9. November - Tag der deutsche Lügen und Legenden

Heute ist der 9. November. Wie kein anderer Tag ist er geeignet, an die deutsche Geschichte zu erinnern. Denn er ist das Datum, in dem im 20. Jahrhundert in Deutschland Geschichte gemacht wurde. Trotzdem ist das Datum 9. November kein geeignetes Datum für einen Nationalfeiertag, ein nationales Jubelfest. Denn zwei der der vier wichtigen Ereignisse sind Tiefpunkte der deutschen Geschichte, der Hitler-Ludendorf Putschversuch 1923 und die antisemitische Pogrome ("Reichskristallnacht") von 1938. Die beiden anderen Ereignisse - Ausrufung der Deutschen Republik 1918 und Öffnung der Berliner Mauer 1989 - sind ambivalent.

Um den 9. November ranken sich viele Legenden. Legenden im Sinne historisch nicht haltbarer, aber gern geglaubter, Erklärungsmuster. Die meisten dieser Legenden sind nicht spontan entstanden, sondern das Produkt bewußter Propagandalügen.

Die erste Legende ist die vom "Schicksalstag der Deutschen", durchaus auch im Zusammenhang mit astrologischen (eher harmlos) und verschwörungstheoretischen (eher gefährlich) Spekulationen. Ob Konrad der I. wirklich als der erste "deutsche Kaiser" anzusehen ist, ist Ansichtssache. (Zumal er ja nie zum Kaiser gekrönt wude.) Ob er wirklich am 9.11. 911 zum König des vormaligen Ostfrankenreichs gewählt wurde, ist fraglich.
Das zweite "magische Datum" liegt schon in der jüngeren Vergangenheit, es ist der Mord am Abgeordneten der Nationalversammlung Robert Blum in Wien 1848. Sie soll den Anfang vom Ende der "Märzrevolution" in den Staaten des Deutschen Bundes markieren. Tatsächlich war der Mord an Blum eher Folge als Auslöser, schon gar nicht Ursache, des Scheiterns der Revolution. Man könnte zahlreiche Daten herausgreifen, ab denen es "mit der Revolution bergab" ging.
Die Geschehnisse von 1923 bauen bewußt auf auf denen von 1918 auf, der Putsch war als Revanche der Nazis für die Novemberrevolution geplant. Die antisemitischen Pogrome von 1938 wurde anläßlich der Feierlichkeiten zum 15. Jahrestag des Hitler-Ludendorf-Putschversuches inszeniert.
Rein zeitlich gesehen sind die Ereignisse von 1918 und 1989 zufällig, allerdings waren sie selbst keine "Zufallsprodukte".

Karl Liebknecht, 1918
Karl Liebknecht im Berliner Tiergarten, 11. November 1918
Um die Novemberrevolution von 1918 ranken sich so viele Legenden und Propagandalügen, dass ich sie in einem Blogartikel nicht einmal aufzählen kann. Historisch wichtig ist vor allem die "Dolchstoßlegende", die besagte, das deutsche Heer sei im Ersten Weltkrieg "im Felde unbesiegt" geblieben (es stand Ende 1918 in einer militärisch völlig ausweglosen Notlage - nur durch Kapitulation konnte eine Besetzung Deutschland durch allierte Truppen abgewendet werden) und hätte durch die Novemberrevolution von 1918 einen "Dolchstoß von hinten" , also aus der Heimat, erhalten. Eine andere, folgenschwere Legende ist die, dass die Deutschland kurz davor stand, eine Räterepublik nach russischem (sowjetischen) Vorbild zu werden. Diese Legende wird – unter jeweils umgekehrten Vorzeichen - sowohl von der politischen extremen Linken (Kommunisten und Post-Kommunisten) wie von der Rechten (bis weit in "gutbürgerlich-konservative" Kreise hinein) bis heute gepflegt. Bei genauerer Betrachtung wurde eine von Sozialdemokraten getragene revolutionäre Bewegung von den sozialdemokratischen Politikern aufgrund einer (blamablen) Fehleinschätzung und fehlender politischen Moral niedergeschlagen.

Um die organisierten antisemitischen Pogrome 1939 gibt es eine Legende um die Bezeichnung "Reichskristallnacht". Sie sei abzulehnen, weil das der offizielle Euphemismus der Nazis gewesen sei. Das stimmt nicht. Es ist zwar eine böswillig-verharmlosende Bezeichnung, die in der Geschichtsschreibung nichts zu suchen hat und in der politischen Diskussion allenfalls in anti-antisemitischen Polemiken legitim ist. Es ist eine "volkstümliche" Bezeichnung aus der damaligen Zeit, kein offizieller Nazi-Euphemismus - denn der Begriff legt ja nahe, dass der angebliche "spontane Aufstand aus Volkswut gegen die Juden" organisiert und "von oben" angeordnet war. Eine verräterische volkstümliche Bezeichnung, denn sie weißt nicht nur darauf hin, wie wenig offiziellen Propagandabehauptungen geglaubt wurde, sondern auch auf eine fatale Verharmlosung - als ob wirklich nur Fensterscheiben jüdischer Geschäfte eingeworfen worden wären.
Tatsächlich gibt es kaum ein historisches Ereignis in der deutschen Gesichte, in dessen Umfeld es so viele und so infame Lügen gibt, wie um die Novemberpogrome. Eine besonders hartnäckige Lüge sind die bewußt verharmlosenden Zahlen über die Opfer in Folge des 9.11.1938, die sich bis in heutige Geschichtsdarstellungen gehalten haben - hierzu: shoa.de Die "Kristallnacht"-Lüge. Ebenfalls auf shoa.de zu finden ist eine Darstellung der Inzenierung hinter den "spontanen Unruhen": Die Pogromnacht am 9./10. November 1938.

Selbst um den historisch erst relativ kurz zurückliegenden und sehr gut dokumentierten Fall der "Mauer" wuchern die Legenden.
Legendenhaft ist die Vorstellung von der zufälligen Verkettung von Umständen, die zur Öffnung der Grenzsperranlagen der DDR führten - der "Mauerfall" als eine Art Lottogewinn der Geschichte. Zwar haben die Umstände des Geschehens am Abend des 9. Novembers 1989 etwas Bizarres, allerdings wäre eine ähnliche Verkettung von Mißverständnissen, wie die auf und nach der Pressekonferenz mit Günter Schabowski, fast zu jedem anderen Zeitpunkt folgenlos geblieben. Umgekehrt wäre es eher früher als später für die DDR-Regierung unvermeidlich gewesen, die Grenzen zu öffnen, da eine "chinesische Lösung" unter Einsatz massiver militärischer Gewalt mangels Unterstützung durch die UdSSR nicht möglich gewesen wäre. Es war trotztdem ein Glücksfall, dass der "Fall der Mauer" völlig unblutig ablief.
Überraschend viele Menschen, auch solche, die unmittelbar dabei waren, glauben heute, am 9. 11. 1989 wäre die Mauer plötzlich "offen" gewesen. Das stimmt nicht: Die Mauer und die Grenze zur BRD wurde nach dem 9. November zunächst weiter in unveränderter Intensität bewacht - oder genauer gesagt: sie sollte so bewacht werden, in der Praxis wurde das Grenzregime immer laxer gehandhabt. In der DDR gab es damals offenbar noch die Vorstellung, das Grenzregime in irgendeiner Form auf unbestimmte Zeit weiterzuführen. Bundesbürger und West-Berliner durften erstmals am 24. Dezember 1989 ab 0:00 Uhr visafrei in die DDR einreisen; bis zu diesem Zeitpunkt hatten (auf dem Papier) noch die alten Regelungen mit Visumpflicht und Mindestumtausch gegolten.
Erst am 1. Juli 1990, dem Tag des Inkrafttretens der Währungsunion, wurden die Bewachung der Mauer und sämtliche Grenzkontrollen eingestellt.

"Stern"-Wissenstest: Der 9. November in der deutschen Geschichte
Kiwi (Gast) - 10. Nov, 13:44

Boar

obwohl ich bisher immer dachte ich hab eine gute allgemeinbildung, sind mir viele geschichtliche ereignisse doch nicht so bekannt :)

MMarheinecke - 10. Nov, 14:10

Danke für die Blumen!

Aber so viel weiß ich auch nicht - ich glaube aber zu wissen, wie man recherchiert. (Im Internet, in Büchern und im wirklichen Leben.) Als Kandidat für "Wer wird Millionär?" wäre ich nicht nur wegen meiner notorischen Prüfungsangst eher ungeeignet.

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