Freitag, 13. Juli 2007

Grundgesetzliches zu Protestaktionen

Vorbemerkung: Mein folgender Beitrag beruht auf einem kontraproduktiven Denkfehler: ich ging von meinen persönlichen Vorlieben- und Abneigungen aus. ("Ein ernstes Thema hat gefälligst ernsthaft behandelt zu werden.") Hinsichtlich der Aufmerksamkeitswirkung sind originelle, vielleicht sogar alberne Prostestformen effektiver als betont "seriöse", wie ich einsehe.

Karan und Sven haben eine Aktion ins Leben gerufen, deren ersten Teil ich voll unterstütze: nämlich den, bis zu drei gedruckte Exemplare des Grundgesetzes zu bestellen und zwei Exemplare an Menschen weiterzugeben, die das Grundgesetz nicht kennen.

Ich halte aber gar nichts von der Idee "ein Grundgesetz für Schäuble". Das ist mir zu , tut mir leid, zu sehr auf dem Niveau eines Schülerstreiches. Sicherlich, die Symbolik einer von GGs überquellenden Poststelle beim Innenminsterium kommt an - aber, wie ich unseren Politbetrieb einschätze, anders, als erwünscht.
Ich höre schon Vorwürfe der Art: "Mutwillige Verschwendung von Steuergeldern!" - denn bestimmt werden die GGs, die da in der Poststelle landen, nicht gelesen und kommen auch nicht auf Schäubles Schreibtisch. Eine Provokation - aber mit welchem Ziel? Schäuble kennt das Grundgesetz sehr wohl - das Problem ist nur, dass es ihm so, wie es ist, nicht gefällt.

Es geht der Aktion "Grundgesetz für Schäuble" selbstverständlich nicht darum, einen Effekt auf Schäuble auszulösen. Es geht auch nicht um eine politische Demonstration. Die Aktion ist reiner Selbstzweck.

Also: Grundgesetz bestellen und politische Aufklärungsarbeit "im Kleinen" leisten: am Arbeitsplatz, in der Schule /Uni, im Café, In öffentlichen Verkehrsmitteln, beim Bäcker, wo auch immer - gute Idee!

Schäuble mit GG-Post eindecken - infantiler Streich. Ohne mich!

Versuch, Antworten an Europa zu finden

Manchmal sind einige Wochen Abstand recht nützlich, um zu einem Thema Zugang zu finden. Vor allem, wenn es um etwas geht, das kurzzeitig im Fokus der Massenmedien stand. Europa will Kreationismus nicht verbannen.
Es ging um einen Bericht des Europarats-Ausschusses für Kultur, Wissenschaft und Bildung, verfasst unter Federführung des französischen Sozialisten Guy Lengagne, der in dem Satz gipfelte:
"Wenn wir nicht aufpassen, könnte der Kreationismus eine Bedrohung der Menschenrechte werden."
Dass der Europarat sich nicht entschließen konnte, sich Lengangnes Besorgnis anzuschließen, fand erstaunlich (besorgniserregend?) viel Beifall, weit über die "üblichen Verdächtigen", fundamentalistische bzw. erzkonservativen Christen, hinaus.

Ich persönlich finde den Kommentar zur Meldung auf dem schweizerischen evangelischen Portal "Jesus.ch" besonders interessant:
Jesus.ch: Europarat will Kreationismus nicht verdammen.
Genauer gesagt: der Artikel stellt - buchstäblich - Fragen, durch die ich mich, obwohl ich nicht zur Gruppe Lenganges gehöre und noch nicht einmal Atheist bin - angesprochen fühle.

Vorweg: Lengagne ging es bei seinem Antrag nicht darum, den "Kreationismus zu verdammen" - sondern ihn aus Bereichen zu verbannen, in denen er (und jede andere religiös oder ideologisch begründete Tatsachenbehauptung) nichts zu suchen hat.
Es wäre interessant, von Monsieur Lengagne und seiner Gruppe Antworten auf die folgenden Fragen zu erhalten:

- Inwiefern hat der Glaube an die Evolution des Menschen die Mentalität gefördert, dass wir auf Kosten der folgenden Generationen die natürlichen Ressourcen des Planeten verbrauchen können - weil diese, evolutionär fortgeschritten, Lösungen finden werden?
Diese Frage erkenne ich als "Retourkutsche" auf die von Kritikern des Christentums aufgestellte Frage, inwiefern der (fehlübersetzte!) Bibelsatz: "Und macht Euch die Erde untertan" zur ... Entlarvend ist die Formulierung: "Glaube an die Evolution" - wer an die "Evolution" im religiösen Sinne "glaubt", versteht sie nicht. Jede wissenschaftliche Theorie stellt einen vorläufigen Stand des Wissens dar, an den man höchsten im umgangsprachliche Sinne von "ich vermute, dass es wahr ist" "glauben" kann.
Nach meinen Beobachtungen ist es so, dass Menschen mit darwinistischem Weltbild eher bereit sind, sich und die Menschheit als Teil "der Natur" zu sehen, als solche, die einem Weltbild anhängen, dem gemäß die Menschen "Krone der Schöpfung" sind. (Wobei es durchaus Atheisten und Anhänger eines Evolutionistischen Weltbildes gibt, die den Menschen für den "Endzweck der Evolution" halten - und Christen, die nicht daran glauben, die Welt sei allein des Menschen wegen geschaffen worden.) Es ist kein Zufall, dass die Wissenschaft der Ökologie von einem glühenden Darwin-Verehrer und entschiedenem Materialisten, Ernst Haeckel, begründet wurde.
Die "nach uns die Sintflut"-Mentalität, der folgende Generationen schlicht egal sind, wie die Mentaliät des technokratischen Hyper-Optimismus, die davon ausgeht, dass "der Mensch" für jedes Problem schon eine Lösung finden wird, findet sich sowohl bei gläubigen Christen wie bei entschiedenen Atheisten.
Es ist historisch mühelos nachweisbar, dass die in der Frage beklagte Ausbeuter-Mentalität gegenüber "der Natur" lange vor Darwin einsetzte (nämlich schon in der Jungsteinzeit) - und dass sie ihre entscheidende Verschärfung in der europäischen Frühen Neuzeit erfuhr - vor Darwin und auch vor der Aufklärung und vor der Industriellen Revolution. Ideologien des "unaufhaltsamen Fortschritts" und der quasi "Allmächtigkeit" des Menschen haben viel zur Mentalität beigetragen, dass wir auf Kosten der folgenden Generationen die natürlichen Ressourcen des Planeten verbrauchen können. Diese Ideologien von der Sonderrolle des Menschen können sowohl religiös, aus einem missverstandenen Bibelwort, wie materialistisch, aus missverstandenem Darwinismus begründet sein.
- Was hat der Wildwuchs der säkularen, Gott-losen Fortschrittsgläubigkeit im 20. Jahrhundert - kein Gott im Himmel, kein Schöpfer, der Rechenschaft einfordert - zum Grössenwahn und zur Umweltzerstörung beigetragen?
Ich erkenne hier eine gängige Denkstruktur wieder, die in Gott tatsächlich jenes "unsichtbare Alphamännchen" sieht, gegen dass Atheisten wie Michael Schmidt-Salomon so gern polemisieren (und dabei großzügig andere Gottesvorstellungen übersehen - nun gut, die meisten Christen, Moslems und sogar Juden werden sich Gott tatsächlich als "allwissenden Übervater und Über-Boss" vorstellen). Mehr noch: dahinter steckt nicht nur ein problematisches Gottesbild, sondern ein noch problematischeres Menschenbild: der Mensch handelt nur dann "richtig" und "gut" im Bewusstsein drohender Strafe. Entkommt er der irdischen Gerechtigkeit, dann zieht ihn der allwissende himmlische Ermittler, Richter und Scharfrichter in Einem schon zur Rechenschaft - unter Drohung der grauenerregenden Strafe der "ewigen Verdammnis".
Unbestritten: der Größenwahn hat im 20. Jahrhundert extrem üble Folgen gezeigt. Allerdings war der Größenwahn, selbst im Falle des sich "atheistisch" nennenden Stalinismus oder des Maoismus, nicht wirklich "säkular". Auch in seiner stalinistischen Form hatte der Größenwahn eine die übliche transzendente Komponente: der Größenwahnsinnige glaubt, dass Gott (die Vorsehung, der Weltgeist, oder, auf vulgärmaxistisch: das Gesetz der Geschichte) auf seiner Seite steht und ist sich absolut sicher, "gottgefällig" (im Interesse der Arbeiterklasse) zu handeln. In der Praxis paart sich Gottesfurcht durchaus mit einer naiver Technikgläubigkeit - der Fundamentalismus in den USA liefert hierzu reichlich Anschauungsmaterial. Größenwahn und Umweltzerstörung führe ich auf eine unaufgeklärte, nicht die eigenen Motive und die möglichen Folgen des eigenen Handels hinterfragende, Weltsicht zurück. Die Angst vor der Strafe Gottes lehne ich, selbst wenn sie zu "bescheidenes" und "umweltgerechtes" Verhalten führt, als selbstverschuldete Unmündigkeit ab.
- Wie schafft es der Mensch, der sich als "Zigeuner am Rande des Universums", als Zufallsprodukt eines blinden Prozesses ohne Ende verstehen muss, Sinn im Leben zu finden und sich vernünftig, verantwortungsbewusst und zukunftsoffen zu verhalten?
Hier antworte ich als "naturreligiöser" Mensch: Der Mensch ist, obwohl er nicht das Ergebnis zielgerichteter Planung ist, ist kein Zufallsprodukt. Noch nicht einmal dann, wenn man sich auf die reine Darwin'sche Theorie in ihrer ursprünglichen Form beschränkt: es gibt, in Form der natürlichen Auslese ("Struggle for Life") ein Element der "Notwendigkeit" in Form der Naturgesetze (die ihrerseits Modelle sind, in der wie das, was wir von der Struktur des Universums erfahren konnten, ordnen).
Dass wir auf dem dritten Planeten eines recht durchschnittlichen Typ G-Sternes in einem unbedeutenden Seitenarm einer recht durchschnittlichen Galaxie leben, diese Erfurcht gebietende Konsequenz aus der "Kopernikanischen Wende", mahnt uns zur Bescheidenheit: "Hallo, das Universum ist nicht für uns alleine entstanden." Dass der Prozess der Evolution offen ist (nicht "ohne Ende" - nichts in diesem Universum ist unendlich), weist in die selbe Richtung: wir sind weder "Krone der Schöpfung" noch "Endziel der Evolution". Das Universum hat ebenso wenig die Erde einen "Rand", von dem man abstürzen könnte - übrigens aus dem selben Grunde, nur mit einer Dimension mehr. Außerdem zeugt der Gebrauch der Metapher "Zigeuner am Rande des Universums" von einen unbegründeten kulturellem Vorurteil gegenüber "fahrendem Volk" - nämlich: das der Wurzellosigkeit. Gerade die "kosmische Nebenrolle" des "Zigeuners am Rande des Universums" bietet uns die Chance, unser Leben ständig mit neuem Sinn zu versehen. Die Fragen nach Vernunft, Verantwortungsbewusstsein und Zukunftsoffenheit sind buchstäblich Überlebensfragen. Wir müssen sie immer wieder aufs Neue stellen, ein für alle mal gültige Antworten gibt es nicht. Diese Fragen resultieren aus der Frage: "Wie schaffe ich es, zu überleben?" Bezogen auf "andere Menschen" "die Menschheit" und "die Erde" ist unsere Fähigkeit, uns gedanklich in die Lage Anderer zu versetzen, mitzufühlen, mitzudenken, Empathie, inneres Verständnis, auch für Menschen, die ich nicht persönlich kenne und nie kennen lernen werden, auch für Tiere, Pflanzen, Kulturen, Wesenheiten, die Erde als Ganzes, entscheidend. Dazu sind Atheisten, Agnostiker und Gläubige gleichermaßen fähig - zur Nächstenliebe und sogar zur Feindesliebe.
- Wenn der Mensch das Mass aller Dinge ist, sich aber als ständig evoluierendes Wesen sieht, wie kann er Werte setzen, die der Gesellschaft Stabilität verleihen?
Der Satz "Der Mensch ist das Maß aller Dinge" ist der Kernsatz des Humanismus. Er ist eine ethische Handlungsanweisung, den "Menschen" im Mittelpunkt allen menschlichen Tuns zu sehen. Jeden Menschen. Auch und grade jene, die sich nicht wehren können, auch und gerade jene "folgenden Generationen", den Menschen, die heute, übermorgen oder in 36000 Jahren geboren werden. Auch wenn das Universum nicht allein unseretwegen gemacht ist, und wir nur eine Affenart mit hypertrophiertem Großhirn sind - die Menschheit ist unsere Spezies. Ich übersetze "der Mensch ist das Maß aller Dinge" mit Karl Popper als "Lasst Ideen sterben, nicht Menschen!". Da "der Mensch" wie "jeder Mensch" ein sich ständig wandelndes Wesen ist, müssen Werte und Sinn immer wieder aufs Neue gefunden werden. Die Stabilität einer Gesellschaft ist kein Wert an sich, sondern eine Gesellschaft muss sich nach den Lebensinteressen der Menschen, aus der sie besteht, richten und sich gegebenenfalls wandeln. Der Mensch kann sich selbst Werte für den Aufbau einer Gesellschaft setzen, so wie er selbst Stangen für ein Zelt anfertigen kann - er kann es, weil er ein schöpferisches, einfühlsames und mit eigenem Willen ausgestattetes Wesen ist. "Ewige", transzendente, religiöse Werte haben den Nachteil, dass sie den notwendigen Wandel verhindern und eine Gesellschaft erstarren lassen.

Übrigens, wenn Lengagne behauptet: "Wenn wir nicht aufpassen, könnte der Kreationismus eine Bedrohung der Menschenrechte werden", dann hat er völlig recht. Jede Doktrin, die keinen Zweifel zulässt, bedroht die Menschenrechte.

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