Jerusalem - "Wiege der drei monotheistischen Religionen"?

Der Anlaß für diesen Beitrag ist aber diese Passage aus Broders Interview mit "Tacheles" "Europa wird anders werden".:
Und eine zweite wäre vielleicht, dass Tschetschenien nicht die Heimat der drei Weltreligionen ist?

Ja, das stimmt sicher auch. Leibowitz wurde einmal darauf angesprochen, dass Israel die Wiege der drei monotheistischen Weltreligionen sei. Seine wunderbare Antwort war, dass es nicht die Wiege von Judentum und Islam sei, die seien woanders entstanden, sondern die Wiege des Christentums, und dieses sei keine monotheistische Religion. Das hat eine Symbolik. (...)
Leibowitz hat Recht - auch wenn diese Antwort ein Stich ins Herz vieler Christen ist. (In geringerem Ausmaß auch auch mancher Juden und Moslems, insofern sie den Mythos Jerusalems als "ihrer" heiliger Stadt hoch halten.) Wobei ich über Leibowitz hinnausgehe: auch das Christentum enstand nicht in Jerusalem. Dort entstand nur eine kleine jüdische Sekte, die in Jesus den Messias sahen, ansonsten aber dem Judentum in jeder Hinsicht treu blieben. (Diese "Judenchristen" waren die Vorgänger der Ebioniten und Nazoräer, die von der späteren christlichen Kirchen ausdrücklich nicht als "echte" Christen anerkannt wurden.) Der eigentliche "Religionstifter" des nichtjüdischen (und zu guten Teilen antijüdischen) Christentums ist Paulus, und der lebte und wirkte bekanntlich nicht in Jerusalem.
Zuzustimmen ist Leibowitz darin, dass das Christentum keine monotheistische Religion ist. Evident wird das im Vergleich zu den zentralen Aussagen des Islams und des Judentums. Im Islam ist das ganz einfach: "Es gibt keinen Gott außer Gott". Bei den frühen Juden ist das nicht ganz so klar, denn es heißt im 2. Buch Mose: "Ich bin der Herr, dein Gott! Ich habe dich aus Ägypten herausgeführt, ich habe dich aus der Knechtschaft befreit. Du sollst keine anderen Götter außer mir haben. (...) Wirf dich nicht vor fremden Götter nieder und diene ihnen nicht. Denn ich, dein Herr, bin ein eifersüchtiger Gott.(...)"
Daraus ergibt sich, das es für die alten Israeliten sehr wohl andere Götter gab. Das folgt auch aus einer Episode im Buch der Könige, in dem der Prophet Elijah ausgesandt wird, um Juden zu warnen, die "zsätzlich" dem alten semitischen Gott Baal dienen. In 1. Könige 18:21 sagt Elijah zu ihnen: „Wie lange wollt ihr auf zwei Ästen sitzen? Wenn der Her der Gott ist, so folget ihm; wenn aber Baal, so folget ihm.“ Man ist also entweder ein Jude oder ein Verehrer Baals, beides geht nicht. Aber nirgendwo ist zu lesen, dass Baal, Aschera, El und andere Götter nicht existieren würden oder keine Macht hätten. Damit war das frühe Judentum streng genommen kein Monotheismus, sondern eine Monolatrie. Vermutlich in der Zeit des babylonischen Exils entwickelte er sich zu einem echten Monotheismus weiter. Im Zentrum des Judentums steht ein unnennbarer, körperloser und völlig abstrakter Gott, der sich in Gesetzen offenbart.
Ganz anders im Christentum. Man kann endlos darüber debattieren, ob die Trinität (Vater, Sohn, Heiliger Geist) der Glaube an drei Gottheiten ist oder nicht. Die Tendenz, sich Gott konkret vorzustellen und in verschiedene Aspekte zu unterteilen, unterscheidet das Christentum deutlich vom Gotteskonzept sowohl der Juden wie der Moslems. In der christlichen Praxis weichte sich der Monotheismus der "Urchristen" weiter auf - z. B. wandelte sich die Vorstellung des Teufels als Beauftragtem und Untergebenen Gottes ("Satan" heißt "Ankläger", im Sinne des Anklagevertreters vor Gericht) zu einem dualistisch gesehenen "Widersacher" (Antigott). (Entsprechende Tendenzen gibt es auch im Islam, besonders populär sind sie bei politischen Islamisten.) Im Katholizismus und im orthodoxen Christentum (und sogar in manchen Richtungen des Protestantismus) übernehmen zahlreiche Heiligen, Engel und Dämonen die Funktion von rangniederen Gottheiten. Nimmt man noch die katholische Marienverehrung hinzu, die auffällig und bis ins Detail hinnein der antiken Isisverehrung entspricht, dann ist die größte Konfession des Christemtum kein Monotheismus sondern allenfalls Henotheismus. Und selbst die streng protestantischen Richtungen, die ohne Heilige und "personal" gedachten Teufel auskommen, sind allerhöchstens inkonsequent monotheistisch, gemessen an den jüdischen und islamischen Standards sogar nur pseudo-monotheistisch.

Jerusalem ist also keineswegs "die" heilige Stadt, so wie Israel keineswegs das "heilige Land" ist.

Im Namen der Mutter, der Tochter und der heiligen Extase!

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