"Wie ham ja soooo sehr aus unserer Geschichte gelernt ..."

Eine notwendige Ergänzung zum Beitrag Antisemitismus auf Schwedisch
Ein Problem des deutschen Umgangs mit Antisemitismus ist die Konzentration auf die Vergangenheit. Das ist dann problematisch, wenn es um die Auseinandersetzung mit Antisemiten geht, die weder "Deutsche" noch "Nazis" sind.
Hendryk M. Broder läuft manchmal, wenn er nicht mit seinen persönlichen Lieblingsfeinden beschäftigt ist, zu alter Form auf. Z. B. hier: Welcome, Mr. President!
Die Deutschen, die so stolz darauf sind, sich ihrer Vergangenheit zu stellen, haben keinen Bezug zur Gegenwart. Sie rufen „Wehret den Anfängen!“ und „Nie wieder 33!“ - und sie meinen es wörtlich. Nie wieder soll die NSDAP an die Macht kommen, und nie wieder soll die Judenfrage in Deutschland gelöst werden. Hitler war ein böser Mann, und wer den Holocaust leugnet, kommt vor Gericht. Was freilich im Nahen Osten passiert, ist eine andere Geschichte. Und wenn ein iranischer Politiker, der schon eine halbe Million iranische Kinder als Minenspürhunde im Krieg gegen den Irak geopfert hat, in aller Ehrlichkeit sagt, wie er sich die nächste Endlösung der Judenfrage vorstellt, so ist das zwar nicht nett, entbindet die Deutschen aber nicht von der Pflicht, gute Gastgeber zu sein.

So ist es eben, wenn man immer nur den Anfängen wehren will und das Ende der Geschichte nicht im Auge hat.
(Die als "Minenspürhunde geopferten Kinder" spielen auf die Zeit an, als Ahmadinejad zu den Revolutionsgardisten gehörte - die sich in der Tat nicht scheuten, im Krieg gegen den Irak massenhaft Kindersoldaten einzusetzen - vor allem für Minenräumarbeiten. Die Verluste waren schrecklich.)
Noch um einiges schärfer äußert sich Liza zu diesem traurigen Thema: Welcome to Germany!.
Da läuft etwas falsch, und zwar gründlich. Eine wirksame Alternative zum drohenden Krieg der USA (und Verbündeter) gegen den Iran wären wirtschafliche Sanktionen, zumal unter einem Krieg vor allem die keineswegs durch die Bank mullahfreundliche iranische Bevölkerung leiden würde - und das Regime aller Erfahrung nach im Kriegfall sie zuerst die "Verräter in den eigenen Reihen", sprich die gar nicht wenigen Oppositionellen, vorknüpfen würde. Am besten wäre natürlich eine Kombination aus Unterstützung der Opposition und gezieltem Boykott.
Wer könnte am wirksamsten Sanktionen verhängen? Richtig, die Deutschen!
„Wenn es unter den westlichen Nationen überhaupt eine gibt, die [dem iranischen Atomwaffenprogramm] mit wirksamen Sanktionen begegnen könnte, ist es die deutsche“, führte der deutsche Politikwissenschaftler Matthias Küntzel Ende letzten Jahres im Transatlantic Intelligencer aus. „Heute ist Deutschland mit konstanten Wachstumsraten von über 20 Prozent das mit Abstand wichtigste Lieferland für den Iran. So wurden in 2004 Güter im Wert von 3,6 Milliarden Euro aus Deutschland in den Iran exportiert. Gleichzeitig ist die Bundesrepublik der größte Abnehmer iranischer Nichtölprodukte sowie der größte Gläubiger des Iran.“
Und wer macht auf Appeasement? Na klar, auch die Deutschen! Wobei langfristig gesehen sowohl ein Krieg gegen den Iran (wohl mit deutscher Beteiligung) wie auch ein dank "Bombe" zur lokalen Großmacht avancierter Iran volkswirtschaftlich erheblich teuer kämen, als ein paar "Exportausfälle" - vor allem wenn Israel als wichtiger "High Tech"-Standort und stärkste Industrienation des "nahen Ostens" "ausfällt". Von ethischen und moralischen Fragen ganz abgesehen. Aber hierzulande haben ja leider die in Kostenstellen denkenden "Betriebswirte" das Sagen, auch jene, die sich manchmal "liberal" schimpfen.
Ahmadinejad hat leider auch "richtige" deutsche Freunde. Auf der äußersten politischen Rechten aufgrund weitgreifenden ideologischer Schnittmengen Allianz zwischen Neonazis und radikalen Islamisten? und Deutsche Neonazis solidarisieren sich mit 'islamischen Völkern' - idgr: Die unheilige Allianz zwischen Hakenkreuz und Halbmond
Der ideologische Kitt, der die deutschen Neonazis und die iranischen Mullahs zu Verbündeten macht, ist der Kampf gegen "Judentum" und vermeintliche Imperialisten. (Nur eine Frage der Zeit, wann man auf Seiten der NPD zwischen "guten" und "schlechten" Islamisten unterscheiden wird - und vielleicht sogar darauf kommt, dass "Iran" "Land der Arier" bedeutet .... )
Auf der politische "Linken" schlagen sich Leute wie Werner Pirker in der "Jungen Welt" nach dem Motto "der Feind meines Feindes ..." ganz "antiimperialistisch" auf die Seite eines Regime, das reaktionärer ist als alles, was es im Westen gibt. Siehe wieder mal Che, der hat da nämlich vollkommen recht: Es pirkert mal wieder - auch damit:
"antideutscher, philosemitischer, kryptorassistischer Mythos auf der einen Seite, antiamerikanischer, antizionistischer neostalinistischer Mythos auf der anderen."
Ich hoffe sehr, dass ich mit diesem Beitrag nicht zu weit in die antideutsche, philosemitische und kryptorasstische Ecke begeben habe.
zwischen Gut und Böse
Köppnick - 6. Mai, 23:41

Sanktionen

Machen wir ein Beispiel: Vor etwa anderthalb Jahren hat uns ein iranischer Professor besucht, der von unseren Geräten gehört hatte, die inzwischen europaweit verkauft werden. Dieser Professor war vorher etwa 20 Jahre in Österreich. Er hat für seinen Fachbereich an einer Teheraner Uni Fördergelder aufgetrieben, um das Gerät kaufen zu können. Als die nicht rechtzeitig eingetroffen sind, hat er einen Teil privat vorgeschossen.

Zuerst waren drei Iraner eine Woche bei uns zur Schulung, der Prof, sein Sohn, und ein Dritter, der gerade in Deutschland promoviert, studiert hat er u.a. in Japan. Zwei meiner Kollegen waren zur Installation eine Woche im Iran. Der Professor ist eigentlich Professor für Starkstromelektrik, weil aber der Bereich für Lichttechnik am Sterben war, hat er die Initiative ergriffen und den Bereich übernommen. Unser Gerät dient der Vermessung der Lichtverteilung von Lampen.

Mitte des Jahres wird der Prof seine zwei besten Studenten zu uns schicken, damit sie hier ein Praktikum machen können. Wem nützen und wem schaden Wirtschaftssanktionen? Meiner Meinung nach zwingen sie die iranische Bevölkerung eher, sich mit den Mullahs zusammenzuschließen. Genau das ist doch jetzt die Kalkulation des iranischen Präsidenten. Ehe ich es vergesse: Wir arbeiten auch mit israelischen Firmen zusammen, liefern Geräte nach Israel.

MMarheinecke - 7. Mai, 09:17

Diese Gefahr sehe ich auch

Das elegante Sanktionsmodell zur Unschädlichmachung von ideologisch geschlossenen Regimen hat in der Tat eine Schwäche, die in ihrem Menschenbild begründet ist. Sie setzt vorraus, dass Menschen a) rational entscheiden und b) in erster Linie auf ihren materiellen Vorteil bedacht sind. Ein gerüttelt Maß "struktureller Opportunismus", wie in Deutschland, erleichtert diese Strategie. Das Problem ist, dass die Ideologie der Mullahs hochgradig irrational ist, und zwar auf eine Art und Weise, die unter Umständen sogar erklärte Atheisten mitreisst. (In der Revolutionsphase sogar eine so kritischen und brillianten Geist wie den post-strukturalistischen Philosophen Michael Foucault. )

Da die Sanktionen in der Praxis wohl nicht von der "ganzen Welt" bzw. der Weltgemeinschaft, sondern "nur" vom "Westen" ausgeübt werden können, ist es für ein ideologisches geschlossenes Regime relativ leicht, einen "Feind der islamischen Republik" zu konstruieren - am einfachsten "Drahtzieher", die die Politik der "Feindstaaten" insgeheim steuern. Für einen überzeugten Antisemiten wie Mahmoud Ahmadinejad sind diese Drahtzieher ganz klar und traditionell "die Juden". Weil das so ist, gebe ich Dir recht: allgemeine Wirtschaftssanktionen stärken das Regime eher, jedenfalls solange es in der Lage ist, sich "überlebenswichtige" Güter wie Waffen und Informationstechnologie notfalls "auf dem schwarzen Markt" zu besorgen.

Allerdings ist das kein Argument dafür, den Iran nicht ächten bzw. auf einen "Schmusekurs" oder auf "Appeacement" zu setzen - beides ist in Deutschland leider äußerst populär. Und es stablisiert eindeutig das Regime. Ich bin der Ansicht, dass es nur einen Modus gibt, in dem man mit Leuten wie Ahmadinejad und den hinter ihm stehenden "Wächterrat" (den Mullahs) erfolgreich verhandeln kann: mit vorgehaltener, geladener und entsicherter Pistole.
Köppnick - 7. Mai, 10:02

Andere Sichtweise

Du hast aus meinem Kommentar eigentlich das Gegenteil herausgelesen, als ich beabsichtigt hatte. Deshalb Klarstellungen in den mir wichtigsten Punkten:

Der Iran betrachtet nicht die Juden als Feind, sondern den Staat Israel. Im Iran leben selbst Juden, genauso wie übrigens andere Religionsgemeinschaften. Die bleiben vollkommen unbehelligt.

Eine Bevölkerung folgt ihrer Regierung genau dann, wenn deren Darstellungen die plausibelsten sind. Wenn die Regierung dem Volk erzählt, wir sind von Feinden umzingelt, und diese nähern sich dann, wie von dir vorgeschlagen, tatsächlich "mit entsicherter Pistole", dann haben diese Pistolenträger die Einheit zwischen Regierung und Volk erst gefestigt.

Meiner Meinung nach ist der andere Weg erfolgversprechender: Ins Land gehen und mit den Leuten in Kontakt kommen. Wenn man aus einem Land Leute persönlich kennt, dann wird man auf deren Landsleute nicht mehr schießen. Und auf staatlicher Ebene wirtschaftliche Zusammenarbeit. Auch hier gilt wieder: Bei wem man sein eigenes Geld stecken hat, den greift man nicht an.

Eine Politik der Drohungen funktioniert gegenüber dem Iran nicht. China und Russland haben vor Kurzem langfristige Wirtschafts- und Lieferverträge mit dem Iran abgeschlossen und werden jede Resolution im UN-Sicherheitsrat blockieren. Die USA können Iran nicht angreifen, jedenfalls nicht, wenn sie deiner Definition nach "rational" handeln. Die müssen die Scheiße erstmal auslöffeln, die sie im Irak angerichtet haben. Und was in und um Israel los sein wird, wenn die es versuchen, wage ich gar nicht zu denken.

Aus Sicht des Irans stellt sich die Lage doch so dar: Israel besitzt Atomwaffen, die USA auch. Nordkorea, Indien, Pakistan auch. Der Irak konnte angegriffen werden, weil er über keine verfügt. Es ist also durchaus eine Denkebene vorhanden, auf der das Handeln der iranischen Regierung rational ist.

Dass das für uns irrational erscheint, liegt außer an der durchgeknallt erscheinenden Rhetorik des Irans doch nur daran, dass wir zu drei Atommächten (USA, Großbritannien, Frankreich) so umfangreiche Kontakte auf politischer, wirtschaftlicher und persönlich-menschlicher Ebene haben, dass diese Waffen für unsere Sicherheit überflüssig sind.
Gregor Keuschnig - 7. Mai, 13:45

Steinzeit

Ich war eigentlich immer ganz froh, wenn Deutschland Aussenpolitik als "Appeasement-Politik" betrieben hat (hat nichts mit "peace" zu tun!): Es stand und steht uns nicht zu, wieder als Supermacht aufzutreten.

Der iranische Präsident ist durch demokratische Wahlen an die Macht gekommen. Man kann den Völkern nicht predigen, sie sollten die Demokratie errichten und dann die Ergebnisse nicht akzeptieren. Da sind selbst die USA weiter; Condoleezza Rice hat bereits 2003 in einem Interview gesagt, man müsse durchaus das Risiko eingehen, dass bei Wahlen Kräfte an die Macht kommen, die man nicht will.

Der Vergleich mit Hitler-Deutschland greift übrigens fehl. Die Appeasement-Politik Chamberlains 1936 gegenüber Deutschland (als es um die Tschechoslowakei ging) war kein Appeasement, sondern ein Akzept der realpolitischen Fehler, die man begangen hatte, als man Hitlers Einmarsch ins Rheinland Jahre vorher zugelassen hatte. Dies war ein vertragsrechtlicher Bruch, den man akzeptierte, weil man sich militärisch nicht engagieren wollte und wohl auch nicht konnte (und die USA isolationistisch waren).

Der Vergleich greift auch fehl, weil die NSDAP nebst Koalitionspartnern (hauptsächlich die DVP / DNVP) im Reichstag gar keine Mehrheit hatte. Da aber die anderen Blöcke - insbesondere die Linke, also SPD und KPD - heillos zerstritten waren, konnte man als Minderheitenregierung regieren. Man benötigte des (fingierten) Reichtstagsbrands, um über den Ausschluss der KPD den Reichstag manipulativ als Mehrheitsinstrument einzusetzen.

Wenn man der iranischen Regierung mit entsicherten Pistolen begegnen will, ist dies ein Rückfall in eine Steinzeitkultur, die ich nicht will. Was hätten wohl die Deutschen gesagt, wenn Bush 2002 gesagt hätte, er akzeptiert die Wahl Schröders zum Kanzler nicht? Wer maßt sich denn die Arroganz an, alles richtig zu wissen?

Ahmedanidschad ist innenpolitisch unter Druck und macht das, was alle schlechten Politiker tun, wenn sie innenpolitisch unter Druck geraten: Sie verlagern sich auf die Aussenpolitik.

Eine Atombombe ist dem Iran moralisch nicht zu verweigern. Als einzige Nation der Welt sind Atomwaffen bisher von den USA eingesetzt worden. Im übrigen hat Köppnick hierzu alles gesagt.

Die USA planen allerdings sehr wohl einen Schlag und ich glaube auch, dass er kommen wird. Dies wird zweifellos kein Krieg sein wie im Irak, sondern eher Luftschläge auf die vermuteten Atomfabriken. Offen ist nur noch, ob es eine nukleare Ausstattung der Raketen geben wird.

Die deutschen Handelsinteressen als Grund für die "Beschwichtigungspolitik" anzuführen, ist ebenfalls unredlich. Selbst wenn hier die Interessen übereinstimmen sollten - was ist daran falsch?

Nein, nein: Eine deutsche Regierung, die sich als Kriegstreiber generiert, mag ich nicht. Das war das unappetitliche an Scharping. Der hatte Lügendokumente präsentiert, um den völkerrechtswidrigen Krieg im Kosovo zu rechtfertigen. Die Propaganda hat uns in den Medien solange besoffen gemacht, bis wir geglaubt haben, es sei unabdingbar notwendig, Krieg zu führen.

Glücklicherweise hat das im Irakkrieg nicht geklappt. Beim Iran bleibt es fraglich, da der Präsident dermassen bescheuert daherkommt, dass er eine gute Zielscheibe abgibt. Er propagiert sich zur "Atommacht" und da man das glauben will, glaubt man es. Seriöse Berichte gehen von mindestens 5 Jahren aus, die man noch bräuchte. Ob er politich so lange überleben wird, ist fraglich.

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