Samstag, 22. Juli 2006

Pragmatische Fundsache

Wie es so geht, ich suchte mittels Google nach etwas ganz Anderem und stolperte über das hier:Selected Works of William James.
James, der sich auch als Psychologe einen Namen machte, gilt als Begründer des (amerikanischen) Pragmatismus, einer von mir geschätzten philosophischen Richtung. William James schätze ich auch deshalb, weil er Nietzsches Misstrauen gegen den Monotheismus und die Metaphysik (genauer: die Metaphysik des Absoluten) teilte, nicht aber Nietzsches Misstrauen gegenüber der Demokratie. (Es gibt auch einen deutschen Pragmatismus, der sich eng an Kant anlehnt, und z. B. von F. A. Lange und Hans Vahinger vertreten wurde, aber im Gegensatz zur amerikanischen Richtung wenig gesellschaftliche Resonanz fand.)
Ganz pragmatisch setzte ich einen Bookmark auf diese Website, denn bisher kannte ich James' Philosophie vor allem aus der Sekundärliteratur und aus Auszügen.

Besonders interessant finde ich übrigens dieses Kapitel aus Pragmatism: A New Name for Some Old Ways of Thinking: Lecture 8: Pragmatism and Religion.
Und da wir schon mal dabei sind - Texte von James' gibt es auch an anderer Stelle, z. B. bei Authorama und z. B. das: The Varieties of Religious Experience II.
Oder beim Project Gutenberg, z. B. A Pluralisic Universe.

Tacheles

Henryk M. Broder gab der "Tacheles" ein (trotz einiger schmerzhafter broderscher Pauschalisierungen) sehr lesenswertes Interview über historischen Masochismus, arabische Logik und die "Entarisierung" Europas. Es ist auch auf Hagalil online: "Europa wird anders werden".

Was die Einschätzung des Geschichtsmasochismus angeht, stimme ich Broder völlig zu (das ist in letzter Zeit nicht immer der Fall) :
Es ist nichts wie 1933, und ich finde es vollkommen albern, wenn die Leute auf die Strasse gehen und sagen: Nie wieder 1933. Das sind Leute, die für mich eine fatale Fixierung, eine Zwangsfixierung auf die Vergangenheit zu Tage legen. Da gibt es zurzeit in der Bundesrepublik Aufregung über die Weigerung der Bundesbahn, auf den Bahnhöfen eine Ausstellung über die Deportationen jüdischer Kinder in die KZs zu zeigen. Ich bin hier voll auf der Seite der Bundesbahn – Bahnhöfe sind keine historischen Gedenkstätten. Ich finde, dass es ein paar holocaust- und völkermordfreie Zonen geben sollte, unter anderem die Nahverkehrsmittel. Ich möchte auf einem Bahnhof keine Ausstellungen über die Massaker an den Kurden, Armeniern oder Juden sehen. Das ist wirklich eine Form von historischem Masochismus, den ich nicht teilen kann.

Woher kommt so was?

Dieser Geschichtsmasochismus wird von Leuten betrieben, die keine Verbindung zur Gegenwart herstellen. Diese Leute halten Darfur wahrscheinlich für eine Kaffeesorte. Sie regen sich wahrscheinlich nicht darüber auf, dass im Kongo inzwischen vier Millionen Menschen niedergemacht wurden und der iranische Staatspräsident Israel mit Vernichtung droht. Sie fixieren sich auf die Geschichte, weil sie sich damit selbst einen Bonus geben.
Ich ergänze: sie fixieren sich auch deshalb auf vergangenes Unrecht, weil es bequemer ist, als neues Unrecht zu bekämpfen oder auch nur öffentlich beim Namen zu nennen.

Eine brodersche Pauschalisierung, die mich wirklich ärgert, ist diese:
In der arabischen Welt ist schon der Kompromiss ein Gesichtsverlust.
Das gilt für eine bestimmte Sorte Araber im politischen Kontext. Wäre ein Kompromiss immer ein Gesichtsverlust, müßte z. B. (sorry für das Klischee) ein Basarhändler, ja überhaupt jeder Kaufmann in der arabischen Kultur ein wenig geachteter Mensch sein - Verkaufsverhandlungen, besonders in der Form des Feilschen, sind das Musterbeispiel einer Kompromissfindung. (Es sei denn, der Händler zieht seinen Kunden völlig über den Tisch. Dürfte auf einem orientalischen Basar sehr selten vorkommen, unerfahrene Touristen als "Opfer" mal ausgenommen.) Tatsächlich genießen Kaufleute in der traditionellen arabischen Kultur ein hohes Ansehen, was auch mit dem "Zivilberuf" Mohammeds zusammenhängen dürfte. Das Problem liegt m. E. darin, dass die "modernen" Islamisten eine totalitäre "faschistische" "Alles oder nichts"-Ideologie vertreten - und nicht, wie oft fälschlich angenommen wird, ultra-konservative islamische Traditionalisten sind. Mit Traditionalisten kann man wenigstens verhandeln, auch Broder räumt ein, dass es einen "arabischen Pragmatismus" gibt. Mit Islamofaschisten wie der Hamas sind Verhandlungen zwecks Bildung eines politischen Kompromisses meines Erachtens sinnlos. (Schließt Verhandlungen auf Alltagsniveau nicht aus, sehr wohl aber die Beteiligung an einer Friedenskonferenz, die diesen Namen verdient.) Und mit Terroristen verhandelt man gründsätzlich nicht.

Jerusalem - "Wiege der drei monotheistischen Religionen"?

Der Anlaß für diesen Beitrag ist aber diese Passage aus Broders Interview mit "Tacheles" "Europa wird anders werden".:
Und eine zweite wäre vielleicht, dass Tschetschenien nicht die Heimat der drei Weltreligionen ist?

Ja, das stimmt sicher auch. Leibowitz wurde einmal darauf angesprochen, dass Israel die Wiege der drei monotheistischen Weltreligionen sei. Seine wunderbare Antwort war, dass es nicht die Wiege von Judentum und Islam sei, die seien woanders entstanden, sondern die Wiege des Christentums, und dieses sei keine monotheistische Religion. Das hat eine Symbolik. (...)
Leibowitz hat Recht - auch wenn diese Antwort ein Stich ins Herz vieler Christen ist. (In geringerem Ausmaß auch auch mancher Juden und Moslems, insofern sie den Mythos Jerusalems als "ihrer" heiliger Stadt hoch halten.) Wobei ich über Leibowitz hinnausgehe: auch das Christentum enstand nicht in Jerusalem. Dort entstand nur eine kleine jüdische Sekte, die in Jesus den Messias sahen, ansonsten aber dem Judentum in jeder Hinsicht treu blieben. (Diese "Judenchristen" waren die Vorgänger der Ebioniten und Nazoräer, die von der späteren christlichen Kirchen ausdrücklich nicht als "echte" Christen anerkannt wurden.) Der eigentliche "Religionstifter" des nichtjüdischen (und zu guten Teilen antijüdischen) Christentums ist Paulus, und der lebte und wirkte bekanntlich nicht in Jerusalem.
Zuzustimmen ist Leibowitz darin, dass das Christentum keine monotheistische Religion ist. Evident wird das im Vergleich zu den zentralen Aussagen des Islams und des Judentums. Im Islam ist das ganz einfach: "Es gibt keinen Gott außer Gott". Bei den frühen Juden ist das nicht ganz so klar, denn es heißt im 2. Buch Mose: "Ich bin der Herr, dein Gott! Ich habe dich aus Ägypten herausgeführt, ich habe dich aus der Knechtschaft befreit. Du sollst keine anderen Götter außer mir haben. (...) Wirf dich nicht vor fremden Götter nieder und diene ihnen nicht. Denn ich, dein Herr, bin ein eifersüchtiger Gott.(...)"
Daraus ergibt sich, das es für die alten Israeliten sehr wohl andere Götter gab. Das folgt auch aus einer Episode im Buch der Könige, in dem der Prophet Elijah ausgesandt wird, um Juden zu warnen, die "zsätzlich" dem alten semitischen Gott Baal dienen. In 1. Könige 18:21 sagt Elijah zu ihnen: „Wie lange wollt ihr auf zwei Ästen sitzen? Wenn der Her der Gott ist, so folget ihm; wenn aber Baal, so folget ihm.“ Man ist also entweder ein Jude oder ein Verehrer Baals, beides geht nicht. Aber nirgendwo ist zu lesen, dass Baal, Aschera, El und andere Götter nicht existieren würden oder keine Macht hätten. Damit war das frühe Judentum streng genommen kein Monotheismus, sondern eine Monolatrie. Vermutlich in der Zeit des babylonischen Exils entwickelte er sich zu einem echten Monotheismus weiter. Im Zentrum des Judentums steht ein unnennbarer, körperloser und völlig abstrakter Gott, der sich in Gesetzen offenbart.
Ganz anders im Christentum. Man kann endlos darüber debattieren, ob die Trinität (Vater, Sohn, Heiliger Geist) der Glaube an drei Gottheiten ist oder nicht. Die Tendenz, sich Gott konkret vorzustellen und in verschiedene Aspekte zu unterteilen, unterscheidet das Christentum deutlich vom Gotteskonzept sowohl der Juden wie der Moslems. In der christlichen Praxis weichte sich der Monotheismus der "Urchristen" weiter auf - z. B. wandelte sich die Vorstellung des Teufels als Beauftragtem und Untergebenen Gottes ("Satan" heißt "Ankläger", im Sinne des Anklagevertreters vor Gericht) zu einem dualistisch gesehenen "Widersacher" (Antigott). (Entsprechende Tendenzen gibt es auch im Islam, besonders populär sind sie bei politischen Islamisten.) Im Katholizismus und im orthodoxen Christentum (und sogar in manchen Richtungen des Protestantismus) übernehmen zahlreiche Heiligen, Engel und Dämonen die Funktion von rangniederen Gottheiten. Nimmt man noch die katholische Marienverehrung hinzu, die auffällig und bis ins Detail hinnein der antiken Isisverehrung entspricht, dann ist die größte Konfession des Christemtum kein Monotheismus sondern allenfalls Henotheismus. Und selbst die streng protestantischen Richtungen, die ohne Heilige und "personal" gedachten Teufel auskommen, sind allerhöchstens inkonsequent monotheistisch, gemessen an den jüdischen und islamischen Standards sogar nur pseudo-monotheistisch.

Jerusalem ist also keineswegs "die" heilige Stadt, so wie Israel keineswegs das "heilige Land" ist.

Im Namen der Mutter, der Tochter und der heiligen Extase!

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