingungslose Anpassung vergibt.

Zentraler Punkt nahe aller klassischen Dystopien, und auch bei "1984" und noch stärker bei "Brave New World" zu finden, ist das enthumanisiertes Menschenbild in den geschilderten Gesellschaften. Der Mensch wird nicht nur äußerlich, durch ökonomischen Druck, auf seine Funktion, etwa als Arbeiter, als Konsument oder - heute noch - als Erbringer familiärer "Dienstleistungen" wie Aufzucht von Kindern reduziert, er begreift sich zunehmend selbst als "Leistungsträger". Am weitesten Fortgeschritten die Enthumanisierung meines Erachtens bei jene beruflich aufstiegsorientierten "Eliten", die sich selbst für die Karriere zu optimieren versuchen. Sport wird von diesen Menschen nicht mehr betrieben, weil er Spaß bring und gesund ist, sondern um Fit für den Job zu sein. Auch Freundeskreis, Hobbies, Kleidung, Wohnungseinrichtung, politische Haltung werden vornehmlich nach "Erfolgs"-orientierten Maßstäben gewählt und gestaltet. ("Erfolg", daran sei noch einmal erinnert, misst sich allein im erworbenen Vermögen. Auch Macht ist Mittel zum Zweck "Vermögenserwerb".)
Entfremdung und Selbstentfremdung gehen Hand in Hand.

Dass die Denkweise der "Schönen Neuen Welt" schon längst in der politischen Praxis angekommen ist, verrät der Umgang mit den alt gewordenen Mitmenschen. In Huxleys Roman werden die Menschen bis etwa zum 65. Lebensjahr optimal gesund und "jung" erhalten. Danach setzt der beschleunigte körperliche Verfall ein. Da auch die Angst vor dem Tod durch Konditionierung beseitigt wurde, sind die alten Menschen gern dazu bereit, sich freiwillig töten zu lassen.
Ansätze, die deutlich in diese Richtung gehen, gibt es bereits. Die "demographischen Probleme", von denen seit einigen Jahre so viel die Rede ist, sind jedenfalls perfekt gelöst! Kinder werden je nach Bedarf erzeugt und unproduktive Rentner gibt es, dank des Todes zwischen dem 65. und 70. Lebensjahr, auch nicht.

Das "enthumanisierte" Menschenbild ist keine Spezialität des "Neoliberalismus", auch wenn ein ungehemmter Kapitalismus ihm Vorschub leistet. Das "Unwort des 20. Jahrhunderts" war nicht von ungefähr "Menschenmaterial". Dieses unmenschliche Menschenbild gedeiht generell dann besonders "gut", wenn in einem Gemeinwesen autoritäre oder sogar totalitäre Formen der Machtausübung mit einer hochentwickelten Industrie, entsprechend effizienten Mittel der Informationsverarbeitung, kapitalistischen Vorstellungen von "Effizienz" und Erfolg, und die Vorstellung eines Wohlfahrtsstaats, der für Leistung auch Gegenleistung in Form von Gehorsam fordern darf, zusammenkommen. Dem Stalinismus und dem Maoismus "mangelte" es, obwohl die Systeme eher staatskapitalistisch als sozialistisch waren, an der "kapitalistischen Effizienz", Ausbeutung erfolgte vorwiegend auf "altmodische" Art und Weise durch Gewalt von außen - und Mao mangelte es auch an den technischen Mitteln. Deshalb wurden diese relative langlebigen mörderischen Systeme, die einen jeweils einen großen Teil der Weltbevölkerung unterjochten, von einem glücklicherweise kurzlebigen und im auf Teile Europas beschränkten System bei weitem in den Schatten gestellt: Dem deutschen Nationalsozialismus. Da kamen alle Faktoren - totalitäre Machtausübung, hochentwickelten Industrie, effiziente Mittel der für Propaganda, Verwaltung, Nachrichtenwesen und kapitalistischen Vorstellungen von "Effizienz" einschließlich Selbstausbeutung zusammen - und der "fürsorglich bevormundende" Wohlfahrtstaat nach NS-Lesart. Die "Fusion" aus "Monopolkapitalismus" (einen Kapitalismus ohne funktionierende Märkte) und "Volksgemeinschaftsideologie" - einer Art "(Pseudo-)Sozialismus nur für Herrenmenschen" enthumanisierte das Menschenbild schneller und gründlicher, als sich das Huxley wenige Jahre zuvor auch nur vorstellen konnte. Wie Ralf Giordano in "Die Zweite Schuld" bemerkte, erstreckte sich die "Enthumanisierung" bei den meisten Deutschen (noch) nicht auf die persönlichen Sphäre - was übrigens von NS-"Größen" wie Himmler als erhebliche Schwäche gesehen wurde: "Jeder" würde den oder den "anständigen" Juden kennen. Optimal im Sinnes des NS-Untertanenverbandes wäre ein Deutscher, der jeden, der nicht "dazugehört" auf Befehl ohne mit der Wimper zu zucken umbringt. Oder der, wenn er alt oder schwer krank geworden ist, ohne Zögern in seine "freiwillige" Tötung einwilligt.

Tatsächlich ähneln sich die Vorstellungen von "Großdeutschland nach dem Endsieg" und Huxleys "Schöner neuen Welt" in mancherlei Hinsicht. Für alle in meiner oben stehenden Auflistung angeführten Merkmale der "Schönen neuen Welt" gibt es ein ziemlich genaues Gegenstück in den "Endsiegs-Utopien". ("Ziemlich genau", denn der ausgeprägte Hedonismus der "Schönen neuen Welt" war den Nazis als "dekadent" verpönt.)

Und - wohin gehen wir?
Ich sehe, mit Foucault, seit der "industriellen Revolution" eine Art "Systemdarwinismus" am Werk, d. h. Systeme (Staaten, Organisationen, Konzerne) denen es gelingt, die Produktivität zu steigert als auch die Kosten für Herrschaft zu reduzieren, setzen sich gegenüber anderen Systemen zwangsläufig durch. (Beispiel: "Sieg" des "kapitalistischen Westens" mit seiner hohen Produktivität und ohne den "Ballast" eines Unterdrückungsapparates über den "real existierenden Sozialismus" im "Ostblock".)
Foucault erkannte dabei auch, dass eine Kontrolle, bei der die "Kontrollinstanz" in den Kopf des Untertans verlegt ist, sehr viel effizienter ist als jede Form der Kontrolle von Außen.
In "Überwachen und Strafen" nannte er das "Panoptikum", ein Gefängnis, in dem der Gefangene sich nie sicher sein kann, dass er im Moment nicht überwacht wird, als ein Mittel, die Kontrollinstanz nach "innen" zu verlegen. Eine anderes Mittel der "Zurichtung" liegt in der Erziehung. Ist es nicht erstaunlich, dass unsere Schule Sechsjährigen genau das zumutet, was Sechsjährige erfahrungsgemäß am wenigsten mögen, nämlich stillsitzen und zuhören?
Die "Zurichtung" ist dann perfekt, wenn sich ein Mensch "freiwillig" selbst zurichtet, sich z. B. wie oben geschildert, für die "Karriere" optimiert. ("Doping" in Form von Arzneimittel- und Drogenmissbrauch eingeschlossen. Und der zahlenmäßig wichtigste Grund sich einer Schönheitsoperation zu unterziehen, dürfte das Streben nach beruflichem Erfolg sein, nicht nur bei Models und Schauspielern.)

Mein Fazit daraus:
- Kapitalismus ist nur dann mit einem menschenwürdigen Dasein vereinbar, wenn es a) funktionierende Märkte gibt und b) Demokratie herrscht - die bis in die Unternehmen hinein reicht.
- Das Bündnis zwischen "Big Business" und "Big Gouverment" ist zu bekämpfen. Am besten, es gibt weder das eine noch das andere.
- Sozialleistungen wie Arbeitslosengeld (eigentlich eine Versicherungsleistung!) dürfen nicht an Bedingungen geknüpft werden, die die Freiheitsrechte des Einzelnen faktisch einschränken.
- Jede Gesellschaft ist für den Einzelnen da und hat ihm zu dienen, nicht umgekehrt. Das schließt nicht die moralische Verpflichtung des Einzelnen aus, sich um das Gemeinwohl zu kümmern, im Gegenteil! Aber dieser Gemeinwohl muss in der Summe des Wohls der Einzelnen liegen, nicht in einer abstrakten Staatsraison. Statt "Gemeinnutz geht vor Eigennutz" Hilfe auf Gegenseitigkeit.
- Jeder Versuch, den Menschen und seine Eigenschaften auf seine Biologie zu reduzieren, ist mit großem Misstrauen zu begegnen.
Björn (Gast) - 2. Dez, 15:27

Wieder ein schöner Text, weshalb es mir peinlich ist schon wieder zu klugschwätzen. Aber das Wort heißt "Dystopie" ohne "r". Ansonsten, wie gesagt, mal wieder ein sehr lesenswerter Text. Besonders da ich BNW in vielerlei Hinsicht für veraltet und nicht mehr tagesaktuell halte, ist es nett mal eine Gegensicht vorgesetzt zu bekommen.

MMarheinecke - 2. Dez, 17:26

Es sind sogar noch mehr Tippfehler drin

Wobei "Dystropie" kein klassischer "Tipo" ist, sondern auf das stumme norddeutsche "r" ("maaschiärn" statt richtig "marschieren") zurückzuführen sein wird - ich bin mir bei ungebräuchlichen Wörtern nicht sicher, ob da richtigerweise nicht doch ein "r" reingehört, das ich beim Sprechen unterschlage ... ;-)

Ob Brave New World veraltet ist? Es ist eher ein Klassiker. "The Time Machine" von H. G. Wells ist auch in gewisser Hinsicht überholt, weil der Roman z. B. auf die Klassenstruktur im Victorianischen England anspielt - ist aber andererseits "zeitlos". Ich hätte auch modernere Dystopien anführen können, hätte dann aber das Problem gehabt, dass man sie außerhalb der Science Fiction-Fangemeinde zu wenig kennt. "Brave New World" gehört dagegen sozusagen zum "bildungsbürgerlichen Kanon", weshalb Houellebecq (ich hoffe, ich habe den Burschen richtig geschrieben) ihn ja auch in seinem in Richtung "Kulturschickeria" schielenden Roman "Elementarteilchen" aufgegriffen hat. Außerdem sind viele Dystopien der 1960er bis 1980er Jahre gesellschaftlich und technisch weitaus "überholter" als "Brave New World". Andere, die z. B. aus dem Bereich "Cyberpunk" stammen, sind dagegen den heutig absehbaren Trends zu nahe, um daran Grundsatzdiskussion anknüpfen zu können. Außerdem ist "Brave New World" die früheste Dystopie auf biotechnischer und psychotechnischer Grundlage, und es sieht ganz so aus, als ob die z. B. die Gentechnik jene Technik ist, die nach der "mikroelektronischen Revolution" die nächste "industrielle Revolution" tragen könnte. So, wie Psychotechnik einschließlich manipulativer Psychopharmakologie - geboren aus neuen Erkenntnissen der Neuropsychologie - die "weiche Schlüsseltechnologie", das "Herrschaftswissen" von morgen sein könnte.

Der Grund, weshalb ich "Brave New Word" herausgesucht habe, ist, dass der Roman tatsächlich fast alle Elemente eines "stabilen" Totalitärismus enthält. Systeme wie in "1984" oder die "Konzernherrschaft" in manchen Cyberpunk-Romanen sind "von Natur aus" instabil, es gibt Klassen- und Interessengegensätze, die die zementierte Herrschaft aufbrechen. Hingegen könnte das System von "Brave New Word" allenfalls durch Naturkatastrophen oder ähnliches erschüttert werden, denn (fast) alle Menschen sind zufrieden und selbst die "Herren" sind genau so "programmierte" und "gezähmte" Systemsklaven wie alle anderen Menschen auch. Und es gibt kein "außen", wie im Falle der ebenfalls sehr stabilen Systeme des alten Ägyptens und des Chinas bis zur Sung-Dynastie, die durch Invasionen "aus dem Takt gebracht" wurden.
Mich hat außerdem verblüfft, wie nahe die z. B. in Giordanos "Wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte" geschilderten "Endsiegs"-Phantasien der Nazis den Verhältnissen von "Brave New World" kamen. (Abgesehen davon, dass Hitler, Himmler und auch Bormann "Härte" also Gewalt (Härte gegen andere) und Askese (Härte gegen sich selbst) als "Wert an sich" begriffen, und einen "schöne neue Naziwelt" deshalb weniger komfortabel und im Alltag gewalttätiger wäre als "Brave New World". Dass sich z. B. Himmler die "Arierzucht" nicht nach dem Modell "Babyfabrik" sondern dem eines "Gestüts" vorstellte, ist nur ein Detail, entscheidend sind die Vorstellungen von Menschenzucht und biologisch begründeter Kastengesellschaft.)
Wirr-Licht - 3. Dez, 09:44

verständlich

ich sehe das ähnlich. nicht, das das ganze zwangsläufig in eine "schöne neue welt" mündet, aber ansätze sind erkennbar. allerdings halte ich auch eine gibson - artige (nein, nicht shadowrun, sondern eher wie in neuromancer oder "inseln im netz" von bruce sterling) zukunft für stabil, denn in theoretischen ansätzen sind eben nicht nur kooperative spieltheoretische, sondern auch konkurrierende systeme (beispiel: räuber-beute-modelle) stabil. im spieltheorie - ansatz wird leider nicht bedacht, das man seinem "mitgefangenen" (gefangenendilemma) eben auch seinen gewinn abnehmen kann, das man sich ausbeuterisch verhält und austausch auch auf nicht-freiwilliger basis stattfindet.

Atta (Gast) - 3. Dez, 16:48

Hm, das ergibt dann wohl insgesamt brave new world order...

Und da ich gerade erstaunt feststelle, dass ich anscheinend auch als twoday-Nichtmitglied kommentieren kann:
Kompliment zu Deinem Blog! So kluge und reflektierte Betrachtungen liest man sonst selten, schon gar nicht in dieser Regelmäßigkeit.

greets
Atta

creature - 3. Dez, 17:46

ein guter und gelungener beitrag der zu denken gibt, ich sehe und befürchte, deine beschriebenen szenarien und vieles davon scheint wie ein ungeliebtes alien bereits sein ei verlassen und seine ersten schritte tuend um unser aller leben zu beinflussen.
was kann man da tun, bitte liebe menschen, denkt mehr selbst und nehmt nicht alles als gegeben hin!

Aurisa - 3. Dez, 17:58

Also ich gehöre ja nicht zu den Anhängern von Verschwörungstheorien... ich glaube auch nicht, daß das Ende der Welt nahe ist... oder daß sowieso alles sinnlos ist und wir Menschen uns zwangsläufig selbst auslöschen werden...
Aber ich bin auch weder blind noch blöde... und habe eine rege Phantasie... und wenn ich mir so ansehe, welche Zukunfszenarien uns blühen könnten (NICHT müssen!)... da wird mir oft schon ganz anders...
Noch vor ein paar Jahren habe ich mir keine Sorgen gemacht, daß unser Staat mir irgendwas böses wollen könnte...
Aber bei den derzeitigen politischen Tendenzen sehe ich doch auch immer mehr eine schleichende 'totalisierung' unseres Staates... und wenn das so weiter geht, dann könnte es in nicht allzu ferner Zukunft vorbei sein mit Freiheit und Demokratie...
Was werden wir wohl eines Tages unseren Kindern oder Enkeln sagen, wenn sie uns irgendwann fragen, was wir getan haben um das zu verhindern...?
Viele Grüße
Aurisa

atta troll (Gast) - 3. Dez, 23:03

Ja Aurisa,
mich hat die Erkenntnis auch sehr geschockt, dass Freiheit und Demokratie nicht selbstverständlich ist. Ich bin ja damit aufgewachsen und dachte, es wäre ein Optimalzustand, denn man nun auf Dauer erhalten wolle. Aber möglicherweise lebten wir hier bisher nur eine Art Insel der Seligen im Windschatten des Kalten Krieges.
Da das Grundgesetz dem "nie-wieder"-Impuls nach den Schrecken des Dritten Reiches entsprang, hat man eigentlich schon versucht, es möglichst weit gegen totalitäre Vorstöße abzusichern. Aber das reicht halt nicht, wenn die Menschen, die damit zu tun haben, es schlicht aushebeln und niemand dagegen aufsteht.
Da habe ich schon Angst, dass, wenn man die Leute nur ausreichend unter Angsthypnose setzt, der Ruf nach einem starken Staat, der Sicherheit verspricht, überlaut wird. Und zum Aufbau von Druck auf den einzelnen gibt es ja nicht nur ominöse Terrorwarnungen, sondern auch die Drohung mit Arbeitslosigkeit etc. pp, die nahelegt, man solle sich doch anpassen und "lebenslaufoptimieren". Und vor allem kann vieles unwidersprochen durchgehen, wenn man es scheibchenweise macht. Ist ja bloß eine kleine Verschlechterung...
Leider fürchte ich inzwischen, dass John Adams, einer der Begründer der amerikanischen Verfassung, recht hatte, als er sagte: "Bedenkt, Demokratie hält niemals lange an. Bald schwindet sie dahin, erschöpft sich und bringt sich schließlich selbst um. Es gibt keine Demokratie, die nicht irgendwann Selbstmord verübt." Und ich glaube, dass es weniger Verschwörungen sind, sondern vielmehr Machtgier einerseits und Trägheit andererseits (also ganz normale menschliche Schwächen), die die Demokratie gefährden.
Nur: wie könnte wohl die geeignete Umsetzung von Artikel 20 GG aussehen? Außer bei einigen Aktionen wie der hier https://www.vorratsdatenspeicherung.de/content/view/51/70 mitzumachen, fällt mir nicht wirklich was ein.
LG
atta
Boche (Gast) - 4. Dez, 10:54

Ich sehe, dass ich viel zu selten hier vorbeischaue... Schöner Beitrag!

Ich war auch immer der Ansicht, dass Huxley im Zweifel die beängstigerende, weil realistischere und dauerhaftere Hölle auf Erden gezeichnet hat, als der Realsozialismus-Kritiker Orwell. Allerdings bin ich optimistischer geworden. Die Gegentendenzen scheinen mir zu offensichtlich zu sein (ich rede jetzt nur von der westlichen Industriegesellschaft):
Die Globalisierung sorgt dafür. dass der Staat schwächer wird. Menschen, Ideen und Waren überschreiten einfacher alle Grenzen und entziehen sich damit stärker den lokalen Herrschern als früher. Das Bündnis zwischen Big Business und Staat wird damit schon auf einer der beiden Seiten machtloser.

Das Big Business wiederum ist (meist, natürliche Monopole mal ausgenommen, aber selbst die halte ich für überschätzt) nur dann Big Business, wenn es von staats wegen dazu gemacht wird. Die Liberalisierung d.h. die Entstaatlichung der Wirtschaft wie auch die Globalisierung und damit der schärfer werdende Wettbewerb bewirken aber ebenfalls, dass Big Business machtloser wird. Welches Unternehmen hätte denn heute in Deutschland noch wirkliche Macht? Bahn und Telekom fallen doch aus. Erstere, weil es mit dem Auto die Alternative gibt. Letztere dankenswerter Weise wegen des nach der Privatisierung eingesetzten Wettbewerbs. Der Post steht das Gleiche bevor. Große Pharmaunternehmen? Deren MAcht neutralisiert sich doch ebenfalls durch Wettbewerb. Bleiben vielleicht die Energieversorger.
Nein, ich kann nicht erkennen, wo der zweite Part am Doppelgestirn des von dir befürchteten Verderbens, woraus das Big Business seine Macht schöpfen sollte. Viele der heute Großen können morgen schon von der Bühne verschwunden sein: Diverse Medien- und Musikunternehmen, Google, selbst Microsoft - deren ganze Macht ruht auf den wackligen Füßen derzeitigen Technologiestands und den doch sehr wankelmütigen Vorlieben ihrer Kunden.

Zu Foucaults Thesen, die du darstellst: Das nach Innen legen der Überwachung, Kontrolle und Strafe ist ja nichts viel anderes als das, was bei Freud die Entwicklung des Über-Ich durch Internalisierung äußerer Autorität (des "Vaters"=) darstellt. Man muss da aber nicht pessimistisch stehen bleiben. Denn bei Freud ist das Über-Ich nur eine Komponente der Persönlichkeit. Die vom Ich berücksichtigt wird, aber nicht mit ihm identisch ist.
Der darin liegende Hoffnungsschimmer ist, dass der Individualismus eben doch stärker ist als alle internalisierte Kontrolle. Und bei aller Kritik an vielerlei grassierender Kritiklosigkeit wage ich doch zu vermuten, dass die Menschen heute im Großen und Ganzen selbstbewusster und im guten Sinn egoistischer sind als gestern.
Was aber einen Foucault bzw. einen Foucault-Adepten (dich meine ich damit nicht) sicher schmerzt: Die Menschen begeistern sich nicht nur nicht mehr für obrigkeitlich vorgegebene Ideale. Sondern auch nicht mehr für die klassenkämpferischen oder gesellschaftskritischen Theorien der Postmoderne.

Zu deinem Fazit:

- Kapitalismus ist nur dann mit einem menschenwürdigen Dasein vereinbar, wenn es a) funktionierende Märkte gibt und b) Demokratie herrscht - die bis in die Unternehmen hinein reicht.

Funktionierende Märkte sind meines Erachtens Märkte mit möglichst optimaler Informationslage bei Anbieter und Nachfrager. Und es sind vor allem Märkte, die nicht durch staatliche Macht zugunsten einzelner Teilnehmer auf Anbieter- oder Nachfrageseite verzerrt werden. Demnach braucht es ein Mehr an Liberalisierung und Privatisierung.
Demokratie in Unternehmen halte ich für Unsinn. Unternehmerische Entscheidungen dem Mehrheitsprinzip zu unterwerfen, bringt m.E. keinen Vorteil. Vor allem dann nicht, wenn die Entscheider nicht auch Eigentümer sind.

- Das Bündnis zwischen "Big Business" und "Big Gouverment" ist zu bekämpfen. Am besten, es gibt weder das eine noch das andere.

Siehe oben: Ich halte die Gefahr für überschätzt und Liberalisierung wie Globalisierung als die besten Mittel, um mögliche Auswüchse in diese Richtung zu bekämpfen.

- Sozialleistungen wie Arbeitslosengeld (eigentlich eine Versicherungsleistung!) dürfen nicht an Bedingungen geknüpft werden, die die Freiheitsrechte des Einzelnen faktisch einschränken.

Eine Privatisierung dieser Versicherungen behebt dieses Problem. Der Staat wird den beim Geldeintreiben angewandten Zwang immer beim Ausgeben weitergeben. Und er kann es vor allem dann, wenn sein Angebot ein Monopolangebot ist. Merke: Wenn man "sozial" agiert, degradiert man den Empfänger automatisch zum Bettler. Es folgt praktisch von allein, dass bei nun einmal begrenzten Mitteln dieser Empfänger dann auch entsprechend schikaniert wird. Die Lösung kann eben nur sein, dass man möglichst viel "soziale" Leistungen auf das privatwirtschaftliche Niveau hebt. Weil nur dieses dadurch definiert ist, dass da zwei Vertragspartner auf Augenhöhe agieren. Auf Augenhöhe, weil freiwillig. Wenn ein möglichst freier Markt existiert.

- Jede Gesellschaft ist für den Einzelnen da und hat ihm zu dienen, nicht umgekehrt. Das schließt nicht die moralische Verpflichtung des Einzelnen aus, sich um das Gemeinwohl zu kümmern, im Gegenteil! Aber dieser Gemeinwohl muss in der Summe des Wohls der Einzelnen liegen, nicht in einer abstrakten Staatsraison. Statt "Gemeinnutz geht vor Eigennutz" Hilfe auf Gegenseitigkeit.

Den ersten Satz unterschreibe ich, wenn du aus "Gesellschaft" "Staat" machst. Die Gesellschaft selbst ist meiner Ansicht nach die Summe der Einzelnen (die sich zueinander so oder so verhalten). Und dieser Summe sollte man besser keine Aufgaben zuschreiben. Das geht nämlich nur auf Kosten des Individuums. (Dass die Summe der Einzelnen dem Einzelnen dient, ist dann sowieso ein Paradox. Beziehungsweise eine Gleichung, in der sich alles "wegkürzt", wie Lieschen Müller in der Mathematik sagt.)
Was die moralische Verpflichtung des Einzelnen angeht, lese ich auch lieber Selbst- als Fremdverpflichtungen.

- Jeder Versuch, den Menschen und seine Eigenschaften auf seine Biologie zu reduzieren, ist mit großem Misstrauen zu begegnen.

Richtig.

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