Der Piratenjäger, der Astronom und die nationale Identität
Dieser vielkommentierte Thread beim Don: Deutsch als Deppenbegriff, in dem der Don übrigens sehr anschaulich den Nationalitätsbegriffs als Konstrukt entlarvt, regt mich an, ein wenig über den Begriff "Ausländer" und den verbreiteten Hang, heutige Sichtweisen in frühere Epochen zu projezieren.
In Hamburg gibt es eine Simon-von-Utrecht-Straße, die in etwa parallel zur einer erheblich bekannteren Straße, der Reeperbahn, verläuft. Der Name Simon von Utrechts ist mit der eines erheblich bekannteren Mannes verknüpft, nämlich mit dem Klaus Störtebekers. Wobei van Utrecht, im Gegensatz zu seinem gleichnamigen Sohn, dem Schiffshauptmann und nachmaligen Bürgermeister Simon van Utrecht, keinesweg selbst Flotten gegen Piraten führte. Der wohlhabende niederländische Tuchhändler Simon van Utrecht hatte um 1400 das Hamburger Bürgerrecht erhalten und sozusagen als "Einstand" zwei Kriegsschiffe zur Bekämpfung der in der Nordsee den hansischen Handel störenden "Vitalienbrüder" finanziert. Diese Schiffe gehörten zu jener Flotte, die 1401 den legendären Seeräuber Klaus Störtebeker, gefangennahm. Wohl in Verwechslung mit van Utrecht jr. galt er in der Legende als "Piratenjäger" und "Bezwinger Störtebekers".
Nun gibt es Menschen, die der "Ausländerfeindlichkeit" entgegen treten wollen und deshalb betonen, der "berühmte Hamburger Seeheld" van Utrecht (schließt wohl beide Simons ein) wäre ein Ausländer bzw. ein Einwanderer gewesen.
Welch ein Anachronismus! Und das nicht nur, weil der "moderne" Nationalitätsbegriff sich erst um 1800 herausbildete.
1401 gab es ein Gebilde irgendwo zwischen Staatenbund und Bundesstaat namens "Heiliges Römisches Reich", später auch "Heiliges Römisches Reich deutscher Nation" genannt, wobei "Nation" nicht ganz dem entspricht, was wir seit dem 19. Jahrhundert darunter zu verstehen pflegen. Aber lassen wir das. Enstscheidend ist, dass die Städte Hamburg und Utrecht, mutmaßlicher Heimatstadt des Simon, beide zum diesem "Heilige Römischen Reich" gehörten. Außerdem gehörte beide Städte zu einem wirtschaftlich und politisch bedeutsamen Städtebund, der Hanse. Politisch gesehen kam der Tuchhändler Simon also aus einer befreundeten Stadt des selben lockeren "Reiches", zum dem auch Hamburg gehörte.
Aber gehörte nicht trotzdem einem anderen "Volk" an, als die deutschen Hamburger? Ein Hamburger um 1400 wird darüber nur den Kopf geschüttelt haben. Ob jemand Landsmann war, entschied sich damals erst einmal danach, wessen Untertan er war. Das hieß im Falle Hamburgs: in dem Moment, in dem jemand Bürger war, war er auch Landsmann. Ob er zum selben "Volk" gehörte, entschied sich daran, welche Sprache er sprach und welchen Sitten er im Alltag folgte. Nun sprach man in Hamburg damals Niedersächsisch und in Utrecht Niederfränkisch. Nach heutigen Begriffen ist beides "Plattdeutsch" - noch heute kann jemand, der modernes Niederländisch spricht, modernes Plattdeutsch verstehen, obwohl sich beide Sprachen auseinanderentwickelt haben. Damals sprach ein Utrechter für einen Hamburger nur eine andere Mundart der eigenen Muttersprache. Anderseits: wenn ein Hamburger Kaufmann seinem Geschäftsfreund in Augsburg schreiben wollte, dann schrieb er nicht selten auf Latein (oder ab Mitte das 15. Jahrhunderts Italienisch - deshalb die vielen italienischen Lehnwörter im Handelsdeutsch, von Filiale über Netto und Konto bis Bankrott).
Ein Plattdeutsch sprechender Hamburger konnte sich, ohne die Fremdsprache "bayrisches Hochdeutsch" gelernt zu haben, nicht mit einem Augsburger unterhalten! Tatsächlich galten die Augsburger Fugger den hansischen Kaufleuten in Lübeck, Hamburg, Danzig usw. im 16. Jahrhundert als lästige ausländische Konkurrenz. Der Hansekaufmann aus Stockholm, Riga oder Utrecht war dagegen "einer von uns".
Noch ein Fallbeispiel, und zwar eines, über das sich Polen und Deutsche noch heute in die Haare geraten können: Die Nationalität des berühmstesten aller Astronomen, Nicolaus Copernicus. War er Pole oder Deutscher?
Seine Heimatstadt Thorn war einerseits Hansestadt, andererseit hatte sie sich kurz vor seiner Geburt unter die Herrschaft des polnischen Königs begeben - Kopernikus (so die deutsche Schreibweise) war also polnischer Untertan. Im Polnischen wird er Mikołaj Kopernik genannt. Anderseits ist die verbeiteteste nicht lateinisierte Form des Namen Copernicus Koppernigk - schon wegen der in slawischen Sprachen nicht vorkommenden Konsonantenverdopplung ein "deutscher" Name. Kopernikus schrieb fast ausschließlich lateinisch, es existieren aber auch einige Briefe in deutscher Sprache, aber keine in Polnisch. Auf der anderen Seite handelte Kopernikus sein Leben lang wie ein polnischer Kirchenmann. Er verhandelte für den König von Polen mit dem Hochmeister der Deutschritterordens und war bereit, die Burg von Allenstein gegen die Deutschritter zu verteidigen. Andererseits verkehrte er hauptsächlich mit deutschen Gelehrten.
In "modernen" Begriffen war Kopernikus vermutlich ein Pole deutscher Muttersprache, der möglicherweise nicht einmal polnisch sprach. Was in den Begriffen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts ein Unding war, zumindest bei einem "Mann von Stande". Der Nationalitätsstreit beruht darauf, dass ein Begriff von Nationalität in das 16. Jahrhundert zurückprojeziert wurde, in dem er noch gar nicht existierte.
Hätte man Kopernikus selber nach seinem Heimatland gefragt, hätte er wahrscheinlich "ich bin Ermländer" geantwortet. Denn das Fürstbistum Ermland war seine Heimat - und das Land seines unmittelbaren Landesherren. "Polen" war der Herrschaftsbereich des polnischen Königs und "Deutsch" eine Sprache.
In Hamburg gibt es eine Simon-von-Utrecht-Straße, die in etwa parallel zur einer erheblich bekannteren Straße, der Reeperbahn, verläuft. Der Name Simon von Utrechts ist mit der eines erheblich bekannteren Mannes verknüpft, nämlich mit dem Klaus Störtebekers. Wobei van Utrecht, im Gegensatz zu seinem gleichnamigen Sohn, dem Schiffshauptmann und nachmaligen Bürgermeister Simon van Utrecht, keinesweg selbst Flotten gegen Piraten führte. Der wohlhabende niederländische Tuchhändler Simon van Utrecht hatte um 1400 das Hamburger Bürgerrecht erhalten und sozusagen als "Einstand" zwei Kriegsschiffe zur Bekämpfung der in der Nordsee den hansischen Handel störenden "Vitalienbrüder" finanziert. Diese Schiffe gehörten zu jener Flotte, die 1401 den legendären Seeräuber Klaus Störtebeker, gefangennahm. Wohl in Verwechslung mit van Utrecht jr. galt er in der Legende als "Piratenjäger" und "Bezwinger Störtebekers".
Nun gibt es Menschen, die der "Ausländerfeindlichkeit" entgegen treten wollen und deshalb betonen, der "berühmte Hamburger Seeheld" van Utrecht (schließt wohl beide Simons ein) wäre ein Ausländer bzw. ein Einwanderer gewesen.
Welch ein Anachronismus! Und das nicht nur, weil der "moderne" Nationalitätsbegriff sich erst um 1800 herausbildete.
1401 gab es ein Gebilde irgendwo zwischen Staatenbund und Bundesstaat namens "Heiliges Römisches Reich", später auch "Heiliges Römisches Reich deutscher Nation" genannt, wobei "Nation" nicht ganz dem entspricht, was wir seit dem 19. Jahrhundert darunter zu verstehen pflegen. Aber lassen wir das. Enstscheidend ist, dass die Städte Hamburg und Utrecht, mutmaßlicher Heimatstadt des Simon, beide zum diesem "Heilige Römischen Reich" gehörten. Außerdem gehörte beide Städte zu einem wirtschaftlich und politisch bedeutsamen Städtebund, der Hanse. Politisch gesehen kam der Tuchhändler Simon also aus einer befreundeten Stadt des selben lockeren "Reiches", zum dem auch Hamburg gehörte.
Aber gehörte nicht trotzdem einem anderen "Volk" an, als die deutschen Hamburger? Ein Hamburger um 1400 wird darüber nur den Kopf geschüttelt haben. Ob jemand Landsmann war, entschied sich damals erst einmal danach, wessen Untertan er war. Das hieß im Falle Hamburgs: in dem Moment, in dem jemand Bürger war, war er auch Landsmann. Ob er zum selben "Volk" gehörte, entschied sich daran, welche Sprache er sprach und welchen Sitten er im Alltag folgte. Nun sprach man in Hamburg damals Niedersächsisch und in Utrecht Niederfränkisch. Nach heutigen Begriffen ist beides "Plattdeutsch" - noch heute kann jemand, der modernes Niederländisch spricht, modernes Plattdeutsch verstehen, obwohl sich beide Sprachen auseinanderentwickelt haben. Damals sprach ein Utrechter für einen Hamburger nur eine andere Mundart der eigenen Muttersprache. Anderseits: wenn ein Hamburger Kaufmann seinem Geschäftsfreund in Augsburg schreiben wollte, dann schrieb er nicht selten auf Latein (oder ab Mitte das 15. Jahrhunderts Italienisch - deshalb die vielen italienischen Lehnwörter im Handelsdeutsch, von Filiale über Netto und Konto bis Bankrott).
Ein Plattdeutsch sprechender Hamburger konnte sich, ohne die Fremdsprache "bayrisches Hochdeutsch" gelernt zu haben, nicht mit einem Augsburger unterhalten! Tatsächlich galten die Augsburger Fugger den hansischen Kaufleuten in Lübeck, Hamburg, Danzig usw. im 16. Jahrhundert als lästige ausländische Konkurrenz. Der Hansekaufmann aus Stockholm, Riga oder Utrecht war dagegen "einer von uns".
Noch ein Fallbeispiel, und zwar eines, über das sich Polen und Deutsche noch heute in die Haare geraten können: Die Nationalität des berühmstesten aller Astronomen, Nicolaus Copernicus. War er Pole oder Deutscher?
Seine Heimatstadt Thorn war einerseits Hansestadt, andererseit hatte sie sich kurz vor seiner Geburt unter die Herrschaft des polnischen Königs begeben - Kopernikus (so die deutsche Schreibweise) war also polnischer Untertan. Im Polnischen wird er Mikołaj Kopernik genannt. Anderseits ist die verbeiteteste nicht lateinisierte Form des Namen Copernicus Koppernigk - schon wegen der in slawischen Sprachen nicht vorkommenden Konsonantenverdopplung ein "deutscher" Name. Kopernikus schrieb fast ausschließlich lateinisch, es existieren aber auch einige Briefe in deutscher Sprache, aber keine in Polnisch. Auf der anderen Seite handelte Kopernikus sein Leben lang wie ein polnischer Kirchenmann. Er verhandelte für den König von Polen mit dem Hochmeister der Deutschritterordens und war bereit, die Burg von Allenstein gegen die Deutschritter zu verteidigen. Andererseits verkehrte er hauptsächlich mit deutschen Gelehrten.
In "modernen" Begriffen war Kopernikus vermutlich ein Pole deutscher Muttersprache, der möglicherweise nicht einmal polnisch sprach. Was in den Begriffen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts ein Unding war, zumindest bei einem "Mann von Stande". Der Nationalitätsstreit beruht darauf, dass ein Begriff von Nationalität in das 16. Jahrhundert zurückprojeziert wurde, in dem er noch gar nicht existierte.
Hätte man Kopernikus selber nach seinem Heimatland gefragt, hätte er wahrscheinlich "ich bin Ermländer" geantwortet. Denn das Fürstbistum Ermland war seine Heimat - und das Land seines unmittelbaren Landesherren. "Polen" war der Herrschaftsbereich des polnischen Königs und "Deutsch" eine Sprache.
MMarheinecke - Dienstag, 27. Juni 2006