Freitag, 18. August 2006

“Todesurteil für UV-süchtige Teenager“

Auch wenn von einem nachrichtarmen Sommerloch kaum die Rede sein kann, schlägt der Boulevard mal wieder zu. Besonders ärgerlich sind sensationsmacherischer Halbwahrheiten, wenn es um Gesundheitsthemen geht.
Zum Beispiel in der online-Ausgaben der B. Z.: Die neue Frauen-Krankheit Tanorexie - "Hilfe, ich bin solariumsüchtig"

Der Artikel mixt nämlich auf engsten Raum unterschiedliche Dinge zusammen: "Tanorexie" - wie in den USA analog zur "Anorexie" (Magersucht) eine Störung der körperlichen Selbstwahrnehmung genannt wird, bei der sich die betroffenen stets leichenblass vorkommen, egal, wie dunkel gebräunt sie in Wirklichkeit sind, die Erkenntnis, dass UV-Bestahlung "Glückshormone" wie Serotonin freisetzt, die (möglichen) Gefahren übermäßiger Solariumsnutzung und die (in dieser Form nicht zutreffende) Aussage:
Jährlich erkranken in Deutschland über 10 000 Menschen an bösartigem Hautkrebs. Für jeden Fünften von ihnen ist die Diagnose das Todesurteil.
Heutzutage wird das Melanom überwiegend in sehr frühen Stadien erkannt: Etwa 50 % der in Deutschland vom Hautarzt festgestellten malignen Melanome sind dünner als 0,75 mm. (Wahrscheinlich ist ein großer Teil der "alarmierende Zunahme" der Melanome schlicht auf verbesserte Früherkennung zurückzuführen, siehe: Was jeder weiß ... ) Die Heilungsrate eines dünnen Melanomes (Tumordicke kleiner 0.75 mm) beträgt etwa 95 Prozent.
Wikipedia: Malignes Melanom - In diesem Artikel heißt es auch:
Manche Experten halten daher die Sonnenexposition, besonders vor dem 20. Lebensjahr, ebenfalls für einen externen Risikofaktor für die spätere Entstehung eines malignen Melanoms, weil dadurch erhöht zunächst gutartige melanozytäre Neubildungen entstünden. Gesichert ist ein solcher Zusammenhang für das Melanom im Gegensatz zur Entstehung anderer Hautkrebsarten jedoch nicht.
Wobei man auch für die Entstehung "gutartige melanozytäre Neubildungen" (vulgo: neuer Muttermale) ziemlich heftig "braten" muss, normalerweise sind wiederholte Sonnenbrände dafür nötig.

Die jungen Frauen riskieren, wenn sie sich wirklich mehrmals wöchendlich in den "Tussi-Toaster" legen sollten (dafür sehen sie aber noch vergleichsweise "normal" aus) wahrscheinlich vorzeitige Hautalterung, vielleicht ein Basalzellkarzinom (das nur sehr selten tödlich verläuft) und, wenn sie sich ohne Rücksicht auf Sonnenbrände grillen, unter Umständen eine erhöhte Melanomrate.

Auch wenn es von "Photomed" (Fachverband der Solariumsbetreiber) kommt, also gelinde gesagt parteisch ist, lesens- und bedenkenswert, da die Methodologie, nach der immer neue "Süchte" entdeckt werden, bloßlegt wird: Was ist Tanorexie?
Auch auf dieser Website: Daten zur Entwicklung von Hautkrebserkrankungen

Antisemitismus in den Evangelien?

Wie ich weiter unten erwähnte, habe ich mir "Die katholische Kirche und der Holocaust" von Daniel Jonah Goldhagen, angestoßen durch eine Diskussion auf
B.L.O.G, erneut vorgenommen.

Goldhagen ist der Ansicht, dass die christliche Bibel (das "Neue Testament") sei in weiten Passagen ein antisemitscher Text, woraus sich eine antisemitische Grundhaltung der christlichen Kirchen ergäbe.
(...) Es ändert auch nicht an dem Schaden, den die Struktur der Bibel anrichtet, dass nämlich Juden der onthologische Feind Jesus und Gottes seien. Die Botschaft der christlichen Bibel ist dieselbe geblieben, seitdem ihr Text kodifiziert worden ist: Die Juden haben Gottes Sohn getötet, der zugleich Gott ist. An diesem Verbrechen sich alle Juden schuld. (...) Viele Religionen sind ethnozentrisch, feiern ihre eigene Gruppe, sind unduldsam gegen andere. Der Angriff der christlichen Bibel auf die Juden ist jedoch qualitativ etwas anderes. Dieser Angriff übertrifft diejenigen anderer Religionen an verleumderischen Inhalten, an Häufigkeit der Wiederholungen und an emotionaler Intensität. Die Missbilligung der Juden ist keine Äußerlichkeit der christlichen Bibel und ihrer religiösen Behauptungen und Wahrheiten. Sie ist ein konstitutiver Bestandteil des biblischen Christentums. Dieser konzentrierte biblischen Angriff auf die Juden veranlaßte Christen (..) reale, lebende Juden in einer Weise ungerecht zu behandeln und zu schädigen, die auch im historischen Vergleich mit allen anderen bedeutenden Religionen ohnegleichen ist.
(Goldhagen: Die katholische Kirche und der Holocaust, Berlin, 2002, S. 353.)

Für mich, als Neuheiden, ist Goldhagens Position verlockend. Wenn das Christentum strukturell antisemitisch ist, dann kann ich die - nicht immer sachliche - Kritik von christlicher Seite am (angeblichen) strukturellen Antisemitismus inbesondere des germanisch orientierten Heidentums (Asatrú) locker und wirksam kontern. (Den tatsächlich bei vielen Heiden vorhandenen latenten, bei "völkisch" orientierten Heiden auch offen zu Tage tretenden Antisemitismus möchte ich an anderer Stelle behandeln.)

Ohne Zweifel gibt es in der christlichen Bibel (alias "Neuem Testament") zahlreiche antijüdische Textstellen. Dass Goldhagen diese als antisemitisch bezeichnet, ist insofern legitim, da er einen Begriff des Antisemitismus zugrunde legt, der sehr radikal bzw. konsequent ist: jeder, der schlecht von Juden denkt, Animosität oder feindliche Gefühle gegen Juden hegt oder Juden hasst, nur weil diese Juden sind, oder der dem Judensein und damit den Juden insgesamt schädliche Eigenschaften zuschreibt, ist Antisemit. Eine Differenzierung zwischen antijüdisch, antijudaistisch (gegen die jüdische Religion gerichtet) und antisemitisch lehnt er als unsinnig bzw. haarspalterisch ab.
Gemäß dieser Definition ist der eigentliche Begründer des Christentums, Saulus bzw. Paulus, obwohl er sich selbst Jude war, ab dem Augenblick "antisemitisch", in dem er "die Juden" für den Tod Jesus schuldig hielt und sie verdammte, weil sie Gott nicht verstünden. Ein nicht ganz unproblematischer Standpunkt. Ich gewinne bei der Lektüre der Paulusriefe und der Apostelgeschichte eher den Eindruck, dass Paulus ein typischer "Sektierer" war, der seine von Judentum abgespaltete religiöse Sondergruppe nach Kräften sowohl gegen die "Mutterreligion" (das traditionelle Judentum) wie gegen die konkurrierende Gruppe der Judenchristen der "Urgemeinde", die sich um Jesus Bruder Jakob gebildet hatte, abgrenzte. Judenchristen waren Juden, die sich von anderen Juden im wesendlichen nur dadurch unterschieden, dass sie in Jesus den "Messias" sahen. Die Ebioniter und Nazoräer waren Judenchristen, sie galten für die entstehende "heidenchristliche" Kirche ab dem 2. Jahrhundert nicht mehr als "richtige" Christen. Die Idee, dass Jesus mit Gott wesendsgleich war, kam erst viel später auf - die "Dreieinigkeit" sogar noch später, nämlich um 300 "nach Christus".)

Goldhagen zufolge gibt es im Evangelium des Matthäus rund achtzig ausdrücklich antisemitische Verse.
(...) Es ist denn auch nicht erstaunlich, dass Matthäus zufolge ein solches Volk und seine Religion als null und nichtig überwunden, ersetzt wurden durch ein anderes. Jesus erklärt: "Darum sag ich euch: Das Reich Gottes wird euch [Juden] weggenommen werden und einem Volk gegeben werden, das die erwarteten Früchte bringt [den Christen]."
Es trifft zu, dass die christliche Kirchen den Anspruch, "die Christen" hätten "die Juden" als "auserwähltes Volk Gottes" abgelöst (Sukzessionslehre) auf diese und ähnliche Bibelstellen gründeten. Allerdings ist fraglich, dass Matthäus (der lange nach der Hinrichtung Jesus schrieb und ihn wahrscheinlich nicht kannte), das bei der Niederschrift seines Evangeliums auch meinte. Matthäus schrieb, wie die beiden anderen "Synoptiker" nämlich noch nicht von "den Juden", sondern von "den Schriftgelehrten", "den Pharisäern" usw. - erst das (eindeutig judenfeindliche) Johannisevangelium ersetzt diese Ausdrücke sehr oft einfach durch "die Juden". Da das Matthäusevangelium eindeutig "judenchristlich" ist, ist eher anzunehmen, dass es sich hier um eine innerjüdische Auseinandersetzung handelte: die Anhänger des weitgehend auf pharisäisches Gedankengut zurückgreifenden Rabbis Jesus gegen die "Altpharisäer", die sich ihrer Ansicht nach in kleinlichen Gesetzesauslegungen und vordergründiger Frömmigkeit verzettelten - wobei die "Dissidenten" (Jesus-Anhänger) heftig gegen die "Traditionalisten" polemisierten. Diese Textpassagen wurden, anders als Goldhagen nahelegt, also erst nachträglich im antijüdischen Sinne interpretiert.
Noch problematischer ist, was Goldhagen weiter unten auf derselben Seite schreibt:
Dieser Darstellung der Juden aus dem Munde eines Mannes, der als der Sohn Gottes präsentiert wird, folgt bald Matthäus' berüchtigte, fiktive Kreuzigungsszene, in der das ganze jüdische Volk die Schuld am Tode Jesus bereitwillig auf sich und seine Nachkommen nimmt, also auf die Juden aller Zeiten. War "das ganze [jüdische] Volk" das mehrere Millionen zählte, dort? Haben sie alle wunderbarerweise unisono die ihnen zugeschriebenen Worte gerufen: "Sein [Jesu] Blut komme über uns und unsere Kinder"? Wie kann jemand eine solche Szene, fünfzig bis siebzig Jahre nach dem Tode Jesus von einem Feind der Juden erdacht, der Juden als "Schlangenbrut" bezeichnet, für eine getreuliche Darstellung historischer Tatsachen halten?
Kein Zweifel, es gab und gibt Christen, die die Kreuzigungsszene genau so interpretieren - und immer noch christliche Fundamentalisten, die die Evangelien für die Darstellung historischer Tatsachen halten.
Aus dem Wortlaut des Matthäus-Evangeliums geht diese Lesart keineswegs zwangsläufig hervor - es erfordert sogar einige Anstrengungen, sie in den Text hinneinzuinterpretieren. In einer neueren, auf Genauigkeit großen Wert legenden Bibelübersetzung ("Die heilige Schrift im heutigen Deutsch", Spitzname: "die Fußnotenbibel") heißt es:
Als Pilatus merkte, daß seine Wort nichts nützten und die Erregung der Menge noch größer wurde, nahm er Wasser und wusch sich vor allen Leuten die Hände. Dabei sagte er: "Ich habe keine Schuld am Tod dieses Mannes. Das habt ihr zu verantworten". Das ganze Volk schrie: "Wenn er unschuldig ist, dann komme die Strafe für seinen Tod über uns und unsere Kinder!" Da gab Pilatus ihnen Barabbas frei. Jesus ließ er auspeitschen und gab Befehl, ihn ans Kreuz zu nageln.
Es liegt auf der Hand, dass mit "dem Volk" keineswegs "alle Millionen Juden" gemeint sein können. Gemeint ist offensichtlich eine aufgebrachte Menge sadduzäischer Juden, die einen missliebigen Kritiker ihrer religiösen Praktiken den römischen Besatzern ans Messer (bzw. Kreuz) liefert. Wobei auch das schwerlich den realen historischen Begebenheiten entspricht, aber Matthäus schrieb ja keine Chronik, sondern eine Bekenntnisschrift.

Goldhagen erkennt sehr richtig, dass die Evangelien keine historischen Texte sind. Mit den meisten modernen christlichen Theologen ist er der Ansicht, dass die Autoren der christlichen Bibel Konflikte zwischen dem sich vom Judentum zunehmend abgrenzenden frühen Christentum und dem traditionellen Judentum in die Zeit Jesus zurückverlagerten. Ebenso ist ihm darin zuzustimmen, dass die Evangelisten die Rolle der Römer und vor allem des Prokurators Pilatus bei der Hinrichtung Jesu zulasten der saduzäischen Kollaborateure (bei Matthäus) bzw. "der Juden" (bei Johannes) verharmlosen. (Aus außerbiblischen Quelle geht eindeutig hervor, dass Pontius Pilatus ein korrupter und brutaler Besatzungs-Gouverneur war, der nicht erst lange bedrängt werden mußte, um mal eben einen "Rebellen" "standrechtlich" zum Tode zu verurteilen.)
Es gibt in der Tat unzählige antijudaistische (gegen die jüdische Religion gerichtete) Stellen in der christlichen Bibel. Und es besteht auch gar kein Zweifel daran, dass der "christliche Antisemitismus" bis heute aus dem "neuen Testament" schöpft. Wenn Goldhagen aber die christliche Bibel als solche für eine antisemitische Schrift hält, die im Interesse des gedeihlichen Miteinanders zwischen Juden und Christen umgeschrieben werden sollte, dann interpretiert er diese Textsammlung meines Erachtens in ahistorischer Weise.

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