Staatsgläubigkeit - eine alte Tradition der deutschen Linken

Die "Staatsgläubigkeit" gilt geradezu als die "deutsche Zivilreligion" - oder ist mindestens ein wichtiger Bestandteil des Weltverständnisses der meisten deutschen Politiker und nicht weniger ihre Wähler. Das mehr oder weniger nationalistische Kreise "staatsgläubig" sind, ist, international gesehen, der Normalfall. Auch ist es relativ normal, dass "Linke", von den autonomen Linken, den Anarchokommunisten, konsequenten Marxisten und ähnlichen Gruppierungen außerhalb der etablierten Richtungen des Sozialismus und des Kommunismus abgesehen, zum Etaismus neigen.
Exkurs, zur Begriffsklärung: Etatismus (von frz. État = Staat) ist ein Überbegriff für politischen Richtungen, die dem Staat eine große Bedeutung im wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben zumessen. Nicht mehr und nicht weniger. Etaistische Systeme können autoritär bis totalitär sein, müssen es aber nicht. Der Etaismus der schwedischen Sozialdemokratie z. B. geht mit einen starken Mißtrauen gegenüber "Obrigkeiten" einher, was zu Institutionen wie dem "Ombudsmann" oder dem sehr weit reichenden Recht auf Akteneinsicht führt. Das nur, weil "Etaismus"
von Liberalen, Anarchisten und ganz besonders gern von "Libertären" (Anarchokapitalisten) als abwertendes und undifferenziertes Schlagwort gegenüber ihren politischen Gegnern verwendet wird.

Dass Sozialdemokraten und Sozialisten mehr oder weniger etaistisch sind, ist normal. Dass sie "den Staat" geradezu vergöttern, gar der Meinung sind, der einzelne Mensch sei für den Staat da, und nicht der Staat für den Menschen, ist allerdings "typisch deutsch" - zumindest auf der politisch "linken" Seite. (Die "Staatsvergötterung" des Leninismus nehme ich ganz ausdrücklich aus.) Der Glaube an "den Staat" ist hierzulande sogar ausgesprochenen Anti-Nationalisten zu finden.

Einen treffenden Kommentar zum tief staatsgläubigen, ultra-etaistischen Politikverständnis der deutschen Sozialdemokratie ausgerechnet zur Zeit der bismarkschen Sozialistenunterdrückung im stramm autoritären Kaiserreich schrieb Karl Marx.
1875 verfasste er seine berühmten "Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei", dem Vorgänger der SPD. Über das Lippenbekenntnis zum "Internationalismus" der deutschen Arbeiterpartei schrieb Marx u. A.:
In der Tat steht das internationale Bekenntnis des Programms noch unendlich tief unter dem der Freihandelspartei. Auch sie behauptet, das Ergebnis ihres Strebens sei "die internationale Völkerverbrüderung". Sie tut aber auch etwas, um den Handel international zu machen, und begnügt sich keineswegs bei dem Bewußtsein - daß alle Völker bei sich zu hause Handel treiben.
Zum Staatverständnis, das aus diesem Programm sprach, merkte Marx an:
Zunächst nach II erstrebt die deutsche Arbeiterpartei "den freien Staat".
Freier Staat - was ist das?
Es ist keineswegs Zweck der Arbeiter, die den beschränkten Untertanenverstand losgeworden sind, den Staat "frei" zu machen. Im Deutschen Reich ist der "Staat" fast so "frei" als in Rußland. Die Freiheit besteht darin, den Staat aus einem der Gesellschaft übergeordneten in ein ihr durchaus untergeordnetes Organ zu verwandeln und auch heute sind die Staatsformen freier und unfreier im Maß, worin sie die "Freiheit des Staates" beschränken.
Die deutsche Arbeiterpartei - wenigstens, wenn sie das Programm zu dem ihrigen macht - zeigt, wir ihr die sozialistische Ideen nicht einmal hauttief sitzen, indem sie, statt die bestehende Gesellschaft (und das gilt von jeder künftigen) als Grundlage des bestehenden Staats (oder künftigen, für künftige Gesellschaft) zu behandeln, den Staat vielmehr als ein selbstständiges Wesen behandelt, das seine eignen "geistigen, sittlichen, freiheitlichen Grundlagen" besitzt.
Besonders stößt sich Marx an dem "wüsten Mißbrauch, den das Programm mit den Worten heutiger Staat und heutige Gesellschaft treibt". Denn offensichtlich waren die damaligen Sozialdemokraten bereit, sich mit dem "Militärdespotismus" bismarkscher Prägung (der ihr erklärter Feind war) nicht nur zu arrangieren, sondern ihn geradezu als Grundlage des zu schaffenden "künftigen Staates" ansahen.
Seine politischen Forderungen enthalten nichts außer der aller Welt bekannten demokratischen Litanei: allgemeines Wahlrecht, direkte Gesetzgebung, Volksrecht, Volkswehr, etc. Sie sind ein bloßes Echo der bürgerlichen Volkspartei, des Friedens- und Freiheitsbundes. Es sind lauter Forderungen, die, soweit nicht in phantastischer Vorstellung übertrieben, bereits realisiert sind. Nur liegt der Staat, dem sie angehören, nicht innerhalb der deutschen Reichsgrenze, sondern in der Schweiz, den Vereinigten Staaten etc. Diese Sorte "Zukunftsstaat" ist heutiger Staat, obgleich außerhalb "des Rahmens" des Deutschen Reichs existierend.
Aber eines hat man vergessen. Da die deutsche Arbeiterpartei ausdrücklich erklärt, sich innerhalb des "heutigen nationalen Staats", also ihres Staates, des preußisch-deutschen Reichs, zu bewegen - ihre Forderungen wären ja sonst auch größtenteils sinnlos, da man nur fordert, was man noch nicht hat -, so durfte sie die Hauptsache nicht vergessen, nämlich das all jene schönen Sächelchen auf Anerkennung der sog. Volkssouveränität beruhn, daß sie daher nur in einer demokratischen Republik am Platze sind.
(...)
Daß man in der Tat unter "Staat" die Regierungsmaschine versteht oder den Staat, soweit er einen durch Teilung der Arbeit von der Gesellschaft besonderten, eignen Organismus bildet, zeigen schon die Worte: "Die deutsche Arbeitpartei verlangt als wirtschaftliche Grundlage des Staats: eine einzige progressive Einkommenssteuer etc." Die Steuern sind die wirtschaftliche Grundlage der Regierungsmaschinerie und von sonst nichts. Im dem in der Schweiz existierenden Zukunftsstaat ist diese Forderung ziemlich erfüllt. Einkommenssteuer setzt die verschiednen Einkommensquellen der verschiednen gesellschaftlichen Klassen voraus, also die kapitalistische Gesellschaft. Es ist also nichts Auffälliges, daß die Financial Reformers von Liverpool - Bourgeois mit Gladstones Bruder an der Spitze - dieselbe Forderung stellen wie das Programm.
(Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie und wird liberale Leser erfreuen ;-), dass ausgerechnet Karl Marx die damaligen Liberalen für fortschrittlicher und demokratischer hielt, als die damaligen deutschen "Sozis". Teufel)

Einen deutlichen Bruch mit diesem "organischen" und paternalistischen Staatsverständnis, das lezten Endes auf die "Nationalromantik" und "Staatsphilosophen" wie Fichte oder Hegel zurückgeht, gab es im "Hauptstrom" der deutschen Sozialdemokratie, soweit ich das beurteilen kann, nicht. (Darin unterscheiden sich die deutschen Sozialdemokraten übrigens nicht von den meisten Deutschen andere politischer Ausrichtung.) Die - in Frankreich, Großbritannien, den USA und selbst Skandinavien beinahe selbstverständliche Einsicht, dass der Staat ein menschengemachtes Konstrukt ist, dass für den Bürger da sein sollte, ist in Deutschland, obwohl sich in den letzten 40 Jahren hier einiges zum Besseren entwickelte, immer noch nicht konsensfähig.

Es war u. A. dieses schon von Marx bemängelte "preußisches-deutsche" Staatsverständnis, welchen "im Staat an sich" einen Wert sahen, das in der Revolution von 1918/1919 den Sozialdemokraten Ebert dazu verleitete, die "staatstreuen", aber demokratiefeindlichen Feikorps gegen die nicht "staatsloyalen", aber demokratischen und fast ausschließlich von Sozialdemokraten getragenen und entgegen der Legende keineswegs "bolschewistischen" Arbeiter- und Soldatenräte" einzusetzen. Auch bei der blutigen Niederschlagung des angeblichen "Spartakistenaufstands" in Berlin stellt sich die Frage, ob die "Medizin" (Einsatz der Reichswehr einschließlich der rechtsgerichteten Freikorps gegen die Aufständischen) nicht weitaus schlimmer als die "Krankheit" (der Aufstand) war.
First_Dr.Dean - 14. Aug, 09:48

Ich kann diesen angeblich liberalen, in immer wieder neuen Schattierungen dargebotenen "Staat vs. Markt"-Diskurs nicht mehr hören. Da wird also, und zwar pauschal, von "Zwang" oder "Staatshörigkeite" geredet, und nicht etwa die entscheidenden Fragen gestellt, "Welcher Staat" und "welcher Markt"?

Sorry, ich finde dieses dualistische Geheule unerträglich, und ich halte es auch für gefährlich, wenn alle "liberale" Argumentation immer nur darauf hinaus läuft, den Staat als Störfaktor zu denunzieren, und nicht auch z.B. als Ordnungsfaktor und Rechtsetzer.

So, das war mein Vorwort, und nun direkter zu Deinem Artikel:

1. Das Wort "Etatismus"ist von Seiten der Wirtschaftsliberalen, höchst inkohärent in seinem Gebrauch. Denn schließlich werden damit stets nur bestimmte Ausgaben gekennzeichnet, vornehmlich jene, welche extremistische Wirtschaftsliberale als "Links" empfinden, während andere Ausgaben, z.B. für Transrapid (weil ja angeblich "für die Wirtschaft") oder Rüstungslasten NIEMALS etatistisch genannt bzw. denunziert werden.

Der Missbrauch des Wortes "Etatismus" zum Zwecke der Denunzation jeglicher Staatsausgaben ist, kein sorgfältiger Gebrauch dieses Wortes. Etatismus ist es hingegen, wenn das Mehrausgeben von öffentlichen Geldern als universeller bzw. oft gebrauchter Problemlösungsansatz gewählt wird (wie dies bei Teilen der Sozialdemokraten der Fall ist), und Vorrang gegenüber Politikansätzen erlangt, welche öffentliche Mittel sorgsam und haushälterisch zurückhaltend einzusetzen planen.

Wird dieser Unterschied nicht im Sprachgebrauch berücksichtigt, vekommt das Wort "Etatismus".

2. Die Formulierung "Dass Sozialdemokraten und Sozialisten (...) der Meinung sind, der einzelne Mensch sei für den Staat da" ist elementar kontrafaktisch. Diese Aussage träfe wohl noch für die meisten Kommunisten zu, aber sie ist in Bezug auf Sozialdemokraten und moderate Sozialisten schlicht falsch und entspricht lediglich "liberaler" Propaganda zum Zwecke der Denunzierung des politischen Gegners.

3. Ich finde es erbärmlich, ausgerechnet Karl Marx zu bemühen, um zu behaupten, dass "der" Staat stets und immer unfrei mache, und zwar unabhängig von seiner Konstitution. Nebenbei: Ich halte Libertäre, ob nun von links oder rechts, für komplette Spinner, und dieses typisch libertäre Argumentationsmuster ist ein schönes Beispiel dafür.

Der Satz:
Einen deutlichen Bruch mit diesem "organischen" und paternalistischen Staatsverständnis, das lezten Endes auf die "Nationalromantik" und "Staatsphilosophen" wie Fichte oder Hegel zurückgeht, gab es im "Hauptstrom" der deutschen Sozialdemokratie, soweit ich das beurteilen kann, nicht.
...ist in seiner Pauschalität schierer Unfug. Man muss nicht einmal ein Sozialdemokrat sein (der ich nicht bin); um das zu erkennen. Auch in der Sozialdemokratie gab es in der Geschichte eine breite Bandbreite von unterschiedlichen Staatsverständnissen. Die Unkenntnis darüber macht aus Deinem Satz jedoch noch keine wahre Aussage. Gerade Sozialdemokraten, nur mal als Anregung für Dich, hatten nicht selten große Abneigungen gegen ein klassisch "preußisch-deutsches" Staatsverständnis, und im Übrigen hast Du dennoch recht, wenngleich nicht mit Deiner unzutreffenden Pauschalaussage, dass es Sozialdemokraten gab, die ein geradezu bismarcksches Staatsverständnis hatten.

Nur: Es ist EXTREM blind zu behaupten, dass dies die einzige Variante sozialdemokratischer Staatsverständnisse gewesen sein soll. Ander gesprochen: Liberäre bzw. wirtschaftsliberale Propaganda, wobei im Übrigen darauf hingewiesen werden darf, dass das bürgerliche Staatsverständnis vieler Wirtschaftsliberaler (z.B. auch von Prof. Un-Sinn) ein zutiefst autoritatives Staatsverständnis ist, allerdings zu eigenen Interessen gewendet...

4. Ausgesprochen unschön in diesem ganzen "staatskritischen" Denunzationsnebel ist es, dass nicht mehr nach sinnvollen Aufgaben eines Staats gefragt wird, nicht mehr danach, wie er den Bügern besser und erfolgreicher dienen kann, sondern nur noch das Feindbild Staat konstruiert wird.

Diese Art der Argumentation ist typisch übrigens für Extremisten der unterschiedlichsten Coleur, ob nun für linksextremistische Anarchisten, ob für MLDP-Kader, ob für kommunistische Aktivisten oder halt auch für Wirtschaftslibertäre: Immer genau die gleiche Soße, nämlich die pauschale Konstruktion des Staatsbegriffs als Feindbild, und zwar unabhängig (!) von seiner tatsächlichen und möglichen Ausgestaltung.

Wie gesagt: MMarheinecke, in diesem Deinem Artikel folgst Du letztlich einem extremistischen Argumentationsmuster.

P.S. Aber den Beifall von Rayson & Co dürftest Du dafür haben, was, offen gesagt, m.E. oft ein Indiz dafür darstellt, dass mit einer Argumentation etwas nicht stimmen kann.

MMarheinecke - 14. Aug, 11:53

Ja, ich argumentiere da extremistisch

Übrigens auch, um Reaktionen wie Deine zu provozieren. Ich weiß ganz genau, dass meine Aussagen über die deutsche Sozialdemokratie (absichtlich) grob vereinfacht ist. Mit "preußisches Staatsverständnis" meine ich, das sei der Deutlichkeit wegen hervorgehoben, nicht etwa, dass die Sozialdemokraten den Obrigkeitsstaat, der sie verfolgte und später immer noch gegenüber anderen politischen Richtungen benachteiligte, gern hatten. (Wäre auch absurd.) Es ist eher das Schema: "Wenn wir erst mal in diesem Staat das Sagen haben ...", also die Vorstellung, man müsse "nur" die Machtelite austauschen, dann würde schon alles besser.

Nein. Den Beifall von Rayson habe ich nicht bekommen. Das hatte ich auch nicht beabsichtigt.

Ja, Du hast richtig beobachtet, gefühlsmäßig tendiere ich nämlich tatsächlich zum Anarchismus (bzw. zur "Libertären" Anschauung in der ursprünglichen Bedeutung.)

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