Freitag, 7. Juli 2006

Bittere Wahrheit

Vorgestern las ich im übrigens hervorragenden Artikel der FR-online über die skandalöse Bücherverbrennung in Pretzien etwas, auf das ich zugleich mit Beifall und Empörung reagierte: Blauäugiger Umgang mit Braunen.
Hier die bewußte Passage:
Bürgermeister Harwig habe versucht, die jungen Männer in die Vereinslandschaft zu integrieren. So kam es zum "Heimat Bund Ostelbien", der sich angeblich mit Dorfgeschichte befasste, eine Chronik und Informationen für Touristen schrieb und auch mal den Sportplatz säuberte. "Der Bürgermeister hat, wenn auch guten Glaubens, mit denen konspiriert", sagt Begrich. Nie sei öffentlich darüber gesprochen worden. Natürlich hätten die Rechtsextremisten die Situation genutzt, um ihr Gedankengut zu verbreiten. "Das ist doch deren Strategie", sagt Begrich. "Wenn Jugendliche anfangen, über germanische Mythologie zu reden, muss doch die Alarmglocke klingeln." Der Bürgermeister lud für Mittwochabend zu einer Ortsversammlung ein, bei der sich die jungen Männer entschuldigen sollten.
(Hervorhebung von mir, MM)

Beifall dafür, dass endlich mal beschrieben wurde, wie knallharte Neonazis, die sogar im Verfassungsschutzbericht auftauchen, "dank" naiver pädogogischer Konzepte und offensichtlich auf kommunaler Ebene wenig ausgepägtem demokratischen Bewußtsein, mühelos in die "Mitte der Gesellschaft" eindringen.
Empörung, weil ich ein sehr inniges und spirituelles Verhältnis zur "germanische Mythologie" und (unter anderem) "germanischen" Göttern habe. Wieder mal das alte Klischee: wenn es jemand "mit den alten Germanen hat" kann er doch nur ein Rechtsextremist sein - und, klar, wenn Jugendlilche auch nur von germanischer Mythologie reden, sind sie bestimmt Nazi-Propanda aufgessen!

Nach einer Weile legte sich die Empörung. David Begrich vom Verein "Miteinander", von dem die Ausage stammt, ist anscheinend ein in der Materie erfahrener Praktiker. Der Verein "Miteinander" zeichnet sich außerdem dadurch aus, dass er sehr basisnah und opferorient arbeitet und verbeiteten Nazi-Klischees entgegentritt. "Antifa"-Mythen und Germanenhorden-Klischees sucht man auf der Website des Vereins vergeblich: miteinander-ev.de)

Es spricht also sehr viel dafür, dass Begrich aus Erfahrung und nicht aus Vorurteil spricht, wenn er meint, dass, wenn Jugendliche anfingen, über germanische Mythologie zu reden, die Alarmglocken läuten müßten. Im Gegenteil: Damit hat er leider recht.

Im Gegensatz z. B. zu Island oder, bis zu einem gewissen Grade auch den skandinavischen Ländern, ist "alte Mythologie" nicht gerade in der deutschen Alltagskultur präsent. Von daher ist es schon etwas Besonderes, wenn sich Jugendliche für dergleichen interessieren.
Sicher, Fantasy-Filme, -Romane, -Computerspiele, und -Comics, die sich mehr oder weniger eng an Vorbilder aus der germanischen bzw. nordischen Mythologie anlehnen, ziehen bestimmt oft auch Interesse am "Original" nach sich. Aber in solchen Fällen ist der Bezug meistens klar: gerade junge Tolkien-Enthusiasten oder Wikinger-Fans geben sich in aller Regel nur zu bereitwillig als solche zu erkennen - oft intensiver, als es ihren Gesprächspartnern lieb ist.
Auch "ernstgemeintes" historisches oder archäologisches Interesse ist in aller Regel mühelos erkennbar. Vor allem für Lehrer und Eltern.
Fängt also ein junger Mensch an, bei politischen und gesellschaftlichen Themen, aber eigentlich bei allen Themen außerhalb des Kontextes "Fantasy und Abenteuer" oder "alte Geschichte" - von Germanen, germanischen Göttern und Helden, germanischem Brauchtum, germanischer Sitte zu erzählen, dann spricht durchaus einiges dafür, dass er mit "völkischen" oder gar neo-nazistischen Germanenschwärmern in Kontakt gekommen ist. Schon die reine statistische Wahrscheinlichkeit spricht leider dafür (Mehr zum Problem "Rechte Germanenschwärmer und rechte Heiden" in "Odins Auge". )

Eine bittere Wahrheit. Den Nornen sei dank aber eine, an der sich etwas ändern läßt ...

Vor genau einen Jahr ....

Yoda
(Dieses Bild stammt aus dem Weblog Were are not afraid, das nach den Bombenanschlägen auf die Londoner U-Bahn vom 7. Juli 2005 gegründet wurde.)

Das Ziel des Terrors ist nicht das Opfer sondern Angst bei denen, die Zeuge wurden.
Auch Terroristen können dialektisch denken. Wer aus Angst vor dem Terror die offene Gesellschaft, die Bürger- und Menschenrechte mit immer neuen, immer härteren Gesetzen "zu Tode schützt", handelt in ihrem Sinne. Genau so, wie jeder, der sich bemüßigt fühlt, islamophob zu sein (und darauf noch stolz ist) genau das ist, was die Islamafaschisten wollen: ein "Feind", der erkennbar den von ihnen gemalten Feindbildern entspricht.

Erschütternder Bericht aus der Perspektive der überlebenden Opfer:
"Tagesspiegel": Kein Licht am Ende des Tunnels

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