Antisemitismus in den Evangelien?

Wie ich weiter unten erwähnte, habe ich mir "Die katholische Kirche und der Holocaust" von Daniel Jonah Goldhagen, angestoßen durch eine Diskussion auf
B.L.O.G, erneut vorgenommen.

Goldhagen ist der Ansicht, dass die christliche Bibel (das "Neue Testament") sei in weiten Passagen ein antisemitscher Text, woraus sich eine antisemitische Grundhaltung der christlichen Kirchen ergäbe.
(...) Es ändert auch nicht an dem Schaden, den die Struktur der Bibel anrichtet, dass nämlich Juden der onthologische Feind Jesus und Gottes seien. Die Botschaft der christlichen Bibel ist dieselbe geblieben, seitdem ihr Text kodifiziert worden ist: Die Juden haben Gottes Sohn getötet, der zugleich Gott ist. An diesem Verbrechen sich alle Juden schuld. (...) Viele Religionen sind ethnozentrisch, feiern ihre eigene Gruppe, sind unduldsam gegen andere. Der Angriff der christlichen Bibel auf die Juden ist jedoch qualitativ etwas anderes. Dieser Angriff übertrifft diejenigen anderer Religionen an verleumderischen Inhalten, an Häufigkeit der Wiederholungen und an emotionaler Intensität. Die Missbilligung der Juden ist keine Äußerlichkeit der christlichen Bibel und ihrer religiösen Behauptungen und Wahrheiten. Sie ist ein konstitutiver Bestandteil des biblischen Christentums. Dieser konzentrierte biblischen Angriff auf die Juden veranlaßte Christen (..) reale, lebende Juden in einer Weise ungerecht zu behandeln und zu schädigen, die auch im historischen Vergleich mit allen anderen bedeutenden Religionen ohnegleichen ist.
(Goldhagen: Die katholische Kirche und der Holocaust, Berlin, 2002, S. 353.)

Für mich, als Neuheiden, ist Goldhagens Position verlockend. Wenn das Christentum strukturell antisemitisch ist, dann kann ich die - nicht immer sachliche - Kritik von christlicher Seite am (angeblichen) strukturellen Antisemitismus inbesondere des germanisch orientierten Heidentums (Asatrú) locker und wirksam kontern. (Den tatsächlich bei vielen Heiden vorhandenen latenten, bei "völkisch" orientierten Heiden auch offen zu Tage tretenden Antisemitismus möchte ich an anderer Stelle behandeln.)

Ohne Zweifel gibt es in der christlichen Bibel (alias "Neuem Testament") zahlreiche antijüdische Textstellen. Dass Goldhagen diese als antisemitisch bezeichnet, ist insofern legitim, da er einen Begriff des Antisemitismus zugrunde legt, der sehr radikal bzw. konsequent ist: jeder, der schlecht von Juden denkt, Animosität oder feindliche Gefühle gegen Juden hegt oder Juden hasst, nur weil diese Juden sind, oder der dem Judensein und damit den Juden insgesamt schädliche Eigenschaften zuschreibt, ist Antisemit. Eine Differenzierung zwischen antijüdisch, antijudaistisch (gegen die jüdische Religion gerichtet) und antisemitisch lehnt er als unsinnig bzw. haarspalterisch ab.
Gemäß dieser Definition ist der eigentliche Begründer des Christentums, Saulus bzw. Paulus, obwohl er sich selbst Jude war, ab dem Augenblick "antisemitisch", in dem er "die Juden" für den Tod Jesus schuldig hielt und sie verdammte, weil sie Gott nicht verstünden. Ein nicht ganz unproblematischer Standpunkt. Ich gewinne bei der Lektüre der Paulusriefe und der Apostelgeschichte eher den Eindruck, dass Paulus ein typischer "Sektierer" war, der seine von Judentum abgespaltete religiöse Sondergruppe nach Kräften sowohl gegen die "Mutterreligion" (das traditionelle Judentum) wie gegen die konkurrierende Gruppe der Judenchristen der "Urgemeinde", die sich um Jesus Bruder Jakob gebildet hatte, abgrenzte. Judenchristen waren Juden, die sich von anderen Juden im wesendlichen nur dadurch unterschieden, dass sie in Jesus den "Messias" sahen. Die Ebioniter und Nazoräer waren Judenchristen, sie galten für die entstehende "heidenchristliche" Kirche ab dem 2. Jahrhundert nicht mehr als "richtige" Christen. Die Idee, dass Jesus mit Gott wesendsgleich war, kam erst viel später auf - die "Dreieinigkeit" sogar noch später, nämlich um 300 "nach Christus".)

Goldhagen zufolge gibt es im Evangelium des Matthäus rund achtzig ausdrücklich antisemitische Verse.
(...) Es ist denn auch nicht erstaunlich, dass Matthäus zufolge ein solches Volk und seine Religion als null und nichtig überwunden, ersetzt wurden durch ein anderes. Jesus erklärt: "Darum sag ich euch: Das Reich Gottes wird euch [Juden] weggenommen werden und einem Volk gegeben werden, das die erwarteten Früchte bringt [den Christen]."
Es trifft zu, dass die christliche Kirchen den Anspruch, "die Christen" hätten "die Juden" als "auserwähltes Volk Gottes" abgelöst (Sukzessionslehre) auf diese und ähnliche Bibelstellen gründeten. Allerdings ist fraglich, dass Matthäus (der lange nach der Hinrichtung Jesus schrieb und ihn wahrscheinlich nicht kannte), das bei der Niederschrift seines Evangeliums auch meinte. Matthäus schrieb, wie die beiden anderen "Synoptiker" nämlich noch nicht von "den Juden", sondern von "den Schriftgelehrten", "den Pharisäern" usw. - erst das (eindeutig judenfeindliche) Johannisevangelium ersetzt diese Ausdrücke sehr oft einfach durch "die Juden". Da das Matthäusevangelium eindeutig "judenchristlich" ist, ist eher anzunehmen, dass es sich hier um eine innerjüdische Auseinandersetzung handelte: die Anhänger des weitgehend auf pharisäisches Gedankengut zurückgreifenden Rabbis Jesus gegen die "Altpharisäer", die sich ihrer Ansicht nach in kleinlichen Gesetzesauslegungen und vordergründiger Frömmigkeit verzettelten - wobei die "Dissidenten" (Jesus-Anhänger) heftig gegen die "Traditionalisten" polemisierten. Diese Textpassagen wurden, anders als Goldhagen nahelegt, also erst nachträglich im antijüdischen Sinne interpretiert.
Noch problematischer ist, was Goldhagen weiter unten auf derselben Seite schreibt:
Dieser Darstellung der Juden aus dem Munde eines Mannes, der als der Sohn Gottes präsentiert wird, folgt bald Matthäus' berüchtigte, fiktive Kreuzigungsszene, in der das ganze jüdische Volk die Schuld am Tode Jesus bereitwillig auf sich und seine Nachkommen nimmt, also auf die Juden aller Zeiten. War "das ganze [jüdische] Volk" das mehrere Millionen zählte, dort? Haben sie alle wunderbarerweise unisono die ihnen zugeschriebenen Worte gerufen: "Sein [Jesu] Blut komme über uns und unsere Kinder"? Wie kann jemand eine solche Szene, fünfzig bis siebzig Jahre nach dem Tode Jesus von einem Feind der Juden erdacht, der Juden als "Schlangenbrut" bezeichnet, für eine getreuliche Darstellung historischer Tatsachen halten?
Kein Zweifel, es gab und gibt Christen, die die Kreuzigungsszene genau so interpretieren - und immer noch christliche Fundamentalisten, die die Evangelien für die Darstellung historischer Tatsachen halten.
Aus dem Wortlaut des Matthäus-Evangeliums geht diese Lesart keineswegs zwangsläufig hervor - es erfordert sogar einige Anstrengungen, sie in den Text hinneinzuinterpretieren. In einer neueren, auf Genauigkeit großen Wert legenden Bibelübersetzung ("Die heilige Schrift im heutigen Deutsch", Spitzname: "die Fußnotenbibel") heißt es:
Als Pilatus merkte, daß seine Wort nichts nützten und die Erregung der Menge noch größer wurde, nahm er Wasser und wusch sich vor allen Leuten die Hände. Dabei sagte er: "Ich habe keine Schuld am Tod dieses Mannes. Das habt ihr zu verantworten". Das ganze Volk schrie: "Wenn er unschuldig ist, dann komme die Strafe für seinen Tod über uns und unsere Kinder!" Da gab Pilatus ihnen Barabbas frei. Jesus ließ er auspeitschen und gab Befehl, ihn ans Kreuz zu nageln.
Es liegt auf der Hand, dass mit "dem Volk" keineswegs "alle Millionen Juden" gemeint sein können. Gemeint ist offensichtlich eine aufgebrachte Menge sadduzäischer Juden, die einen missliebigen Kritiker ihrer religiösen Praktiken den römischen Besatzern ans Messer (bzw. Kreuz) liefert. Wobei auch das schwerlich den realen historischen Begebenheiten entspricht, aber Matthäus schrieb ja keine Chronik, sondern eine Bekenntnisschrift.

Goldhagen erkennt sehr richtig, dass die Evangelien keine historischen Texte sind. Mit den meisten modernen christlichen Theologen ist er der Ansicht, dass die Autoren der christlichen Bibel Konflikte zwischen dem sich vom Judentum zunehmend abgrenzenden frühen Christentum und dem traditionellen Judentum in die Zeit Jesus zurückverlagerten. Ebenso ist ihm darin zuzustimmen, dass die Evangelisten die Rolle der Römer und vor allem des Prokurators Pilatus bei der Hinrichtung Jesu zulasten der saduzäischen Kollaborateure (bei Matthäus) bzw. "der Juden" (bei Johannes) verharmlosen. (Aus außerbiblischen Quelle geht eindeutig hervor, dass Pontius Pilatus ein korrupter und brutaler Besatzungs-Gouverneur war, der nicht erst lange bedrängt werden mußte, um mal eben einen "Rebellen" "standrechtlich" zum Tode zu verurteilen.)
Es gibt in der Tat unzählige antijudaistische (gegen die jüdische Religion gerichtete) Stellen in der christlichen Bibel. Und es besteht auch gar kein Zweifel daran, dass der "christliche Antisemitismus" bis heute aus dem "neuen Testament" schöpft. Wenn Goldhagen aber die christliche Bibel als solche für eine antisemitische Schrift hält, die im Interesse des gedeihlichen Miteinanders zwischen Juden und Christen umgeschrieben werden sollte, dann interpretiert er diese Textsammlung meines Erachtens in ahistorischer Weise.
Chat Atkins - 20. Aug, 19:52

Diese Passagen im Neuen Testament würde ich zur normalen Konkurrenz zweier religiöser Corporations um dasselbe begrenzte Häuflein von zahlungskräftigen Gläubigen rechnen. Die Hohepriester des jüdischen Tempels waren ja allesamt auch keine Waisenknaben. Schwarze PR war beiderseits gang und gäbe - und alle Religionen sind, näher betrachtet, niemals ein erfreulicher Anblick. Die massenhaften antisemitischen Zitate der Kirchenväter - allen voran Paulus - listet Deschner in seiner "Kriminalgeschichte des Christentums, Band I" höchst illustrativ auf.

MMarheinecke - 21. Aug, 17:18

Normal ist das nicht ...

... dass sich zwei (ursprünglich fast identische - denn das Christentum fing als jüdische Sekte an) Religionsgemeinschaften einen Propagandakrieg liefern. Wobei, das ist ja der Punkt, die jüdische Seite sich frühzeitig und konsequent von ihren Seitenhieben gegen die Christen verabschiedet hatte - wahrend die anti-jüdische Gräuelpropagand von christlicher Seite immer absurdere und immer haßerfülltere Formen annahm und den "Nährboden" für den "modernen" Antisemitismus legte.
Die "Hohepriester" waren wegen ihres Machtmißbrauchs und ihrer Kollaboration mit den Römern gerade unter Juden, vor allem der zahlreichen "nicht-sadduzäischen" Richtungen, sehr umstritten. Weshalb die Anhänger dieser Richtung nach der Zerstörung des Tempels durch die Römer ( bei gleichzeitiger Toleranz für die nicht-an "den Tempel" gebundenen Formen des Judentums) zu einer winzigen Minderheit wurden.
Heute gibt es zum Glück nur noch wenige (gefährliche) Spinner, die gern den Tempel Salomons auf dem Tempelberg zu Jerusalem wiederaufbauen wollen (nach vorheriger Sprengung der El-Aksa-Moschee und des Felsendoms, versteht sich).
Deschner, dessen "Kriminalgeschichte des Christentums" ich sehr schätze, ohne seinen manchmal sehr suggestiven Schlußfolgerungen immer zuzustimmen, verfolgt ein grundsätzlich anderes Ziel mit seiner Kritik als Goldhagen. (Gemessen an goldhagenschen Maßstäben ist Deschner sogar des Antisemitismus verdächtigt, z. B. weil er seiner Kritik an der hebräischen Bibel eine Interpretation zugrunde legt, die für das moderne Judentum, von einigen Fanatikern absehen, nicht mehr relevant ist, was Deschner, aus seiner Sicht durchaus zurecht, bestreitet.) Weshalb Deschner Kritik denn auch fundamentaler ist - er würde Paulus auch dann ablehnen, wenn dieser "judenfreundlicher" gewesen wäre. Er legt Religion als solche ab. Für Goldhagen hingegen bietet das Judentum (wie übrigens auch andere Religionen) einen "moralischen Kompass", und die "heiligen Schriften" sieht er offensichtlich als moralische Leitfäden, als religiöse Gesetzes- und Lehrbücher an. Von daher ist sein bizarr anmutender Vorschlag, die christliche Bibel von antisemitischen Passagen zu bereinigen, folgerichtig. So, wie man einen Gesetzestext reformieren oder ein Lehrbuch aktualisieren kann, so kann man in dieser Sichtweise auch einem religiösen Text problematische Stellen entfernen - die Gläubigen werden sich schon danach richten.
Wobei Deschner und Goldhagen m. E. gemein ist, dass beide den "mythologischen Chrakter" der alten Texte verkennen. Aber das führt an dieser Stelle zu weit.
Rayson - 21. Aug, 23:12

Schön differenzierte Zusammenstellung! Eine, der ich zwar nicht durchgehend zustimme, der aber ihr Ansinnen, nämlich eine möglichst rationale Auseinandersetzung, deutlich anzumerken ist.

Natürlich - wer Antisemitismus so weit interpretiert wie Goldhagen, der wird im NT antisemitische Passagen finden. Allerdings wird das, und hier wird Goldhagen unredlich, kaum ausreichen, das ganze Werk als antisemitisch zu verurteilen. Schon bei Paulus, dessen Charakterisierung als den "eigentlichen Begründer des Christentums" ich hier mal en passant zurückweisen möchte, kann man bei all seiner Kritik an den Juden auch eine nach wie vor herausgehobene Stellung dieses Volkes herauslesen. Meines Erachtens lässt Paulus keinen Zweifel daran, dass die Juden am Ende tatsächlich Gottes auserwähltes Volk bleiben werden. Trotz aller zwischenzeitlichen Fehler.

Aber auch die Logik sollte eindeutig sein. Wir Christen glauben daran, dass Jesus am Kreuz sterben sollte. Und da gehört es zur gesamten Dramatik der Geschichte nun einmal dazu, dass ausgerechnet Gottes auserwähltes Volk für diese Tat verantwortlich gemacht wird. Aber nicht als Zeichen einer besonderen Schuld, sondern im Gegenteil als Zeichen dafür, dass die Gnade Gottes weder durch Geburt, noch durch eine bestimmte gesellschaftliche Stellung erlangt wird. Die Auserwählten und ihre Elite fehlen sowohl praktisch als auch theologisch, während die dummen und verachteten Sünder (z.T. Juden, z.T. auch nicht) plötzlich eine Chance haben. Das ist die eigentliche Botschaft, und sie ist nur deswegen "antisemitisch", weil sie sich gegen jede Art von Automatismus wendet, also auch gegen den, dass Juden, die die Gesetze einhalten, immer auch Gerechte vor Gott sind.

Nachtblau - 22. Aug, 23:09

Nun ja, wer das natürlich aus dem historischen Kontext reißt, könnte zu solchen Schlüssen kommen. Es ist doch aber so, dass in Wirklichkeit "die Römer" als Besatzungsmacht einen unliebsamen Zeitgenossen, der die Leute zu mobilisieren wusste (Jesus), hinrichten ließen. Auch richtig ist, dass in den Evangelien "die Juden" als Mörder Jesu hingestellt werden. Dies ist aber so zu interpretieren, als dass "die Römer" eine Religion verfolgt hätten, die erzählt, dass ihre Hauptfigur von den Römern hingerichtet wurde. Deswegen wurde aus "den Juden" der Sündenbock, und als dieser Kontext im Laufe der Jahrhunderte verlorenging, die extremen Ausschreitungen gegen Juden.

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