Supergau im Kino

Bald jährt sich zum 20. Mal die Katastrophe von Tschernobyl. Nach Schätzungen der IAEA kann sie bis zu 4000 Menschen das Leben gekostet haben. (Nach anderen sogar mehr, die Horrorzahlen von bis zu 250.000 Opfern sind aber mit Sicherheit zu hoch.)

Der absurde Leichtsinn, die Konstruktionsfehler, die Fehlentscheidungen, die zum folgenschwersten Reaktorunfall in der Geschichte der Atomenergie führten, die Vertuschungspolitik der Sowjetunion, die Panik, die in halb Europa herrschte, die Hilflosigkeit der Helfer, aber auch Beispiele von Mut und Hilfsbereitschaft - eigentlich böte es sich an, einen ganz großen Dokumentarspielfilm über Tschernobyl in die Kinos zu bringen.

Statt dessen entstand, unterstüzt von der der staatlichen Filmförderung, "Die Wolke", nach dem Roman von Gudrun Pausewang. Natürlich, wie es sich für einen ordentlichen Katastrophenfilm nach "Titanic" gehört, mit einer rührseligen Liebesgeschichte, die man im Roman vergeblich sucht. Mit aus unerfindlichen Gründen 38.000 (Film-)Toten, statt, wie im Buch, "nur" 18.000 Toten. (Die an akuter Strahlenbelastung sterben, bei den Tschernobyl-Operzahlen sind z. B. Krebstote aufgrund von Langzeiteffekten eingeschloßen. Es gab in Tschernobyl 28 "Soforttote", Verbrennungsfälle eingerechnet. 140 Menschen waren akut strahlenkrank.)
Der Roman der ehemaligen Lehrerin Pausewang entstand in unübersehbar erzieherischer Absicht. Seine Stärken sind die erschreckend präzise geschilderten Abgründe menschlichen Verhaltens, der brutale Realismus menschlichen Leids. Seine größte Schwäche ist der selbstgerechte Unterton, der warnend erhobene volkspädagogische Zeigefinger: "So wird es euch ergehen, wenn ihr nicht auf die Atomkraftgegner hört." Gut und Böse sind scharf getrennt. "Jetzt werden wir nicht mehr sagen können, wir hätten von nichts gewusst" ist dem Buch als Motto vorangestellt. Dieser Satz hat mich schon damals, als ich ihn zum ersten Mal las, gestört. Er stellt eine falsche Parallele her. Es geht im Roman um eine gefährliche Technologie, nicht um systematischen, planmäßigen Massenmord.
Dagegen ist eine andere Schwäche, nämlich der Mangel an Sachkenntnis, weniger gravierend. Schließlich ist sie weder Physiklehrerin noch Ärztin.
Unübersehbar auch, wie ihre desillusionierenden Erlebnisse im und nach dem Zweiten Weltkrieg die Art und Weise prägten, wie sie das Verhalten von Menschen in Krisensituationen schildert: das Muster einer Zweiklassengesellschaft, in der die "Bonzen", die "Mächtigen" oder auch nur die nicht ganz so schlimm Betroffenen brutal gegen die Opfer, die Flüchtlinge, die Widerstand Leistenden, vorgehen. In einer Katastrophe "geht die ganze Zivilisationstünche ab", dann denkt jeder nur an sich - von den wenigen idealistischen, alternativen, bunten "Guten" abgesehen. Dieses Schema zieht sich durch alle Pausewang-Romane, die ich kenne. Was bei realen Katastrophen zum Glück nicht so ist. Selbst nicht im organisatorischen Chaos des überfluteten New Orleans, in dem es wirklich schlimme Szenen und üble Willkür gab.

Sehr lesenswerter "Zeit"-Artikel über Gudrun Pausewang: Lehrerin der Angst
Tobias Kaufmanns ätzende, aber treffende, Überlegungen zum Film im Kölner Stadtanzeiger (ungekürzte Fassung des Artikels): Böser, schwarzer Edelpulli
(Kaufmann war übrigens als Zivildienstleistender in der Tschernobyl-Region gewesen.) Eine erweiterte Fassung, die Kaufmann nach Ansehen des Films schrieb: Böser, schwarzer Edelpulli
Ein Blick zurück auf Gudrun Pausewang, die Grünen und den Super-GAU

Auch zum Thema Tschernobyl, bei Distel: the death zone

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