Wer hat's erfunden?

Aktueller Anlaß: Das am 20.04.2006 vorgestellte 'Bündnis für Erziehung', initiiert von Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen, soll Massnahmen zur 'besseren' Kindererziehung auf der Basis 'christlicher Werte' erarbeiten. Nicht er seit Kurzem, sondern seit eh und je verbreiten selbst liberale, demokratisch gesonnene und kritische Christen immer wieder die alte Legende:
Ohne Kirche würden wir noch Menschen fressen und uns gegenseitig umbringen. (Von den illiberlalen, undemokratisch gesonnenen und unkritischen Christen, die nach wie vor die Kirchenhierachien dominieren, will ich schweigen. Ebenso von den televangelilkalen Sturmtruppen und Fundamentalisten jeglicher Bauart.)

Jeder, der oder die sich auch nur überflächlich mit Kirchengeschichte befasst hat, der oder die auch nur mal die Bibel wirklich gelesen hat, müßte eigentlich wissen:

Alles, was am Christentum nicht jüdisch ist, ist heidnisch.

Nur zur Erinnerung: Das Christentum war, schon als es vom jüdischen Renegaten Paulus gegen den Widerstand der noch lebenden Jesus-Jünger, einschließlich Petrus, gegründet wurde, zutiefst anti-jüdisch. Weil seine Glaubensinhalte aber unzweifelhaft jüdisch waren, folgte ein dreister Diebstahl: schon die frühen Christen klauten, pardon übernahmen, zuerst die jüdische Bibel, die Moral, die Gesetze - um dann "die Juden" pauschal dafür zu versdammen, dass sie die "Göttlichkeit" des Juden Jesus, der selbst laut Evangelien niemals behauptet hatte, Gott zu sein, nicht anerkennen wollte.
Da ich kein Christ bin, gehe ich nicht darauf ein, inwiefern die besagte Initiative christlich legimiert ist. Es gibt durchaus Christen, die, wie Momo meinen: "Wohlverstandenes Christentum ist Glaube, nicht Indoktrination" und aus dieser Position heraus das "Bündnis für Erziehung" kritisieren Die Mutterkreuzlerin und die Bischöfin

Aber es soll hier nicht nur um Glaubensinhalte gehen.

Was meint Frau von der Leyen mit "christlichen Werten"?
Werte wie Respekt, Verlässlichkeit, Vertrauen und Aufrichtigkeit sind Leitplanken, die unseren Kindern helfen, ihren Weg ins Leben zu finden.
Dazu ist zweierlei zu sagen: Erst einmal, dass die genannten Begriffe keine (moralischen) Werte, sondern Sekundärtugenden sind. Sinnvolle Sekundärtugenden, sicherlich, aber auch solche, mit denen sich auch eine Diktatur betreiben ließe. Zweitens, dass die "Leitplanken" schwerlich originär oder gar exklusiv christlich sind.

Hinzu kommt die sowohl in den christlichen Kirchen wie in der deutschen politische Traditon tief verwurzelte Auffassung, Werte von oben herab, per "Gebrauchsanweisung" vermitteln zu können. Zwei verwandte Formen des utopischen Denkens sind wohl, zumindest in Deutschland, unausrottbar: Der feste Glauben an die Macht der Erziehung sämtliche sozialen Probleme lösen zu können und das durch häufiges Versagen ungetrübte Vertrauen in "Top down"-Ansätze: hier die Elite der "Entscheider" die sagt, wo es lang geht, dort das dumme Volk, das zur Einhaltung der moralischen Vorschriften und Sekundärtugenden programmiert erzogen werden muss.

Zurück zur Ausgangsfrage: Wer hat's Erfunden? Woher stammen die Grundlagen der westlichen Demokratie, des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, von der Frau von der Leyen irrtümlich meint, die ersten 19 Artikel seiner Verfassung seien nur eine "Zusammenfassung der 10 Gebote"?

Pauschalisiert läßt sich sagen:
Die Perser erfanden die föderalistische Regierungsform, die Griechen die Demokratie, die Juden die Gleichheit vor dem Gesetz, die Phönizier die Marktwirtschaft, die Römer die offene Gesellschaft, die Chinesen den Beamtenstand, die Isländer den Parlamentarismus. (Keine der genannten Kulturen war christlich geprägt.)
Gewaltenteilung ist eine Errungenschaft der Aufklärung und der amerikanischen und der französischen Revolution, ebenso die universalen Menschenrechte (einschließlich Religionsfreiheit). Sie mußten bekanntlich gegen den Widerstand der eng mit dem Feudalsystem verbundenen Kirchen durchgesetzt werden.
pantoffelpunk - 25. Apr, 22:17

Der Text gefällt mir phasenweise sehr, vor allem der Part, in dem Du den Sekundärtugenden auch das Gelingen einer Dikatatur unterschiebst. Respekt. Widersprechen möchte ich Dir an einer Stelle: Erziehung KÖNNTE sämtliche sozialen Probleme lösen, wenn denn "ordentlich" erzogen werden würde bzw. ein jeder, der Kinder hat, dazu in der Lage und willens wäre oder auch: Wenn nur derjenige Kinder machen würde, der in der Lage.... nein, sorry, hier verlasse ich linksliberales Terrain, da will ich mich lieber weiter nicht äußern. Zumindest nicht ohne Anwalt.

MMarheinecke - 26. Apr, 06:40

Erziehung

das Problem ist nicht, dass Erziehung im Prinzip eine Vielzahl der sozialen Probleme lösen könnte. (Nicht alle! Das würde voraussetzen, dass menschliches Verhalten völlig "sozialdeterminiert" ist, z. B. müßten genetische Faktoren bei der Persönlichkeitsentwicklung ausgeschlossen werden. Oder den rousseauschen Optimismus, dass der Mensch von Natur aus "gut" sei.)
Das Problem liegt in einem primitiv-autoritären Erziehungsmodell, in dem ein "Wertekanon" (in Wirklichkeit: ein Kanon von Verhaltensregeln) eingeübt werden soll, und zwar möglichst in der frühen Kindheit. Meiner Ansicht nach ein Rezept zum "Untertanenmachen", das sich nur in den Mitteln, nicht aber in den Zielen, von der "schwarzen Pädagogik" früherer Zeiten unterscheidet. (Dabei geht es nicht darum, dass Kindern die "notwendigen Grenzen" gesetzt werden, sondern um das, was auf Neo-Konservativ "Mut zur Erziehung" genannt wird.)

Rein statistisch gesehen ist bei sieben Kindern das Risiko, dass mindestens ein "schwarzes Schaf" dabei ist, recht groß. Das dürfte auch Frau von der Leyen lehren, dass es in der Erziehung Grenzen des Möglichen gibt.

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