Sonntag, 22. August 2010

1997 - Der Schritt aus der Besenkammer

Eine weitere autobiographische Episode über meinen "spirituellen Weg".
1974 - Sommer der Wandlung
1982 - Im Labyrinth der Eiszeit
1989 - "Paradigmas lost"

1997 war das Jahr, in dem ich mich zum ersten Mal öffentlich als "Neuheide" bezeichnete und zu GesinnungsgenossInnen - überwiegend "neuen Hexen" Kontakt aufnahm. Sozusagen ein "Coming out". Nach dem Klischee der auf Besen reitenden Hexen nennen amerikanische Wicca das öffentliche Bekenntnis, Hexe zu sein: "Coming out the broom closet".

1997 wird für viele Zeitgenossen als das Jahr in Erinnerung sein, in dem Princess of Wales Diana bei einem Autounfall starb. Was nüchtern betrachtet eines der unwichtigeren Ereignisse dieses Jahres war - Diana war nicht besonders schön, nicht besonders klug, nicht besonders wichtig - aber das Medienphänomen Di hatte sich schon längst von der realen, durchaus tragischen, Person gelöst.
Wichtiger für die Entwicklung der Welt seither war, dass bei den Wahlen zum britischen Unterhaus die reformierte (manche alte Sozialdemokraten sagen: deformierte) Labour Party ("New Labour") unter Tony Blair siegte. Jedenfalls zeigte seine Regierung, wie kapitalistisch und sozial rücksichtslos Sozialdemokraten sein können. Blair und seine "New Labour" war übrigens das erklärte Vorbild eines gewissen Gerhard Schröder, damals Ministerpräsident Niedersachsens.
Wichtig für die industrielle Entwicklung der "Volksrepublik" China war, dass Hongkong an China zurückgegeben wurde.
In Kyoto (Japan) fand eine internationale Klimakonferenz statt, auf der sich die Industrieländer verpflichten, ihre Treibhausgas-Emissionen zu senken. Ob das wichtig war, wird sich erst noch zeigen.
Ja, und in Deutschland regierte Helmut Kohl. Ein Ende oder eine Änderung war nicht abzusehen.
Was wirklich wichtig war: die Großmutter aller Onlinespiele, "Ultima Online", ging, na klar, online. (Gespielt habe ich das nie.) 1997 war auch das Jahr, in dem ich mir einen Internet-Zugang zulegte.

Image und Wirklichkeit passten wie bei Diana auch bei einer anderen prominenten Toten dieses Jahres nicht zusammen: bei Mutter Teresa. Sie war als Person ebenso ambivalent wie die christliche Ethik selbst.
Christopher Hitchens bezeichnete sie in seinem Buch "The Missionary Position" als "Gründerin eines Kults, der sich auf Tod und Leiden stützt". Womit er meiner Ansicht nach viel näher an der Wirklichkeit ist als ihr öffentliches Image eines selbstlosen "Engels der Armen". Immerhin scheint sie nach ihren Tagebüchern zu urteilen eine viel interessantere Persönlichkeit gewesen zu sein, als das fromme Heligenbild, dass die offizielle katholische Kirche von ihr malt. Keine Liebe, kein Glaube, eine von tiefen Zweifeln innerlich zerrissene Frau. Das Problem beim Katholizismus sehe ich darin, dass er dazu neigt, das Leid moralisch zu überhöhen und Leiden als Tugend darzustellen. In diesem Sinne verkörperte sie geradezu den Katholizismus. Mir persönlich kommt ihre Arbeit in den Slums von Kalkutta wie ein umgekehrter Mephisto vor: Sie war ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will - und stets das Böse schafft. Schon Anfang der 80er Jahre erzählte mir eine aus Kalkutta stammende Freundin, deren Vater dort Arzt war, dass die Hilfsbereitschaft ihres Ordens der "Missionarinnen der Nächstenliebe" zwar außer Frage stünde, aber dieser Orden mangels Sachkenntnis in der Krankenbetreuung und Sozialarbeit mehr Schaden als Nützen würde. Zum Beispiel sei selbst den heilbar Kranken kaum medizinische Hilfe zuteil geworden, die Zustände in den Heimen wären katastrophal gewesen. Noch vernichtender ist das, was Aroup Chatterjee, ein ehemaliger Mitarbeiter des Ordens, in seinem Buch The final verdict über Mutter Teresa schreibt: es hätte praktisch keine wirkliche Hilfstätigkeit des Ordens in Kalkutta gegeben.

Ich muss einräumen, dass unter anderem Mutter Teresa einiges dazu beigetragen hat, dass ich das Christentum als gut gemeinte, aber defekte Religion begriff, und mich ohne Scheu mit Alternativen beschäftigte. Zeitweilig fand ich das charismatische Christentum faszinierend - weil es eine der wenigen Richtung des Christentums ist, die wirklich von Spiritualität und persönlichem Glaubenserlebnis geprägt sind. Mir erscheinen die christlichen Großkirchen wie Religionsbehörden, in der herzlich wenig von "Gott", geschweige denn "Mystik" zu spüren ist. Bestenfalls leisten ihre Mitarbeiter recht gute Sozialarbeit, für die allerdings ein religiöser Überbau nicht von Nöten ist.
Nach außen hin machte ich bis 1997 auf "Agnostiker", manchmal sogar auf "Atheist" - innen war ich auf der Suche.
Apropos Suche - mir hätten damals Kriterien geholfen, anhand derer psycho-spirituelle Gruppen kritisch und differenziert betrachtet werden können: Pilzsuche im psycho-spirituellen Esoterik-Wald Als Faustregeln sind diese sechs Kriterien sehr brauchbar.

Aber wie kam ich auf die Idee, mich dem Neopaganismus zuzuwenden?
Ein Grund ist offensichtlich, dass ich es mit den "alten Göttern" und vor allem einer Göttin hatte. Aber ohne die Science Fiction- und Fantasy-Szene wären mir nicht zuerst die neue Hexerei und später Asatrú zugestoßen.

Feuerechsen
Dieses Aquarell heißt "Wunschdenken oder der Tanz der Feuerechsen". Es ist die gemalte Version einer Titelbildzeitung von Kirstin Tanger (damals noch: Scholz) für das von ihr herausgegebene Filk-Fanzines "Let's Filk about". Angesiedelt ist das Bild auf der "Drachenwelt" Pern aus Anne McCaffreys Science Fantasy-Zyklus Dragonriders of Pern. Die Flötenspielerin malte ich nach einer Zeichenpuppe und "frei nach Schnauze" - denn die Vorlage die ich gerne gehabt hätte, gab es noch nicht.

Viele Wiccas sind über The Mists of Avalon von Marion Zimmer Bradley, einem stark vom Wicca beeinflussten Roman, in dem die Arthus-Legende aus weiblicher Sicht nacherzählt wird, zum modernen Heidentum gekommen. Ich nicht, bei mir war es komplizierter.

Ich lese Science Fiction und Fantasy seitdem ich lesen kann. Allerdings stieß ich erst relativ spät zum "Fandom" - die deutsche SF-Szene schien mir eine Mischung aus eher säuerlicher Literaturkritik und Vereinsmeierei zu sein. Nach 1989 suchte ich Spaß an SF und Fantasy, Kontakt mit möglichst vielen, möglichst verschiedenen Menschen, Freunde am Selbermachen, Selbstschreiben, Weiterspinnen, Unterhaltung, Spinnerei bei Bier und Wein bis spät in die Nacht, Geselligkeit usw. - weshalb ich die "ernsthafte" SF-Szene nur am Rande berührte und mich mit Wonne in die bunte Welt eines "Star Trek"-Fanclubs stürzte. Später kam noch "Perry Rhodan" hinzu, aber auch sonst vieles, was bunt, phantastisch, abenteuerlich war. Ich hörte nicht auf anspruchsvolle SF zu lesen, aber ich fühlte mich bei den "Spinnern", Trekkies, LARPern usw. einfach wohl.
Um ein Haar wäre ich schon 1992 auf Asatrú gestoßen - genauer gesagt, stieß ich auf einem Science Fiction-Stammtisch auf zwei Asatrúar. Ich wusste aber im Groben und Ganzen über die deutsche "Heidenszene" der damaligen Zeit Bescheid. Sie war stark vom Armanen-Orden und seinem Umfeld geprägt, also deutlich "völkisch" bis braunstichig. Es gab zahlreiche "Möchtegern-Gurus", "Heidenfürsten" und ganz doll magische "Druiden", "Goden" oder "Hohepriesterinnen". Also begegnete ich den beiden Freunden der alten Göttern mit Misstrauen. (Aus heutiges Sicht: wahrscheinlich zu Unrecht.)
Nun gibt es ziemlich viele ziemlich bizarre Querverbindungen zwischen neuen Heiden / neuen Hexen und Science Fiction und Fantasy. Vor allem in der Fantasy gibt es ziemlich viele heidnische Autoren - Patricia Kenneally-Morrison, eine keltische Hexe, Marion Zimmer Bradley (bei ihr ist es allerdings umstritten - ich halte es für durchaus möglich, dass sie zugleich Wicca und auf ihre Art Christin war), Diana L. Paxson, die mit MZB zusammenarbeitete und eine der führenden Persönlichkeiten des "nicht-völkischen" Asatrú ist, Stephan Grundy, der dann doch eher zum "völkischen" Asatrú neigt, um nur Einige zu nennen. Aber auch nicht-pagane Fantasy und SF-Schreiber bedienen sich heidnischer Spiritualität - es ist kein Zufall, dass die erste neopagane Gemeinschaft, die in den USA als Kirche anerkannt wurde, die "Church of all Worlds", indirekt auf einem SF-Roman von Robert A. Heinlein beruht.
Es blieb also nicht aus, dass ich sowohl mit neuheidnischem Gedankengut wie mit echten, lebendigen neuen Hexen und Heiden in Berührung kam. Hätte ich allerdings keine entsprechende Neigung gehabt, hätte ich es ignoriert oder als Kuriosum abgetan.

Irgendwann "bastelte" ich mir, mit Hintergedanken in Richtung eines zu schreibenden Fantasy-Epos (das ich dann nie schrieb), eine "eigene" Patchwork-Religion. Ich merkte, dass ich mich immer stärker selbst "bekehrte", das heißt, meiner "Religion" für plausibel hielt. Irgendwann stolperte ich dann über Vivian Crowleys "Wicca: Die alte Religion im neuen Zeitalter" - und merkte, dass es "meine" Religion es längst gab: Sie nannte sich "Wicca". (Weniger mysteriös als es klingt, ich hatte mich bei zahlreichen Fantasy-Autoren bedient und alles verworfen, was ich für nicht plausibel hielt.)

Wenn man so will, war das SF- und Fantasy-Fandom eine mentale und personelle Vorbereitung dafür, dass ich "bekennender Neuheide" wurde.

Donnerstag, 19. August 2010

Ausweichthemen

Es gibt Themen, die sind wichtig und brisant.
Datenschutz zum Beispiel.
Sie liegen buchstäblich in der Luft. Es ist einfach nicht möglich, sie zu ignorieren.

Aber - diese Themen sind unbequem. Greift man sie als Politiker auf, dann besteht die Gefahr, Unterstützer und Parteispender zu vergraulen, sich beim Wählerklientel unbeliebt zu machen, sich innerhalb der eigenen Partei Feinde zu machen, dem politischen Gegner eine "Blöße" geben.
Greift man sie als Journalist auf, dann macht man sich bei Politikern unbeliebt, setzt Kontakte aufs Spiel, verärgert Werbekunden, riskiert Meinungsverschiedenheiten mit der Verlagsleitung.

Also sucht man sich ein Ersatzthema heraus. Ein scheinbar brisantes Thema am Rande des wirklich relevanten Themas. Brisante Themen im Bereich Datenschutz sind z. B. auf staatlicher Seite Vorratsdatenspeicherung (ja, immer noch nicht vom Tisch!), Volkszählung, ELENA, SWIFT-Abkommen mit den USA, Weitergabe von Fluggastdaten, elektronischer Personalausweis, Telekommunikationsüberwachung, aber auch der flächendeckende Einsatz von Überwachungskameras und vieles mehr. Auf Seiten der Privatwirtschaft: Mitarbeiterüberwachung, Weitergabe von Kundendaten, Weitergabe von Personaldaten, zweifelhafte Praktiken von Auskunfteien und Kreditüberwachungsinstituten, irreführende "Kundenkarten" und "Gewinnspielaktionen" zwecks Datengewinnung usw. und natürlich das riesige Fass des mangelhaften Datenschutzes bei "online communities" wie facebook.

Aber das sind Themen, mit denen man bei "wichtigen Leuten" und "relevanten Interessengruppen" anecken kann. Mit denen man sich unter Umständen unbeliebt macht.

Also wendet man sich lieber Themen zu, bei denen es zwar strenggenommen gar keine Probleme gibt - die aber unbedingt gelöst werden müssen! Und bei denen jemand der "Böse" ist, den man sowieso aus verschiedenen, teils nachvollziehbaren, teils auf Vorurteilen basierender Gründe sowieso nicht mag. Ja, ich meine das Sommertheater um Google Street View.

Geht es bei Street View überhaupt um Datenschutz, geht es überhaupt um Privatsphäre? Was mir vor allem auffällt, ist geradezu demonstrative Ahnungslosigkeit über Datenschutz und die tatsächliche Verletzung der Privatsphäre. Groteske Fehleinschätzungen bleibe da nicht aus. Aber die Angst vor Street View kommt aus der berechtigten, aber diffusen, Ahnung, dass die Privatsphäre missachtet wird. Das "Ausweichthema" Street View kanalisiert also Ahnungen und Ängste.
Nebenbei bemerkt, zeugt auch die "Lösung" Verpixelung von einer gewissen Weltfremdheit bzw. Phantasielosigkeit. Wäre ich Einbrecher und würde ich einen Bruch ausbaldowern, dann würden verpixelte Häuser mein Interesse daran wecken, die Häuser mal direkt in Augenschein zu nehmen. Denn im wirklichen Leben sind die ja nicht verpixelt - und die für einen erfolgreichen Bruch wirklich interessanten Details sind auf Street View ja sowieso nicht zu erkennen. (Foursquare wäre unter Umständen für potenzielle Einbrecher interessanter ...)
Es könnte auch andere geben, für die gerade verpixelte Häuser interessant sein könnten.

Street View ist nur eines von vielen Ausweichthemen, wenn die wirklich brisanten Themen zu heikel sind.

Dann geht es z. B. darum, ob die ausführliche Anamnese des homöopathisch tätigen Arztes von gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden sollten (und nicht etwa die homöophathischen Arzneimittel, die müssen sowieso privat bezahlt werden). Und nicht darum, wie die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung wirklich gewährleistet werden könnte. Oder um "unvermeidliche" Rationierungen. Oder auch um hohe Arzneimittelpreise. Oder um "erfundene" Krankheiten und Überdiagnostik. Oder vieles mehr, was am Gesundheitswesen wirklich und kostenträchtig im Argen liegt.

Dann geht es um die "Hartz-IV-Chipcard" für Bildungsleistungen (eine ziemliche windige Sache, an der ganz gut verdient werden kann) - und nicht darum dass das Bundesverfassungsgerichts die Bundesregierung auffordert, bis zum Ende des Jahres für alle Kinder und Jugendlichen das Existenzminimum zu definieren und sicherzustellen.

Auch das die deutschen Medien in geradezu hetzerischer Wesen über Griechenlands Wirtschaftskrise berichteten (und mit Klischee wie "faule Griechen" usw. nicht sparte), war offensichtlich ein Ausweichthema. Die Wirtschaftskrise ist, trotz (Pseudo-)Aufschwung, auch in Deutschland nicht überwunden. Es war auch kein Hauptthema, dass die "Medizin" für die "Krankheit" Griechenlands, das von IWF und EU erzwungenen brutale Einsparprogramm, nach aller ökonomischen Vernunft zur Deflation führen würde.

Montag, 16. August 2010

"Wenn du nicht mindestens einmal deine Meinung über das Thema geändert hast, hast du schlecht recherchiert"

Lesens- und beherzenswertes aus Lars Fischblog: Wie man den Stand der Forschung herausfindet - 13 Tipps für Blogger
Wenn du nicht mindestens einmal deine Meinung über das Thema geändert hast, hast du schlecht recherchiert
Es ist alles ein bisschen komplizierter, als es am Anfang aussieht. Zusätzliche Informationen bedeuten neue Perspektiven. Wenn sich deine Perspektive auf das Thema während der Recherche nicht verändert, deutet das möglicherweise darauf hin, dass du wenig wirklich neue Informationen sammelst.
Diese Erfahrung mache ich auch immer wieder. Dieser besondere Merksatz triff nicht nur auf das Gebiet des Wissenschaftsjournalismus oder auf Wissenschaftsblogs zu, sondern überall, wo überhaupt recherchiert wird.

Ich will aber nicht verschweigen, dass solche Erfahrungen manchmal irritieren, vor allem dann, wenn sie den Bereich der "reinen Wissenschaft" überschreiten. Vor Jahren brachten mich Recherchen über den Leukämie-Cluster im Gebiet Geesthacht arg ins Schwimmen. Denn sie ergaben offensichtlich, dass nicht nur, wie ich erwartete, die Kernkraftsbefürworter ein "taktisches Verhältnis zu Wahrheit" haben, sondern auch die Atomkraftgegner.

Eine andere Erfahrung, die ich einige Mal machen musste: für erstaunlich viele Menschen ist jemand, der nicht genau mit ihrer Ansicht übereinstimmt, automatisch ein "Gegner". Ich wurde z. B. von einem nicht ganz unwichtigen Umweltpolitiker der "Linken" in die Ecke der bösen "Klimaskeptiker" gestellt. (Ein saudummer Begriff, der mich zu einer Satire ermunterte: Neue Verschwörungsbücher aus dem ARIO-Verlag Die 2. "Buchvorstellung": "Klimaskepsis: Klima – gibt es das überhaupt?")
Das heißt: wer, wie ich, hinsichtlich der Aussagekraft von Klimamodellen Zweifel hat (ohne deshalb die globale Erwärmung als solche oder die Wirkung von menschlichen Aktivitäten auf das Klima zu bestreiten), und vor allem auf das "apokalyptische Denken" mancher (nicht aller) Klimaaktivisten hinweist, gehört offensichtlich zu den "Bösen". (Wobei ich meine Ansicht zum Klimawandel und seinen Folgen an sich im Laufe der Jahre mehrmals geändert habe.)

Ich vermute, dass dieses Denken in "gut-böse"-Gegensätzen, in "entweder/oder"-Alternativen und, in gesteigerter Form, in der Annahme, bestimmte Handlungsweisen seien "alternativlos", kulturell bestimmt ist. Jedenfalls entspricht es nicht dem wissenschaftlichen Denken.

Aber Denken in einfachen Gegensätzen ist (auch aus kulturellen Gründen) einfacher zu vermitteln, als "sowohl-als-auch", "weder-noch" oder gar: "so einfach sind die Dinge nicht". Mehr noch: ich habe den Eindruck, dass wir in einer Kultur leben, die, entgegen ihrer beinahe täglichen anderen Erfahrung, auf "ewige und einzige Wahrheiten" gepolt ist. Wäre das anders, hätten Spekulationen, die metaphysischen Annahmen als physische Ursache physischer Tatsachen heranziehen, wie das "Intelligent Design" als vermeintliche Alternative zum neodarwinistischen Evolutionsmodell, keine Chance. Einfach, weil "I. D." die Kategorien zwischen Psysik und Metaphysik, zwischen"wissenschaftlichen Theorien" und "sinnstiftenden Mythen", verwechselt: "Intelligent Design" ist etwa so, als ob ich, als Asatrú, ernsthaft einen Donnergott wie Thor irgendwo in den elektrostatischen Prozessen eines Gewitters unterzubringen versuchen würde.
Aber da die in Rede stehende metaphysische Annahme eine "ewige (Glaubens)-Wahrheit" ist, nämlich die Annahme, es gäbe einen "Designer", sprich Schöpfergott, und die gut bestätigte Evolutionstheorie "nur" eine Theorie auf dem derzeitigen Stand des Wissens ist, hat die "ewige Wahrheit", auch wenn sie im konkreten Fall unsinnig ist, gegenüber der "Theorie" bei vielen Menschen einen emotionalen Vorsprung.

Es sind meiner Ansicht also nicht nur Zeitdruck und Oberflächlichkeit, die gründlichen Recherchen, die unweigerlich Überraschungen bereit halten, im Wege stehen. Es sind auch nicht immer verfestigte Vorurteile, ideologische Scheuklappen und Interessengebundenheit, die einem offenen Umgang mit Fakten im Wege stehen.
Es ist auch und gerade die Angst vor unangenehmen oder unbequemen Überraschungen.

Sonntag, 15. August 2010

Senfbrötchen

Da jemand immer wenn er in mein Blog schaut, Lust auf Senfbrötchen bekommt, mal ein Senfbrötchen, das kein schnödes "Brötchen mit Senf" ist:

Käse-Senfbrötchen
Für ein Blech / acht Stück Senfbrötchen braucht man:

225 g Weizenmehl
3 TL Backpulver
50 g Butter (in kleine Stückchen)
125 g reifer herzhafter geriebener Hartkäse
1 TL Senfpulver
150 ml Milch
Eine Prise Salz
Pfeffer (aus der Mühle)
Zum Backen: am besten Backpapier benutzen: wie alle Milchbrötchen backen die Käse-Senfbrötchen beim Backen leicht am Blech fest!

Backblech mit Backpapier belegen.
Mehl , Salz und Backpulver in eine große Schüssel sieben.
Butterstücken daruntermischen.
Rühren.
Käse , Senfpulver und Milch einrühren.
Solange rühren, bis ein glatter Teig entsteht.
Den Teig auf einer bemehlten Arbeitsfläche durchkneten.
Eine etwa 2 1/2 cm hohen Scheibe aus dem Teig formen.
Die Scheibe in 8 kleine Dreiecke schneiden.
Mit etwas Milch bestreichen und nach belieben mit Pfeffer bestreuen.
Die Dreiecke in einem auf 220 Grad vorgeheizten Ofen 10 - 15 Minuten lange backen, bis sie goldbraun geworden sind.

Ich hoffe, dass niemand daraus schließt, dass auf meinem Blog nur alter Käse zu finden sei ...

Guten Appetit!

Samstag, 14. August 2010

"Menschenmaterial" - und ein untaugliches Mittel zum Schutz der Menschenwürde

Es ist das "Unwort des 20. Jahrhunderts", Karl Marx verwendete den Begriff kritisch, die oberste Heeresleitung im 1. Weltkrieg machte ihn "populär", Adolf Hitler benutzte den Ausdruck in zynischer Weise:
Menschenmaterial.
Der Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
entstand als Reaktion auf die Unmenschlichkeit Nazideutschlands. "Die Würde des Menschen ist unantastbar" bedeutet auch: "Die Würde des Menschen ist verletzlich." Sie wird unweigerlich verletzt, wenn ein Mensch wie eine Sache behandelt wird. Sogar dann, wenn die Motive gut und ehrenwert sind. Erst recht, wenn diese Missachtung aus "niedrigen Beweggründen" - Gewinnsucht, Machtstreben, Rassenhass - erfolgt. Ich bin geneigt, auch: "Nationales Interesse!", "Gemeinnutz geht vor Eigennutz!", "Wir können doch nicht jeden Einzelfall gerecht behandeln!" als "niedrige Beweggründe" zu sehen.
Eine traurige Tatsache ist, dass in der real existierenden Bundesrepublik Deutschlands des frühen 21. Jahrhunderts die
Würde des Menschen unter Finanzierungsvorbehalt steht, wie Ellen Diederich 2007 schrieb (und es ist nicht besser geworden seitdem).
Dass auch die gängige "Selbstoptimierung" auf beruflichen Erfolg hin eine "freiwillige" Missachtung der eigenen Würde sein kann, sei nur am Rande erwähnt. Sie ist eine Missachtung der Menschenwürde, wenn Menschen gezwungen werden, sich selbst zu optimieren - ich rede hier wohl gemerkt nicht von Fortbildungskursen oder so etwas.

Zurück zu dem Grund, weshalb der erste Artikel unserer Verfassung die Würde des Menschen zum Inhalt hat. Die Verbrechen der Nazis, ihrer Helfer, ihrer Helfershelfer und ihre Profiteure.
Nun ist das Dokument Geheime Reichssache Nr. II D 3 a (9) Nr. 214/42, unterschrieben von SS-Obersturmbannführer Walter Rauff, keine Neuentdeckung. Bereits vor 10 Jahren hatte dieses Dokument dem belgischen Psychoanalytiker Francois Emmanuel ein großes Erschrecken bereitet, wenn auch ein ganz anderes (weniger leidvolles) Erschrecken. Emmanuel zitiert in seinem kaum 100 Seiten langen Roman Der Wert des Menschen (das französische Original trägt den Titel Die Menschenfrage und spielt damit auf die Nazi-Rede von der ‘Judenfrage’ an) auf den Seiten 58 bis 63 das Dokument in voller Länge.

Emmanuels Erschrecken bezieht sich auf die verdinglichte Sprache der nihilistischen NS-Technokratie. Nüchtern betrachtet, bestimmte der Nazi-Staat den “Wert des Menschen” so, als ob der Mensch lediglich ein Rohstoff im industriellen Prozess sei. Die Idee vom “Menschen als Rohstoff “ ist uns heute nun aber keineswegs fremd, sondern begleitet uns auf Schritt und Tritt, etwa im Jargon “moderner Menschenführung” und “neuer Unternehmenskultur” (der Romanheld Emmanuels ist Betriebspsychologe), in den Diskussionen um “humanes Sterben” oder bei den öffentlichen Erläuterungen, wie viel ein gefallener Soldat (2,3 Millionen Euro) oder ein Unfalltoter (1,2 Millionen Euro) nun ‘wert’ seien.

Emmanuels kurzer Roman, der lange 144 Minuten lang verfilmt wurde, bringt die Methoden des nationalsozialistischen Massenmords mit neuesten Vorschriften effizienter Betriebs- und Lebensführung in Verbindung. Für Emmanuel gehorchte der Nationalsozialismus nicht etwa finsteren Mächten, sondern den Gesetzen der Effizienz. Und eben darum hält Emmanuel es für nicht ausgeschlossen, dass die für den Kapitalismus zugerichteten Menschen heute, ungewollt die Züchtungsfantasien des Nationalsozialismus mit anderen Mitteln fortsetzen.
aus Die Menschenfrage im Blog von Jörg Marx.

Es ist offensichtlich so, dass erst die Verdinglichung des Menschen, die Reduktion des Menschen aufs "Menschenmaterial", den industriell betriebenen Massenmord möglich machte. Die Ziele der Nazis waren irrational, ihre Mittel höchst rational im Sinne der instrumentellen Vernunft. Ich muss Emmanuel leider recht geben: im Großen und Ganzen lief die "Eugenik" der Nazis ja auch eher auf die "Züchtung" von gesundem und belastbarem "Menschenmaterial" und die "Ausmerzung" der "Minderwertigen" hinaus, als auf die wage bleibende Idee eines "Übermenschen". Das ist von den Zielen moderner Zurichter und Selbstoptimierer gar nicht so weit entfernt. Und auch der "Sozialdarwinismus" ist ja wirklich nicht ausgestorben, sondern feiert, notdürftig getarnt, ein "Revival".

Einen scheinbar wirksamen Weg, zwar nicht gegen die Verdinglichung des Menschen, aber doch zur Eindämmung ihren schlimmsten Folgen, geht die katholische Kirche. (Ich meine damit im folgenden konkret die römisch-katholische Kirche.)
Ihr moralischer Grundsatz ist, dass jeder Mensch von Gott gewollt ist. Kein Mensch hat das Recht, einen Menschen der von Gott geschenkten Gabe des Lebens zu berauben. Das gilt von Moment der Zeugung bis zum Moment des natürlichen Todes. Abtreibung, Sterbehilfe, Selbsttötung sind moraltheologisch gesehen Mord.

Der Historiker und Journalist Götz Aly behauptet, dass die konsequente und harte katholische Ethik sich trotz der "beschämenden Kompromisse", die die katholische Kirche im "Dritten Reich" gemacht hat, bewährt hat.

Aly beschäftigte sich in seinem Buch "Macht, Geist, Wahn - Kontinuitäten deutschen Denkens" (Argon, Berlin, 1997) unter Anderem mit der Frage, wieso es im "Osten", pro 10000 Einwohner gerechnet, weit mehr als doppelt so viele rassistische Gewalttaten gibt wie in den Länder der "alten BRD". Es gibt außerdem im Osten wie im Westen ein signifikantes Nord-Süd-Gefälle: In Schleswig Holstein gibt es - bezogen auf 10000 Einwohner - mehr als vier mal so viele rassistische Übergriffe wie in Bayern, in Mecklenburg-Vorpommern gibt es mehr als drei Mal so viele wie in Thüringen.
Diese statistischen Angaben sind nachprüfbar zutreffend. Interessant ist Alys Deutung: Mit Ausnahme der Staatstaaten, die er als "kosmopolitisch-amerikanisiert" bezeichnet, würden Arbeitsemigranten, Flüchtlingsfamilien und Asylsuchende mit Abstand am wenigsten gefährdet dort leben, wo der Konservatismus traditionell stark wäre - in Bayern.
Im historischen Rückblick entspräche die Verteilung rassistischer Gewalttaten im wesentlichen der Erfolgskurve der NSDAP in den Wahlen 1928 und 1932.
Die deutliche statistische Kongruenz von NSDAP-Wahlerfolgen und der gegenwärtigen Verteilung rassistischer Gewalt verwiese laut Aly nicht auf eine spezifische Kontinuität zwischen Alt- und Neonazis, sondern auf die tiefere Gemengelage der deutschen Gesellschaft. Was Bayern vom Norden und Osten wesentlich unterscheiden würde, wäre der Katholizismus. Nicht im Sinne fleißigen Kirchgängertums, sondern im Sinne der damit zwingend verbundenen Differenz zwischen Staat und Gesellschaft. Etwas verkürzt: für einen "Preußen" sind Staat und Gesellschaft quasi dasselbe. Da die protestantische Kirche freiwillig darauf verzichtete, Einfluss auf die weltliche Macht zu nehmen, lieferte sie die Gesellschaft dem preußischen Autoritarismus aus.
Wer aber Gesellschaft als beglückende Staatsveranstaltung von oben versteht, der nimmt der bürgerlichen Freiheit und Verantwortung den Atem. Wo das Volkswohl triumphiert, haben die Fremden ihr Recht verloren.
Alys Darstellung wirft zwei Fragen auf:
Ist der Katholizismus eine wirksame Gegenkraft gegen die Naziideologie und Rassismus?
und
Sichert die strikte katholische Moral die Menschenwürde?

Die erste Frage ist nicht so leicht zu beantworten, wie es die von Aly angeführten Statistiken nahe legen. Unter den beherzten katholischen Geistlichen, die sich gegen die "Euthanasie"-Morde wehrten, hatten viele nichts dagegen, die Waffen für den "Kreuzzug gegen den gottlosen Bolschewismus" zu segnen.
Es gibt Hinweise darauf, dass die "Staatsgläubigkeit" der Bürger in den ehemals preußischen Teilen Deutschlands ausgeprägter ist als in Bayern und Baden-Würtemberg - zum Beispiel wird im Süden bei Nachbarschaftsstreiterei nicht so schnell die Polizei gerufen wie im Norden, was eine Spätfolge des preußischen Modell einer Einheit zwischen "Gesellschaft" und "Staat" sein könnte. Ob die Konfession dabei der entscheidende Faktor ist, ist meiner Ansicht nach fraglich, denn auch in protestantischen Gegenden Südwestdeutschlands ist das Misstrauen gegenüber der "Obrigkeit" ausgeprägt. Dass die Stadtstaaten heute einen relativ geringen Anteil an rassistischen Gewalttaten haben und für die historischen Nazis kein einfaches Pflaster waren, hat meiner Ansicht nach etwas mit der Soziologie von Metropolen zu tun, aber wenig mit einer "Amerikanisierung", von einer kosmopolitischen Einstellung gar nicht zu reden.
Jedenfalls ist es eine historische Tatsache, dass Faschismus (in jeglicher Form) und Katholizismus gut miteinander auskamen. Die katholische Ethik war zwar stark genug, um eine wirksame Opposition gegen Morde an Behinderten zu bilden, versagte aber bei den Morden an Juden ziemlich jämmerlich.
Ob der Katholizismus eine Gegenkraft gegen Rassismus ist, kann ich nicht Beantworten.

Dass die strikte katholische Moral die Menschenwürde sichert, wage ich zu bezweifeln.
Ich bin ganz entschieden der Ansicht, dass eine auf Werten aufgebaute Ethik die Menschenwürde schützt - was allerdings entschieden von den Werten, die diese Ethik ausmachen, abhängt.
Die entscheidende Stärke der katholische moralischen Normen ist der Lebensschutz: Leben ist ein Wert an sich, und Leid und Passion sind Bestandteile des Lebens. Eine Lebensauffassung, die vor einen reinen Utilitarismus schützt, denn das utilitaristische Prinzip, dass alles, was das Glück in der Welt maximiert, rechtes Handeln sei, verführt meiner Ansicht nach allzu leicht dazu, ein leidvolles Leben als wertlos anzusehen. Der für die Menschenwürde gefährliche Ansatz: "Das Wohl der Vielen wiegt mehr als das Wohl der Wenigen; oder des Einzelnen" ist für einen Utilitaritaristen eine stete Verführung, für einen überzeugten Katholiken hingegen indiskutabel. Das Problem beim Katholizismus sehe ich darin, dass er dazu neigt, das Leid moralisch zu überhöhen und Leiden als Tugend darzustellen.
Die große Stärke - und zugleich das größte Problem - der katholischen Ethik ist ihre Konsequenz. Der Schutz des Lebens beispielsweise gilt ungeteilt, für Behinderte und chronisch Kranke, was sie vor "wirtschaftlich nützlichem Frühableben", also absichtlicher Vernachlässigung oder verdecktem Mord schützt, aber eben auch für ungeborenes menschliches Leben. Dem Problem, wo in einer "Grauzone" die Grenze des moralisch Zulässigen ist, begegnet diese Ethik damit, dass sie keine "Grauzone" zulässt: alles, was nicht "weiß" ist, ist nicht etwa "grau" sondern "nichtweiß". Also: auch eine befruchtet Eizelle genießt die volle Menschenwürde. Keine Kompromisse. Auch wenn aus den meisten befruchteten Eizellen nie ein Embryo, geschweige denn ein lebensfähiger Mensch, wird.
Ein Problem für die Menschenwürde ergibt sich daraus, dass das menschliche Recht zur Selbstbestimmung da endet, wo es göttliche Gebote gibt. Gebote, deren Interpretationshoheit bei der katholischen Kirche liegen. So gehört zu den unveräußerlichen Rechten des Menschen nach katholischer Auffassung die Fähigkeit, sich fortzupflanzen, die ihm auch niemand streitig machen darf. Was der Einzelne mit dieser Fähigkeit tut, verantwortet er allein vor Gott - niemand darf sich einmischen. Auch freiwillige Sterilisierung ist gegen den Plan Gottes (der offensichtlich irgendwo im Vatikan aushängen muss), ob und in welchen Formen die Empfängnisverhütung zulässig sei, ist eine der "Dauerbaustellen" der katholischen Morallehre. Andererseits gibt kein Recht auf Sexualität, geschweige denn sexuelle Erfüllung - genauer gesagt: bis auf den "ehelichen Beischlaf" ist jeder Sex Sünde. Das katholische Ideal ist also ein Mensch, der seine Sexualität jederzeit unter Kontrolle hat und sie allenfalls zu Fortpflanzungszwecken in der Ehe gebraucht. (Sexuelles Verlangen ist nach dem Kirchenvater Augustinus Teil unserer Bestrafung für Adams Sünde.)

Die ethischen Konsequenzen aus der konsequenten katholischen Ethik sind jedenfalls manchmal erschreckend: Wenn Hubert Hüppe (CDU), der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, fordert:
Die Präimplantationsdiagnostik muss jetzt ausdrücklich verboten werden.
dann handelt er in voller Übereinstimmung mit der katholischen Ethik.
Obwohl ich einer utilitaristischen Ethik gegenüber skeptisch bin: Es ist meiner Ansicht nach legitim, wenn Eltern, die genetisch vorbelastet sind, gesunde Kinder haben wollen. Ob sie sich für ein eventuell behindertes Kind entscheiden, mit allen Konsequenzen, die sich aus einer solchen Entscheidung ergeben, ist nach meiner Auffassung allein Sache der Eltern. Da hat sich auch niemand einzumischen, keine Krankenversicherung, keine Politiker und schon gar keine medizinischen Berater mit eugenischen Ambitionen. Und auch keine Kirche, die sich anmaßt, "Gottes Willen" zu kennen, und diesen über die Selbstbestimmung des Menschen stellt.
Das Selbstbestimmungsrecht des Menschen steht der Instrumentalisierung der Menschen, ihrer Zurichtung nach den Maßstäben wirtschaftlicher oder politischer "Nützlichkeit" entgegen. Deshalb ist es für die Würde des Menschen unverzichtbar!

Als Nichtchrist und Humanist fällt es mir außerdem schwer, eine ausdrücklich christliche Begründung der Menschenwürde, nämlich die "Gottesebenbildlichkeit des Menschen", zu akzeptieren.
Wobei die Vorstellung, die Würde des Menschen sei quasi eine christliche Errungenschaft und nur in einer christlichen Gesellschaft gewährleistet, aus meiner Sicht unangenehm weit verbreitet ist.
Für eine säkulare und pluralistische Gesellschaft taugt sie jedenfalls nicht.

Donnerstag, 12. August 2010

Aus der Wunderwelt der gut-doofen Filme: Das Dschungelbuch (Disney)

Die meisten "gut-doofen" Filme sind doof, aber trotzdem irgendwo, auf ihre Weise, gut.
Dieses Mal geht es um einen Film, der wirklich gut ist, sogar zurecht als Klassiker und Meisterwerk seines Genres gilt - aber zugleich wirklich grottenolmig dämlich ist. 100 % gut, 100 % doof - und derselbe Film. (Das ist so ähnlich wie mit dem Welle-Teilchen-Dualismus in der Quantenphysik - die damit auch für das Gebiet der Filmkritik ihre Gültigkeit beweist Zwinkern.)

Es geht um den Zeichentrickfilm Das Dschungelbuch.

Der letzte von Walt Disney selbst produzierte Zeichentrickfilm gilt zurecht unter nicht wenigen Filmfreunden als der beste Film aus Disneys Werkstatt. Andere finden ihn grässlich - ebenfalls zurecht.
Das Dschungelbuch polarisierte vor allem amerikanische Kritiker. Einige Lobeshymnen feierten den Film, weil er etwas völlig Eigenständiges aus der Vorlage gemacht habe, die Songs wahre Ohrwürmer und die Animationen und Hintergründe Glanzleistungen seien. Doch gab es auch harsche Kritiken, die dem Film einen Mangel an Atmosphäre und Spannung vorwarfen. Mittelmäßige Kritiken fanden sich kaum.
Das Dschungelbuch (1967) (wikipedia.de)

Warum ist "Das Dschungelbuch" ein richtig guter Film? Zwar wird in praktisch allen abendfüllenden Disney-Filmen ausgiebig gesungen, aber das Konzept eines Zeichentrick-Musicals wurde bei Disney vorher und später nie so konsequent umgesetzt. Der Film hat alle Stärken der "klassischen" Disney-Filme, besonders die liebevolle zeichnerische Gestaltung. Er profitiert sehr davon, dass die für viele Disney-Filme typische sentimentale Liebesgeschichte auf ein Minimum reduziert wurde - und damit die Gelegenheiten, Disney-Kitsch unterzubringen. Das "Dschungelbuch" ist, selbst wenn man strenge Maßstäbe anlegt, kindgerecht, aber auch für Erwachsene unterhaltsam.
Vor allem aber profitiert der Film von der Musik. Das bekannteste Lied ist "The Bare Necessities" ("Probier's mal mit Gemütlichkeit") (von Terry Gilkyson, Oscar-Nominierung). Die deutsche Fassung ist meiner Ansicht nach eines der wenigen Beispiele für einen deutschen Text eines Disney-Film-Songs, der mindestens so gelungen ist wie das Original - wahrscheinlich, weil die deutsche Fassung streng genommen keine Übersetzung, sondern eine Neudichtung ist:


Die liebevolle deutsche Synchronfassung, die auf einer größtenteils sehr freien Übersetzung des Originals beruht, trug viel dazu bei, dass "Das Dschungelbuch" im deutschen Sprachraum einen "Kultstatus" erwarb, den der Film in den USA niemals erreichte. Ich kenne die deutsche und die englische Fassung, und habe den Eindruck, dass die deutsche Fassung viele Schwächen des Originaldialogs ausbügelte und einfach witziger ist. Ich kann die US-Kritiken, die "The Jungle Book" zu wenig Atmosphäre vorwarfen, nach dem Ansehen der Originalfassung zumindest nachvollziehen.

Aber "Das Dschungelbuch" ist auch ein richtig doofer Film. Nicht deshalb, weil es mit seinen lustigen Buschbewohnern ein Etikettenschwindel ist, denn das Zeichentrick-Musical hat mit Rudyard Kiplings "The Jungle Book" bis auf einige Elemente der Grundhandlung und die Namen der Protagonisten nichts gemeinsam. Walt Disney wollten einen heiteren, witzigen Film für die ganze Familie und bekam ihn, auch wenn das bedeutete, dass die enger an Kipling angelehnten, also düstereren und dramatischen, ursprünglichen Storyboards und die komponierten Filmsongs (bis auf "The Bare Necessities") verworfen wurden.
Dieser Etikettenschwindel schadet dem Film nicht - wohl aber dem Ruf der für "jugendbuchverhältnisse" ziemlich philosophisch angelegten literarischen Vorlage.
Aus der Sicht wohl aller halbwegs auf inhaltliche Tiefe und die Integrität ihrer Schöpfungen bemühten Schriftsteller wäre es ein mittelschwerer Alptraum, ihr Werk auf diese Weise "disneyfiziert" zu sehen.

Noch zu Lebzeiten von J.R.R. Tolkien sicherte sich Walt Disney 1956 die Filmrechte am "Der Herr der Ringe". Allerdings empörte sich Tolkien derart über den ihm zwei Jahre später vorgelegten Drehbuchentwurf, dass er testamentarisch verfügen ließ, eine Verfilmung seiner Werke durch Disney zu verbieten. 1959 zog Disney dann seine Option zurück. Ich habe wenig Zweifel daran, dass Joseph Rudyard Kipling zu Lebzeiten ähnlich gehandelt hätte.

Disney bekannte sich nicht nur dazu, reine Unterhalt zu produzieren - was ja nichts Verwerfliches ist - sondern kultivierte geradezu die Oberflächlichkeit seiner Filme. Er wollte keine Kunst produzieren. Dass die ambitionierteren Filme "Phantasia" und "Dornröschen" (aus Disney erfolgsverwöhnter Sicht) erst einmal (relative) kommerzielle "Flops" waren, bestätigte ihn in seiner Haltung, dass zu viel Niveau nur das Publikum vergrault. Ein tieferer Grund mag gewesen sein, dass Disney politisch sehr konservativ war, und sich vor politischen und gesellschaftskritischen Deutungen der unter seiner Leitung entstandenen Werke geradezu gefürchtet zu haben scheint. Ein einfaches Gegenmittel: Was keine Tiefe besitzt, lässt auch keinen Raum für Ausdeutung.
Dem Konzept der absichtlichen Oberflächlichkeit blieben auch seine Nachfolger weitgehend treu.

Das "Dschungelbuch" passt in eine in sehr vielen Disney-Produktionen (von "Schneewitchen" über "König der Löwen" bis "Findet Nemo") immer wiederkehrende "Disney-Standard-Storyline": Ein Kind verliert seine Eltern oder wird von ihnen getrennt, das Kind muss eine Reise antreten und schließt dabei Freundschaft zu eher "zwielichtigen" Charakteren, die es begleiten. Es gibt Verschwörungstheoretiker, die darin eine verborgene, manipulative Agenda sehen, vor allem, wenn sie wissen, wie weit politisch rechts Walt Disney stand. Ich sehe darin eine einfache Formel, die funktioniert und deshalb ohne viel nachzudenken wieder und wieder angewendet wird. Im Falle des "Dschungelbuchs" war es wohl eine zu einfache Formel. Am Besten lässt sich dieser ausgesprochene Nichtdenkerstreifen genießen, wenn man ihn als Nummernrevue oder als Aneinanderreihung von Musikvideos sieht, und die Handlung dazwischen nicht weiter beachtet.

Zur Zeit seiner Erstaufführung (1967 / 68) wurde "The Jungle Book" in den USA sogar Rassismus vorgeworfen. Aus heutige Sicht und aus europäischer Perspektive wirkt das überzogen. Sieht man aber den Film vor dem Hintergrund der Rassenunruhen der 60er Jahre, der Bürgerrechtsbewegung und den politischen Morden an Malcom X, Martin Luther King und Robert Kennedy an, dann ist ein gewisses Unbehagen nachvollziehbar. Der Affenkönig King Louie war wahrscheinlich nicht absichtlich rassistisch gemeint - vielleicht war er sogar eine humorvolle Hommage an den "King of Jazz" Louis Armstrong. Aber 1967 / 68 stieß es unangenehm auf, dass ein Orang-Utan aus dem Dschungel einen als "schwarz" geltenden New Orleans-Akzent spricht (obwohl er vom "weißen" New-Orleans-Jazzer Louis Prima synchronisiert wurde) "schwarze" Musik, also Jazz, macht und einige (eindeutig einer "schwarzen" Tradition entstammenden) Scat-Einlagen bringt. Der Rassismus-Vorwurf kam daher, dass King Louis gerne genauso wäre wie Mowgli, der, obwohl eindeutig als indischer Junge gezeichnet, wohl als "weiß" eingeordnet wurde: "I Wanna Be Like You". Die Interpretation, dass sich "Das Dschungelbuch" über "Affen" lustig macht, die gleichberechtigt sein wollen, was nur Chaos und Zerstörung nach sich zieht, ist vielleicht doch nicht völlig an den Haaren herbeigezogen.
Viele Kritiker werden sich an den 1946 erschienene Disney-Film "Song of the South" ("Onkel Remus' Wunderland") erinnert haben, der deutliche rassistische Untertöne hat. Der von James Baskett gespielte Schwarze Sklave Remus war so einfältig angelegt, dass ihm sogar der Zeichentrickhase "Meister Lampe" intellektuell überlegen war. (Wahrscheinlich aus Image-Gründen ist "Onkel Remus' Wunderland" nie auf DVD herausgekommen, trotz des Wunsches vieler Fans.) Übrigens war Mowgli die erste nicht eindeutig "weiße" menschliche Hauptperson in einem Disney-Zeichentrickfilm. Bis zur ersten eindeutig "schwarzen" Disney-Trickfilm-Hauptfigur sollten weitere 40 Jahre vergehen.

Dass Disneys "Dschungelbuch" unterhaltsam, aber strohdumm war, fiel mir übrigens schon als Junge auf, wenn auch nicht gleich beim ersten Ansehen - ich sah den Film das erste Mal an meinem 7. Geburtstag. Als ich ihn, so mit 9, zum zweiten Mal sah, fielen mir, als elend altklugem Besserwisser, Typ "kleiner Professor", zahlreiche "Fehler" auf - mir wären noch mehr aufgefallen, wen ich Kiplings "Das Dschungelbuch" damals schon gelesen hätte. Der auffälligste Fehler: Woher hat Mowgli seine unverwüstliche und anscheinend mitwachsende rote Hose? (Kein selbst gemachter Ledenschurz wie der von "Tarzan", der noch irgendwo plausibel war.) Es ist bezeichnend, dass ich sprechende Tiere, jazzende Affen und hypnotisierende Schlangen weitaus leichter akzeptierte ...

Sonntag, 8. August 2010

1989 - "Paradigmas lost"

Nach langer Zeit - und nach vielen Bedenken - setze ich die Reihe meiner autobiographischen Episoden über meinen "spirituellen Weg" fort.
1974 - Sommer der Wandlung und 1982 - Im Labyrinth der Eiszeit

1989 war ein Jahr einschneidenden politischen Wandels. Es war auch das Jahr, in dem für mich vieles anders wurde - auf eine Weise, die ich vorher für nicht möglich gehalten hätte.

Das unten stehende Bild malte ich im März 1989. Das es im März geschah, ist wichtig, denn das Bild ist keine Anspielung auf den Fall der "Mauer", wie viele, die das Bild später bei mir sahen, meinten.
Es ist eines meiner "Comic-Bilder", d. h. zuerst mit schwarzer Tusche gezeichnet, dann mit Deckfarben koloriert. Tatsächlich ist es eine Szene aus einem Roman von Robert A. Heinlein "Methuselah's Children" ("Die Ausgestoßenen der Erde"). Aber ich räume ein: das Bild spuckte mir schon monatelang in meinen Kopf herum, bis ich es malte.
Methusala's Children

Die optimistischen Erwartungen an mein Leben, die ich noch wenige Jahre zuvor hatte, waren bitter enttäuscht worden. Es war nichts mit dem erfolgreichen Studium, nichts mit der schönen Wohnung, der harmonischen Partnerschaft - die illusorischen Seifenblasen platzten. Was alles in meinem Leben in den "80ern" schief ging, gehört nicht in ein öffentliches Blog. Es wäre zu dramatisch (und nebenbei eines jener literarischen Klischees, die man im echten Leben praktisch nie trifft), wenn ich behaupten würde, dass ich durch einige Schockerlebnisse aus meiner Traumwelt in die Wirklichkeit gerissen worden wäre. Denn so "verträumt" und "weltfremd" waren meine Vorstellungen, was ich mit dem Leben anfangen wollte, ja nicht - ich wollte "nur" das, was auch andere wollten: Wohlstand, Karriere. Und ich wollte nur nicht auffallen, nur nicht anecken - das "wahre Leben" findet da statt, wo es Außenstehende nicht zu sehen bekommen. Tatsächlich habe ich damals gern nach außen hin den braven, wenn auch etwas "nerdigen" jungen Mann dargestellt. Hauptbedürfnis: Lasst mich gefälligst in Ruhe! Wie es drinnen bei mir aussieht, das hat niemanden etwas zu interessieren.
Und es ging bergab. Mit meinen Nerven, meinem Studium, meinen Beziehungen.
Besser wurde es erst, als ich endlich die Kraft fand, mich mit meinem eigenen Versagen auseinander zu setzen, eine nüchterne Bilanz zu ziehen, und meinen Lebensweg entsprechend den äußeren Gegebenheiten und einer realistischen Einschätzung meiner Fähigkeiten anzupassen. Dass mich dieser Erfolg dazu verleitete, die Selbstkritik irgendwann bis zum Selbsthass - paradoxerweise verbunden mit einem Hang zum weinerlichen Selbstmitleid - zu steigern, und meinem ohnehin vorhandenen Hang zum autoaggressiven Verhalten Vorschub zu leisten, wirkte sich ja erst später aus.
Erst einmal ging es, langsam, mit Rückschlägen, bergauf. 1989 wohnte ich in einer bescheidenen eigenen Wohnung, hatte eine bescheidene berufliche Perspektive und genoss ein bescheidenes privates Glück.

Politisch war 1989 ein Jahr, in dem vieles geschah, was noch kurz zuvor als unrealistische Träumerei verworfen worden war. Es wurde alles anders - anders, als es uns im Poltikunterricht erzählt worden war, anders, als es im Politik-Teil der Zeitungen stand, aber auch anders als auf den endlosen politischen Diskussionen im Umfeld der "Grün-Alternativen", zu denen ich mich zählte. Mehr "alternativ" als "grün" im damaligen Verständnis übrigens. Das Klischee des in ungefärbte Wolle gekleideten Birkenstock-Trägers, das damals wirklich auf einige "Grüne" zutraf, erfüllte ich nie. Wichtiger war, dass ich ein ausgesprochener Computer-Fan mit positivem Verhältnis zur beinahe (!) aller High-Tech war - ich begriff technischen Wandel als Chance. Vielleicht kann ich behaupten: ich begriff überhaupt Wandel als Chance, was eine stetige Quelle für Meinungsverschiedenheiten mit konservativen Zeitgenossen war. Auch damals schon waren die "Grünen" viel konservativer, als es ihr "alternatives" Image nahe legte.

Im Nachhinein ist es fast amüsant, wie unsicher und irritiert hier im "Westen" die Reaktion auf die revolutionären Prozesse im "Ostblock" waren. Das traft nicht nur auf jene Zeitgenossen zu, die gerne den Sonntagsreden über "Überwindung der deutschen Teilung" gelauscht hatten oder selber welche hielten, und die nun ohne Konzept und Plan sozusagen mit heruntergelassenen Hosen dastanden. Es traft auch auf die zu, die von Abrüstung und einer dauerhafter Friedenslösung in Europa träumten. Es war die Angst, dass Veränderungen im politischen Machtgefüge "Krieg" bedeuten könnten, die lähmte und konservativ machte. Im Herbst 1989, mitten in der "Wende", behaupte jemand, der immerhin u. A. Lehrer für Politik war, dass das, was da in der DDR und sonstwo "im Osten" vor sich ginge, gar keine Revolution wäre. Obwohl er kein Kommunist war und nicht die geringste Sympathien für den "real extistierenden Sozialismus" im Ostblock hatte, hielt er die sich abzeichnende "Wende" für einen Staatsstreich politischer Abenteurer und verantwortungsloser Demagogen. (Später, nach dem "Anschluss" der DDR, war seine Welt wieder in Ordnung: ganz klar, die DDR war auf kaltem Wege erobert worden! Wohlgemerkt, der Mann hätte einem SED-Funktionär oder einem DKP-Mitglied nicht die Hand gegeben und war nach eigenen Angaben FDP-Wähler.)
Mir ist auch noch gut ein Gespräch zweier älterer Frauen, die beide den 2. Weltkrieg bewusst miterlebt hatten, am Morgen des 10. Novembers 1989 in Erinnerung: "Ich hätte nie gedacht, dass so was ohne Krieg abgeht." - "Hoffen wir, dass es so friedlich bleibt." Der "Fall der Mauer" ohne Krieg - daran hatten diese Frauen niemals gedacht. Es widersprach ihrer Lebenserfahrung.

Viele Paradigmen (im Sinne der Wissenschaftstheorie von Thomas S. Kuhn) "konkrete Problemlösungen, die die Fachwelt akzeptiert hat") waren im Jahre 1989 verloren gegangen.

Auch mir ging 1989 ein "Paradigma", eine Grundannahme, auf der mein Modell der Wirklichkeit beruht, verloren. Die Grundannahme eines linearen Flusses der Zeit, vom Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
In einem Betrieb, in dem ich für ein Praktikum arbeitete, arbeitete auch ein bemerkenswerter Mann. Er arbeitete nur noch in Teilzeit, denn den größten Teil seine Einkommens erwarb er mit Spekulationen - und zwar spekulierte er mit Optionsscheinen. Optionscheine sind eine besonders risikoreiche Anlageform, und Spekulation mit Optionsscheinen wird, mit einigem Recht, mit Zocken am Roulettetisch verglichen. Der gute Mann schaffte das, was eigentlich unmöglich war: ein nicht überwältigendes, aber recht ordentliches und vor allem konstantes Einkommen mit Optionsschein-Spekulation zu erreichen. Er erklärte mir auch den seiner Meinung nach vorhandenen Unterschied zwischen reinen Glücksspielen und Spekulationen: auf dem Optionsmarkt regiert nicht allein der reine Zufall. Aber was ist der Unterschied genau? Für eine Vorhersage der ganzen komplizierten Kausaltätskette, die den Wert einer Option bestimmt, reichte sein Wissen nämlich nicht aus.

Mehr noch als dieses "realweltliche" Erlebnis prägte ein bemerkenswerter Traum meine spirituelle Entwicklung. Wenn es mir schon vorher trotz meiner eher skeptischen Einstellung zum Thema "PSI" ausgesprochen schwer fiel, "außersinnliche Wahrnehmungen" immer als "Wunschdenken", "Betrug", "Wahnvorstellungen", "neurotische Wahrnehmungsstörungen" oder "Mißdeutung bekannter Phänomene" einzuordnen, war es mir von da an praktisch unmöglich, an jener Weltsicht festzuhalten, von der ich gelernt hatte, dass sie die allein vernünftige sei.

Es war nicht der erste Wahrtraum, den ich erlebte. Tatsächlich habe ich "so was" relativ regelmäßig. Ich hatte auch schon "prospektive Wahrträume", also hatte zukünftige Ereignisse im Traum erlebt.

Lange Zeit konnte ich die beunruhigenden "prophetischen Träume" "vernünftig" erklären. Ein Erklärung ist, dass ich jede Nacht mehrere Stunden träume, und es schon deshalb gelegentlich zu zufälligen Übereinstimmungen zwischen Traum und tatsächlichem Geschehen kommen muss.
Außerdem beziehen sich Wahrträume - ob prophetisch oder nicht - meistens auf persönliche Dinge. Solche Dinge sind für mich durchaus zu einem gewissen Grad vorhersehbar. Daneben gibt es bei Dingen, die ich selbst beeinflussen kann, immer die Gefahr einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung.
Entscheidend ist aber, dass ich, wie die meisten Menschen, dazu neige "Vorzeichen", die nicht in Erfüllung gingen, zu ignorieren und geglückte Prophezeihungen bevorzugt im Gedächtnis zu behalten.

In der Nacht zum 30. April 1989 (ich führte damals Tagebuch) geriet dieses einfache Erklärungsmodell ins Wanken, als ich einen total verrückten Traum hatte.
Ein russisches (damals sowjetisches) Jagdflugzeug zerschellte in diesem Traum in Belgien. Dann "lief" der Traum episodenhaft ab, und zwar in umgekehrten zeitlicher Abfolge. Es hatte zuvor die (damalige) BRD im Tiefflug überquert - mit offener Cockpithaube. Ich konnte erkennen, dass die Maschine ein Typ mit Schwenkflügeln war und erfuhr dann (im Traum), dass die Maschine auf einem Luftwaffenstützpunkt in Polen bei Kolberg gestartet war.

Am 4. September 1989 - und nicht, wie ich mich später zu erinnern glaubte, nur eine Woche später - durchquerte eine sowjetische MiG 23 (ein Schwenkflügler) den westdeutschen Luftraum. Der Pilot hatte sich kurz nach dem Start auf einem Fliegerhorst bei Kolberg (Polen) mit dem Schleudersitz aus der Maschine katapultiert. Von Autopiloten gelenkt, nahm die Maschine Kurs nach Westen - mit offenstehendem Cockpit. Die Maschine stürzte dann Belgien ab.

Schon daran, dass ich mich an das Datum der Eintreffens der "Prophezeihung" nicht richtig erinnerte, zeigt, wie trügerisch das "chronologische Gedächtnis" sein kann. Hätte ich nicht den Zeitpunkt des Traums notiert, würde ich heute zu der Erklärung neigen, dass ich wohl "Ursache" und "Wirkung" zeitlich verwechselt hätte.
Es könnte alles Zufall sein. Es gibt ja schließlich auch Sechser im Lotto. Nur - es war nicht der letzte prospektive Wahrtraum. Und bei weitem nicht der einzige, dessen Ereignisse von mir nicht beeinflusst werden konnten.

Allerdings stellte mich der Traum, bzw. seine Bewertung, vor ein "falsches Dilemma": entweder hätte ich das "naturwissenschaftliche", rationale Weltbild aufgeben müssen, zugunsten esoterischer Welterklärungsmodelle - oder den Traum als belangloses Kuriosum verdrängen müssen.
Der - umstrittene - Begriff der Synchronitizität erwies sich für mich als hilfreich.

Dem "falschen Dilemma" - entweder "vernünftig bleiben" oder "magisch denken" (und womöglich doch bei den "Esos" landen) - entkam ich auf Dauer auch deshalb, weil ich zufällig (oder auch nicht) ein Jahr später auf ein bemerkenswertes Buch stieß: "Verlust der Wahrheit. Streitfragen der Naturwissenschaften" von John L. Casti (Originaltitel: Paradigmas Lost).
Eine der Streitfragen, der sich Casti widmet, sind die Deutungsschwierigkeiten der Quantenmechanik. Hierbei gibt Casti der Viele-Welten-Interpretation den Vorzug, die mir, als Science Fiction-Fan, nicht ganz unbekannt war. Wichtiger ist aber, dass ich begann, die Quantenmechanik nicht mehr ein Theoriensystem zu betrachten, das man nicht versuchen sollte, irgendwie zu verstehen - es reiche aus, wenn sie die richtigen Ergebnisse liefere. Auch wenn auch vielleicht die Kopenhagener Deutung die Phänomene besser erklären könnte - in allen Fällen hat das, was wir "Kausalität" nennen, nicht die universelle Bedeutung, die sie in der klassischen Physik hat.

Auch wenn mache New-Age-Esoteriker mit quantenmechnischen Begriffen hantieren, war die Beschäftigung mit Quantenmechanik einer der Gründe, aus denen ich das im Grunde deterministische Weltbild, dass den meisten Hypothesen über PSI und Vorauswissen zugrunde liegt, verwarf. In einer Welt, in der von Anfang an alles zwangsläufig, wie ein Uhrwerk abläuft, und in der es keine echten Zufälle gibt, wären zutreffende Prognosen in der Tat möglich. Aber so funktioniert die Welt nun einmal nicht.

Ich kam zu der Vermutung, dass ich nicht wirklich in der Lage bin, einen Blick in die Zukunft zu werfen - weil es die Zukunft nicht gibt.
Es gibt nur Möglichkeiten, die aus meiner Sicht irgendwann real werden können, davon einige wahrscheinlich, andere unwahrscheinlich. Wenn sie sich manifestiert haben, sind sie nicht mehr zu ändern - Vergangenheit, oder besser: das Gewordene.
Damit ist ein prospektiver Wahrtraum kein "Eisenbahngleis in die Zukunft" - wenn da ein Zug entgegenkommt, ist es gelaufen. Er ist nur eine Prognose, und wie alle Prognosen unsicher. Wie genau diese Prognose zustande kommt, ist zweitrangig.

Es befriedigte mich sehr, dass sich meine selbstgestrickte Philosophie von Zeit und Zukunft seht gut mit Karl R. Poppers kritischem Rationalismus übereinstimmte: "Die Zukunft ist offen".

Noch mehr freute ich mich Jahre später, als Menschen, die meine Freunde werden sollten, von einer ganz anderen Richtung her denkend, zum gleichen Ergebnis kamen. Das mir irgendwann so was wie Asatru zustieß, liegt also auch daran, dass ich mich von moderner Physik ebenso wenig abstießen ließ, wie von Erkenntnisphilosophie.

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

Geheimauftrag MARIA STUART...
Krisenfall Meuterei Der dritte Roman der Reihe "Geheimauftrag...
MMarheinecke - 9. Apr, 19:42
Urlaubs-... Bräune
Das "Coppertone Girl", Symbol der Sonnenkosmetik-Marke...
MMarheinecke - 1. Aug, 08:34
Geheimauftrag MARIA STUART...
Ahoi, gerade frisch mit dem Postschiff eingetoffen. Der...
MMarheinecke - 26. Mär, 06:48
Kleine Korrektur. Man...
Kleine Korrektur. Man kann/sollte versuchen die Brille...
creezy - 11. Nov, 11:29
strukturell antisemitisch
Inhaltlich stimme ich Deinem Text zwar zu, aber den...
dummerle - 5. Jun, 11:12

Suche

 

Status

Online seit 7226 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 24. Jul, 02:01

Credits


doof-aber-gut
Gedankenfutter
Geschichte
Geschichte der Technik
Hartz IV
Kulturelles
Medien, Lobby & PR
Medizin
Persönliches
Politisches
Religion, Magie, Mythen
Überwachungsgesellschaft
Umwelt
Wirtschaft
Wissenschaft & Technik
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren
development