Dienstag, 27. Juni 2006

Der Piratenjäger, der Astronom und die nationale Identität

Dieser vielkommentierte Thread beim Don: Deutsch als Deppenbegriff, in dem der Don übrigens sehr anschaulich den Nationalitätsbegriffs als Konstrukt entlarvt, regt mich an, ein wenig über den Begriff "Ausländer" und den verbreiteten Hang, heutige Sichtweisen in frühere Epochen zu projezieren.

In Hamburg gibt es eine Simon-von-Utrecht-Straße, die in etwa parallel zur einer erheblich bekannteren Straße, der Reeperbahn, verläuft. Der Name Simon von Utrechts ist mit der eines erheblich bekannteren Mannes verknüpft, nämlich mit dem Klaus Störtebekers. Wobei van Utrecht, im Gegensatz zu seinem gleichnamigen Sohn, dem Schiffshauptmann und nachmaligen Bürgermeister Simon van Utrecht, keinesweg selbst Flotten gegen Piraten führte. Der wohlhabende niederländische Tuchhändler Simon van Utrecht hatte um 1400 das Hamburger Bürgerrecht erhalten und sozusagen als "Einstand" zwei Kriegsschiffe zur Bekämpfung der in der Nordsee den hansischen Handel störenden "Vitalienbrüder" finanziert. Diese Schiffe gehörten zu jener Flotte, die 1401 den legendären Seeräuber Klaus Störtebeker, gefangennahm. Wohl in Verwechslung mit van Utrecht jr. galt er in der Legende als "Piratenjäger" und "Bezwinger Störtebekers".
Nun gibt es Menschen, die der "Ausländerfeindlichkeit" entgegen treten wollen und deshalb betonen, der "berühmte Hamburger Seeheld" van Utrecht (schließt wohl beide Simons ein) wäre ein Ausländer bzw. ein Einwanderer gewesen.

Welch ein Anachronismus! Und das nicht nur, weil der "moderne" Nationalitätsbegriff sich erst um 1800 herausbildete.

1401 gab es ein Gebilde irgendwo zwischen Staatenbund und Bundesstaat namens "Heiliges Römisches Reich", später auch "Heiliges Römisches Reich deutscher Nation" genannt, wobei "Nation" nicht ganz dem entspricht, was wir seit dem 19. Jahrhundert darunter zu verstehen pflegen. Aber lassen wir das. Enstscheidend ist, dass die Städte Hamburg und Utrecht, mutmaßlicher Heimatstadt des Simon, beide zum diesem "Heilige Römischen Reich" gehörten. Außerdem gehörte beide Städte zu einem wirtschaftlich und politisch bedeutsamen Städtebund, der Hanse. Politisch gesehen kam der Tuchhändler Simon also aus einer befreundeten Stadt des selben lockeren "Reiches", zum dem auch Hamburg gehörte.
Aber gehörte nicht trotzdem einem anderen "Volk" an, als die deutschen Hamburger? Ein Hamburger um 1400 wird darüber nur den Kopf geschüttelt haben. Ob jemand Landsmann war, entschied sich damals erst einmal danach, wessen Untertan er war. Das hieß im Falle Hamburgs: in dem Moment, in dem jemand Bürger war, war er auch Landsmann. Ob er zum selben "Volk" gehörte, entschied sich daran, welche Sprache er sprach und welchen Sitten er im Alltag folgte. Nun sprach man in Hamburg damals Niedersächsisch und in Utrecht Niederfränkisch. Nach heutigen Begriffen ist beides "Plattdeutsch" - noch heute kann jemand, der modernes Niederländisch spricht, modernes Plattdeutsch verstehen, obwohl sich beide Sprachen auseinanderentwickelt haben. Damals sprach ein Utrechter für einen Hamburger nur eine andere Mundart der eigenen Muttersprache. Anderseits: wenn ein Hamburger Kaufmann seinem Geschäftsfreund in Augsburg schreiben wollte, dann schrieb er nicht selten auf Latein (oder ab Mitte das 15. Jahrhunderts Italienisch - deshalb die vielen italienischen Lehnwörter im Handelsdeutsch, von Filiale über Netto und Konto bis Bankrott).
Ein Plattdeutsch sprechender Hamburger konnte sich, ohne die Fremdsprache "bayrisches Hochdeutsch" gelernt zu haben, nicht mit einem Augsburger unterhalten! Tatsächlich galten die Augsburger Fugger den hansischen Kaufleuten in Lübeck, Hamburg, Danzig usw. im 16. Jahrhundert als lästige ausländische Konkurrenz. Der Hansekaufmann aus Stockholm, Riga oder Utrecht war dagegen "einer von uns".

Noch ein Fallbeispiel, und zwar eines, über das sich Polen und Deutsche noch heute in die Haare geraten können: Die Nationalität des berühmstesten aller Astronomen, Nicolaus Copernicus. War er Pole oder Deutscher?
Seine Heimatstadt Thorn war einerseits Hansestadt, andererseit hatte sie sich kurz vor seiner Geburt unter die Herrschaft des polnischen Königs begeben - Kopernikus (so die deutsche Schreibweise) war also polnischer Untertan. Im Polnischen wird er Mikołaj Kopernik genannt. Anderseits ist die verbeiteteste nicht lateinisierte Form des Namen Copernicus Koppernigk - schon wegen der in slawischen Sprachen nicht vorkommenden Konsonantenverdopplung ein "deutscher" Name. Kopernikus schrieb fast ausschließlich lateinisch, es existieren aber auch einige Briefe in deutscher Sprache, aber keine in Polnisch. Auf der anderen Seite handelte Kopernikus sein Leben lang wie ein polnischer Kirchenmann. Er verhandelte für den König von Polen mit dem Hochmeister der Deutschritterordens und war bereit, die Burg von Allenstein gegen die Deutschritter zu verteidigen. Andererseits verkehrte er hauptsächlich mit deutschen Gelehrten.

In "modernen" Begriffen war Kopernikus vermutlich ein Pole deutscher Muttersprache, der möglicherweise nicht einmal polnisch sprach. Was in den Begriffen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts ein Unding war, zumindest bei einem "Mann von Stande". Der Nationalitätsstreit beruht darauf, dass ein Begriff von Nationalität in das 16. Jahrhundert zurückprojeziert wurde, in dem er noch gar nicht existierte.
Hätte man Kopernikus selber nach seinem Heimatland gefragt, hätte er wahrscheinlich "ich bin Ermländer" geantwortet. Denn das Fürstbistum Ermland war seine Heimat - und das Land seines unmittelbaren Landesherren. "Polen" war der Herrschaftsbereich des polnischen Königs und "Deutsch" eine Sprache.

Gedanken anläßlich eines erlegten Bären

Braunbär
Symbolfoto ©Pixelquelle.de

Nun ist er tot: Man kann es politisch sehen, wie Marian Wirth: Mein Freund, der Problembär
Es geht hier nicht um den Umgang mit Bären, wie Herr Lapide bei S&W meint, sondern um den Bär als Symbol für die Schwierigkeiten der Politik, Probleme anders als maximalinvasiv zu lösen.

Nun ist er also in den Ewigen Jagdgründen, der Problembär Bruno. Und wir sind wieder mit unseren Problempolitikern allein.
Man kann es unter Artenschutzgesichtspunkten sehen "Problembär" Bruno ist tot . Oder über die Boulevardisierung der Medien räsonieren, denn eigentlich ist die Jagd auf "Bruno" ein "klassisches Sommerlochthema" - wir haben zwar Sommer, aber beleibe keine nachrichtenarme Zeit.

Wenn ich daran denke, wie gelassen man in Skandinavien (und vermutlich auch in Norditalien, wo Bruno herkam) mit Bären - einschließlich Schafe reißenden “Problembären” umgeht, dann wirkt die deutsche Reaktion hysterisch. Was bestimmt nicht allein daran liegt, dass es bei uns normalerweise keine Braunbären mehr gibt.
Ich weiß noch genau, wie mir zumute war, als in einem mittelschwedischen Wald Beeren (die mit "ee") sammelte und plötzlich frische Bärenspuren (mit "ä") entdeckte. Verdammt große Tatzen! Aber nach dem ersten Schrecken war mir klar, dass das Tier mehr Angst vor mir hatte, als ich vor dem Bären. Von da an war teilte ich die Gelassenheit der Einheimische in Bezug auf "wilde Tiere". Bären haben Angst vor Menschen. Selbst "Bruno", der ja angeblich "die Scheu vor den Menschen verloren hatte":
Gegenteilig äußerte sich der Wirt des 1700 Meter hoch gelegenen Rotwandhauses, wo der Bär am Sonntagabend gegen 20.30 Uhr wenige Meter an der Hütte vorbei marschiert war. Die Gäste hätten gerade beim Abendessen gesessen, sagte Hüttenwirt Peter Weihrer der dpa. "Ich habe die Leute beruhigt und gebeten, nicht aus dem Haus zu gehen." Schließlich sei er selbst vor die Türe gegangen und habe den Bären angeschrien, der daraufhin geflüchtet sei. "Er hat vor uns Angst gehabt."
Die Ausnahme sind Bärenmütter, die aus gutem Grund wirklich agressiv sind: Bärige Taktik der Bärenmütter.
Vor Wildschweinen habe ich mehr Respekt. Das bisher einzige Mal, dass ich wirklich Angst vor wildlebenden Tieren hatte, war, als zwei Bachen mit ihren Frischlingen vor mir einen Waldweg überquerten. Selbst ein einzelner Keiler kann, wenn er einen schlechten Tag hat, erhebliche "wirtschaftliche Schäden" anrichten. Wie ein Garten nach den "Besuch" einer Wildschweinrotte aussieht, konnte ich ganz bei mir in der Nähe bewundern: wie ein Schlachtfeld. Selbst den Geräteschuppen hatten die lieben Tierchen flachgelegt.
Trotzdem stellt sich kein, äh, Ministerpräsident vor die Presse und stammelt etwas von "Problemschweinen" ins Mikro.

Es war auch ein Wildschwein, dass mir das gestörte Verhältnis einiger meiner Mitmenschen zu Fragen wie "Wildtieren" und "Jagd" zeigte. Ein mir bekannter Revierförster erzählte mir davon. Er wurde von der Polizei zur Hilfe gerufen; ein angefahrener und verletzter Keiler "belagerte" regelrecht das Auto, dass ihn angefahren hatte, die Insassen konnte ihr Fahrzeug nicht verlassen. Der Förster fuhr zur Unfallstelle, sah, dass in dieser Situation nichts anderes half, nahm eine schwerkalibrige Büchse und erlegte den Keiler.
Zur seiner Verwunderung versuchte die Fahrerin des Autos ihn wegen "Tierquälerei" anzuzeigen. Da half auch kein Hinweis auf die Gefährlichkeit des verletzten und wütenden Tiers und darauf, dass der Schuß ihn nur von seinem Leiden erlöst hätte. Eine sentimentale "Tierliebe" hinderte die Frau, die Situation realistisch zu sehen.

Vielleicht war es vernünftig, als "letzte Möglichkeit" den Bären zu schießen. Auch der WWF akzeptierte diese Entscheidung.
Nicht vernünftig war die Selbstinszenierung einiger Problem-Politiker als unverzichtbare “Retter aus höchster Not”, die bei Lichte besehen gar nicht so groß war. Weil aber jede pragmatische und unaufwendige Lösung die die Illusion des “Notfalls” zerstören würde, muß mit a) maximalem Mitteleinsatz (finnische Bärenjäger) und b) mit maximaler Rücksichtlosigkeit (abschießen) gehandelt werden.
Und völlig durchgeknallt sind Morddrohungen gegen Jäger. Sie verraten ein extrem gestörtes Naturverständnis - und blanke Menschfeindlichkeit.

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