Sonntag, 18. November 2007

"Time won't drive us down to dust again!"

Heute lässt mich das Thema nicht los.
Vielleicht, weil Visionen - was sowohl "Leitbilder" wie "Träume" bedeuten kann - Hoffnungslosigkeit überwinden können.
Dass Dumme an "Weltuntergangsvisionen" ist, dass sie das Denken lähmen, wenn man in ihnen mehr sieht, als eben Visionen - sondern sie für die Zukunft hält. Aber die Zukunft gibt es nicht, das liegt in ihrer Natur, es gibt nur Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten. Wer das vergisst, resigniert entweder - oder hofft auf einen "Erlöser", einen "Retter" - und damit meine ich nicht etwa Jesus, eher schon jene, die sich gern auf ihn berufen. Endzeitpropheten, einige stramm religiös, einige weltlich. Heillose Heilslehren, alle verschieden, alle im Besitz des Patentrezeptes für die Abwehr des Unheils. Das Patentrezept gibt es nicht, was nicht heißt, dass wir ohnmächtig sind. Wer kämpft (auch im übertragenen Sinne) kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren. Das gilt für die drohende Überwachungsgesellschaft genau so wie für die befürchtete Klimakatastrophe. (Wobei, was bei allen Zukunftsvisionen gern übersehen wird, "Wandel" nicht zwangsläufig "Katastrophe" heißt.)

Es gibt aber noch einen anderen Grund, weshalb ich das Thema "Vision" nicht aus dem Schädel bekomme. Weil ich eine "Vision" (oder besser Audition) im spirituellen (oder meinethalben religiösen) Sinne hatte. Und weil ich, infolge dieser Vision (die ich lieber für mich behalte - ich habe schon schlechte Erfahrungen gemacht), auf ein Lied stieß. Ein Lied, das von einer Visionärin stammt.

Wobei - das Lied kannte ich natürlich schon. Vor gut 15 Jahren habe ich es, so gut es ging, mitgesungen, spät nachts, auf einem Science Fiction-Con. Aber dieses Lied kann man ebenso gut abends am Lagerfeuer singen. Oder sogar im Rahmen eines heidnischen Rituals.

Die Komponistin und Texterin dieses Liedes heißt Leslie Fish. Obwohl ich nicht alle ihre Ansichten teile, und einige sogar für töricht halte, ist sie mir grundsymphatisch: Sie ist Filk-Musikerin (nicht zu verwechseln mit "Folk", obwohl es da Überschneidungen gibt), Schriftstellerin (Science Fiction und Fantasy) Fan (Science Fiction und Fantasy), Live-Rollenspielerin, mag Katzen - und ist Anarchistin. Wer mich einigermaßen kennt, weiß, dass mir so ein Mensch nicht wirklich unsympathisch sein kann - auch wenn ich weder Musiker, noch LARP-Spieler und nur bei sehr großzügiger Auslegung des Begriffes Anarchist bin. Leslie Fish lebt in den USA, ist schon ein wenig älter (201 ? ), sie war politisch aktiv gegen den Vietnamkrieg und für die IWW. Und in der Wikipedia heißt es: "Fish often weaves pagan and anarchist themes into her music."

Das Lied ist ihr bekanntestes, es stammt aus der Zeit, als die Vietnam-Friedensbewegung und die Hippiekultur in höchster Blüte standen, 1969. Es trägt den seltsamen Titel "Hope Eyrie" - ich hörte das als "hope aria", also "Hoffnungsarie", aber: "An aerie or eyrie is a nest of a bird of prey, built at a high altitude." - Ein Raubvogelnest, in großer Höhe erbaut. Ein Horst. Und viele, die es hören, verstehen nicht, worum es in diesem Lied geht.

Deshalb ist diese von Julia Ecklar, einer Musikerin und SF-Schriftstellerin, gesungene Version mit einem passenden Video hinterlegt:

"V" for "Vision"

Unsere Zukunft könnte finster aussehen: "Die schlimmsten Szenarien des IPCC sind so angsterregend wie ein Science-Fiction-Film", sagte UN- Generalsekretär Ban Ki Moon bei der Vorstellung des "Kompaktfassung" des Weltklimaberichts. "Angsterregend wie ein Science-Fiction-Film".
Eine negative Zukunftsvision. Ungeachtet, ob die Szenarien zutreffen oder nicht, ob CO2-Reduktionen effektiv etwas bewirken oder nicht - solche Visionen wirken. Und solange sie nicht zu Endzeitphantasien oder Öko-Totalitarismus führen, können sie ganz heilsam sein, und sei es nur, um Politiker daran zu erinnern, dass es wichtigeres gibt als Fraktionsdisziplin, Chancen auf Wiederwahl oder Zufriedenstellen der jeweiligen Klientel.
Die Zukunft ist nicht nur "das unentdeckte Land" - es gibt sie buchstäblich nicht. Ich bin mir sicher, dass es sinnvoller ist, zwischen Dingen zu unterscheiden, die wir ändern können, und solchen, die nicht mehr zu ändern sind. Pragmatisches Denken.
Helmut Schmidt, der profilierteste Pragmatiker der jüngeren deutschen Geschichte, sagte (bzw. raunzte) 1980: "Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen!" Es bezog sich auf den damaligen SPD-Vorsitzenden Willy Brand und seine "Visionen". Brandt meinte mit "Visionen" strategische Ziele oder Ideen, ohne die auch ein pragmatischer Politiker nicht auskommt, Schmidts Kritik zielte vermutlich darauf ab, dass Brandt dabei seiner Ansicht nach zum utopischen Denken neigte: "Vision" im Sinne von "Traum" oder "Illusion". "Utopisches Denken" ist die Vorstellung, die gesellschaftliche bzw. politische Zukunft planen zu können: Generalplan "perfekte Gesellschaft", und wenn sich alle bis ins Detail daran halten, wird alles gut. Obwohl ich Freund literarischer Utopien bin, lehne ich utopisches Denken ab - es hat immer einen Zug ins Totalitäre.
Ich verstehe unter "Vision" hier: eine Vorstellung oder Imagination davon, was werden könnte. Was man, etwas ungenau, mit "Leitbild" übersetzen könnte.
Nehmen wir die literarischen Utopien (genauer gesagt: Dystopien) über totalitäre Überwachungsstaaten, genannt seien nur Samjatins "Wir", Orwell "1984" oder Alan Moores "V for Vendetta". Sie zeigen uns, wie es kommen könnte. Als Warnung es nicht soweit kommen zu lassen. Als Aufforderung zum Handeln, dazu, Fehlentwicklungen zu stoppen und, wenn möglich, rückgängig zu machen. In dem Moment aber, in dem aus der Vision, in Form einer literarischen Utopie, utopisches Denken wird, oder schreckenerregende Zukunftsvisionen ins apokalyptische Denken umschlagen, hört ihre befreiende Wirkung auf. (Beispiel: drohende Klimakatastrophe als Begründung einer ökologistischen Diktatur.)

Noch wichtiger als die warnenden Visionen sind die Visionen für eine bessere Welt. Solange sie nicht in "Patentrezepte für eine glückliche Zukunft" umschlagen, in utopisches Denken. Visionen vertragen sich sehr wohl mit pragmatischem Denken. Ein Beispiel ist das Vision Statement der Wikipedia:
Stell dir eine Welt vor, in der jeder einzelne Mensch freien Anteil an der Gesamtheit des Wissens hat.
Ich fand via BasA$$Mood eine sehr hoffnungsvolle Zukunftsvision, umrisshaft verdeutlicht als literarische Utopie bzw. Science Fiction-Szenarium: Cholorofilia 2106.

Keine Heilslehre, kein Detailplan, aber ein Ziel, ein positives Gegenbild zur Schreckensvision der Stadt der Zukunft als gigantischer, kontinentebedeckender Mega-Slum. Übrigens unter dem Leitbild "Anpassungsfähigkeit". Organisch denken, ökologisch, nicht ökologistisch.

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