Vor acht Sommern war die Luft ´raus - WM 1998

(Sozusagen eine Fortsetzung zu Vor vielen Sommern - 1974)
Acht Jahre sind keine sonderlich lange Zeit. Dennoch war die Welt 1998 eine andere: das ominöse Datum 11.September 2001 lag noch über drei Jahre in der Zukunft, das Platzen der Dotcom-Blase noch gut zwei Jahre, der deutsche Kanzler hieß noch, aber nicht mehr lange Helmut Kohl, der US-Präsident Clinton. Bundestrainer war "Börti" Vogts.
Vor allem war der deutsche Fußball ein anderer als heute. Sehr "ergebnisorientiert", taktisch etwas altmodisch und spielerisch eher langweilig.
Der negative Höhepunkt der WM 98 waren deutsche Hooligans, die vor dem Spiel gegen Jugoslawien in Lens den französischen Polizisten Daniel Nivel zum Krüppel schlugen.
Auch wenn ich diese WM nur am Rande mitverfolgte, an den Tag, an dem die deutsche Mannschaft ausschied, kann ich mich sehr gut erinnern. Es war der 4. Juli, ein (halbwegs) sonniger Sonnabend.
An diesem Tag spielte die Band "Sparkling Starwater" in der "Motte", dem Stadteilteilkulturzentrum im Hamburger Stadteil Ottensen. Ein rein publikumsinteressetechnisch gesehen eher ungünstiger Termin, aber der Auftritt war Bestandteil einer schon länger geplanten Veranstaltung. Die Musikrichtung von "Sparkling Starwater" war schwer zu beschreiben, Etiketten wie "Neo-Hippie" oder "60er-Jahre Retro" klebten wegen der hörbaren Hardrock- und Punk-Einflüsse nicht richtig. Meistens wurde sie kurzerhand als
"Garage Band" bezeichet.
Außerdem hatte die Band zwei musikalische fitte und optisch attraktive Front-Frauen, eine blond, eine brünett, was bei einigen Anwesenden musikalisch eher fernliegenden Assoziationen in Richtung ABBA hervorriefen. Und sie hatte einen ausgezeichneten, aber ziemlich eigenwilligen Gitarristen, bei dem es sich zufällig um meinen Bruder handelte. (Spielt heute bei Cpt. Howdy)
Weshalb ich dann auch auf der Gästeliste stand und selbstverständlich gerne kam.
Immerhin, im Foyer stand ein Fernseher. Und der (mäßig besuchte) Auftritt der Band erfolgte erst nach erfolgtem Spiel. An dem ich, nach dem vorrangangenen öden Achtelfinalspiel, das Deutschland mit unverschämt viel Glück gegen die spielerisch weitaus stärkeren Mexikaner gewonnen hatte, eher wenig interessiert war.
Während der ersten Halbzeit machte ich einen kleinen Spaziergang durch den an normalen Sonnabendnachmittagen sehr belebten Kernbereich "Mottenburgs". Eine gespenstische Erfahrung: Die Straßen waren praktisch menschenleer. Eigentlich überraschend, angesichts des hohen Ausländeranteils und der bescheidenen Leistungen des deutschen Teams.
Damit versäumte ich den besten Teil des Spiel, denn anfangs soll Deutschland nicht schlecht gespielt haben. Eine rote Karte gegen Christian Wörns in der 40. Minute war praktisch schon das Ende.
Kroatien nutzte die Überzahl aus und kam zu einem 3:0-Sieg.
Was bemerkenswerterweise niemandem die Laune zu verderben schien. Tatsächlich herrschte eher ein Gefühl der Erleichterung.
Erstaunlich viele der im Zweifel eher linken "Motte"-Besucher zogen Parallelen zwischen dem Spiel der deutschen Mannschaft und dem Zustand der deutschen Politik. Was am Ende der Kohl-Ära sogar gestimmt haben mag ...
Die Luft war ´raus. Bei der Regierung Kohl. Bei der Fußball-Nationalmannschaft. Und leider auch, selbst wenn es noch einige Zeit bis zur Bandauflösung dauerte, bei "Sparkling Starwater".
MMarheinecke - Samstag, 1. Juli 2006
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