Siegfried, die deutsche Seele und die dunkle Seite der Macht

Joachim Fernau stellte 1966 in seinem Buch "Disteln für Hagen" folgende - für mich erschreckende - Prognose:
Das Bild, das vom "Helden" in der Seele der Deutschen besteht, beschließt am Ende stets der "Dolchstoß", der Verrat gerade an jener Eigenschaft, die die deutscheste sein soll, an der Treue. Um ein Mythos zu werden, muß eine Gestalt so enden.
Und so endete auch tatsächlich der letzte hybride Recke der Deutschen: Hitler. Er wird ein Mythos werden, ob wir wollen oder nicht. In wenigen Generationen wird des soweit sein: Er wird aus "Xanten" stammen, er wird den Drachen erschlagen haben, er wird der Sieger der Sachsenkriege gewesen, er wird durch einen Hagen gefällt, und das Reich wird durch die Hunnen zerstört worden sein. Wir mögen ihn hassen und lächerlich machen – es wird korrigiert werden. Wüßte ich einen Rat dagegen, ich würde ihn geben. Aber es gibt keinen.“
Oder anders ausgedrückt: Joachim Fernau, der geistreiche politisch Erzkonservative, der glühende Patriot, der Skeptiker gegenüber Demokratie (und der offenen Gesellschaft), der Anti-Amerikaner, Ex-Nazi-Kriegspropagandist und gelegentliche Philosemit - sah keinen Rat gegen die ja tatsächlich zu beobachtende Mystifizierung Hitlers. Der die Dämonisierung wie die Tabuisierung noch Vorschub leisten.
Fernau analysierte in seinem Buch - das ich heute nach vielen Jahren wieder las - nicht nur das Nibelungenlied, sondern anhand dieses Mythos auch den "Nationalcharakter" der Deutschen. Er tat es mit viel Sarkasmus und einigem Geist - und wie ich finde, treffsicher.
Der Aufstieg der Nazis und die Besonderheit ihres Regimes gegenüber anderen Formen des Faschismus haben viel mit der deutschen Mentalität zu tun - auch wenn ich die Existenz eines "Nationalcharakters" energisch bestreite. Ja, und in Umrissen sind einige Teile dieser "typisch deutschen" Mentalität schon im hochmittelalterlichen Nibelungenlied zu finden - ich vermute, weil es zur selben Zeit entstand, in der die "Ethnogenese" der Deutschen ablief. Vor dem Hochmittelalter gab es nämlich noch kein "deutsches Volk" - so, wie es vor 1871 noch keinen deutschen Nationalstaat gab.

Jemand, der kein Deutscher war, fand ein Mittel Hitler auf Lebensgröße zurechtzustutzen, seine "Magie" zu bannen: Charlie Chaplin. Er machte Hitler in "Der große Diktator" nicht im typischen Sinn lächerlich - er entlarvte ihn mit dem Mittel der Parodie. Während andere Formen der antifaschistischen Propaganda den Nazis immer noch "geistige Energie" zuführten und zuführen - in Form von Hass, oder indem ihnen Macht zugeschrieben wird - schnürt das Mittel des treffenden Spottes ihnen "Energie" ab. Es ist fast wie bei der "dunklen Seite der Macht" in Star Wars - Hass und Angst stärken die dunkle Seite, Schuldzuweisungen erst recht - während Lachen bannt und Weinen, aufrichtige Trauer, reinigt.
Lachen ist tatsächlich eines der wirksamsten Werkzeuge des schamanischen Heilers. Ein guter Schmane handhabt es wie ein guter Chirurg sein Skalpell. Ein Skapell gegen die Geschwüre der Seele.

Der zweite Ansatz ist, dass Bild "der Deutschen" vom Helden zu korrigieren. Vom Helden, der wie Siegfried so vollkommen ist, dass er "eigentlich" unbesiegbar ist. Die Niederlage ist dementsprechend nur durch Verrat oder Verschwörung denkbar. Nicht durch das Versagen des "deutschen Helden" - oder der "im Felde unbesiegten" deutschen Armee.

Interessanterweise wies Fernau selbst einen möglichen Ausweg aus dem von ihm skizzierten Problem.
Die "Diagnose":
Wenn das Leben brodelt und kocht, zuckt und schillert, dampft und stinkt, dann befällt unser Herz Beklemmung und Scham. Die deutsche Seele ist unfähig, auf dem Misthaufen des Lebens - und das Leben ist ein dampfender Misthaufen - zu blühen. "Makel" ist für sie etwas tödliches. Sie kann ihn nicht bewältigen, nicht belächeln, nicht verstehen, nicht verzeihen. Er hat die Wirkung von Rauhreif.
... und ein "Therapieansatz":
Der Siegfried der Ursage war kein Baldur; sein Bild hatte Flecken, er war einer von uns Allzumenschlichen. Bei den romanischen Völkern ist der Held auch heute noch so.
Der Ausweg heißt: Lernen, mit Ambivalenzen umzugehen.
In anderen Kulturen kann man das ja auch.

Fernau ist für mich ein ambivalenter Autor, ich könnte ihn für seine Texte zur gleichen Zeit küssen und ins Gesicht spucken. Deshalb sind sie, auch Jahrzehnte nachdem sie geschrieben wurden, so lehrreich.
Pil (Gast) - 7. Apr, 11:22

Interessante Sichtweise. Ich habe ihn nie gemocht, den Sigfrid, und ich mag auch die heute lebenden Klein-Sigfride nicht. Sie sind mir zu perfekt, zu makellos, zu flach...

Ob es einen deutschen Nationalcharakter gibt, der ins Mittelalter zurückgeht? Glaube ich nicht. Die Erfindung und Durchsetzung einer einheitlichen deutschen Kultur fand später statt - unter Ausschluss der Schweizer, Niederländer und Elsässer, die da schon nicht mehr zum Imperium Sacrum gehörten. Weshalb die kulturellen Barrieren zwischen dem heutigen Deutschland und seinen westlichen Ablegern bis heute höher sind, als mancher meint.

Vielleicht spricht Fernau ja gar nicht vom Siegfried des Nibelungenlieder - der zuersteinmal ein Ritter ist - sondern von jenem der deutschen Nationalromantik. Und da trifft er wohl ins Schwarze: Der Umgang mit Ambivalenz, bei den Romanen so selbstverständlich, fällt dem Deutschen scheinbar schwer. Bestes Beispiel ist tatsächlich der Nationalsozialismus. Seine Protagonisten dürfen niemals ambivalent dargestellt werden. Sie sind das Böse, das jederzeit wieder hervorbrechen kann, sobald man es nur "relativiert".

Dass auch Verbrecher schöne Lieder schreiben, Lügner manchmal die Wahrheit sagen, dass bisweilen Helden nur aus niederen Motiven handeln und manche Menschen Opfer und Täter in einem sind - all das, was für einen Italiener ganz selbstverständlich zum tragikomischen Charakter des Lebens gehört, kann und darf der Deutsche nicht denken.

Und so bleibt die Faszination des "Schwarzen Ordens", der "braunen Massen" und der "Todesengel" ungebrochen. Man kann sie immer noch jeden Tag im TV sehen, als Anhänger eines bizarren, finsteren Kults, als Gläubige, schreckenerregende Krieger, Trommler, unterlegt mit dunkler Musik und angstvoll gewisperten Kommentaren. In manchen Subkulturen sind sie schon Kult...

Erschreckend? Schon wieder so ein raunendes Wort. Vielleicht hilft da nur eines: Angelsächsischer Zynismus.

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